Читать книгу Schlaflied für einen Toten - Katarina Torso - Страница 12
Namen auf einer Liste, ohne Gesichter
Оглавление30. November 2007 – immer noch. Den Nachmittag über hatte Balder auf der Couch gelegen, in seinem karg eingerichteten Apartment, das ihm einen Platz bot, worauf er sitzen und denken konnte, und auf die Nacht gewartet und die Nachtgedanken. Und nun fröstelte ihn.
Während er seinen Blick, der Müdigkeit und Erschöpfung verriet, zur Matratze schweifen ließ, die auf dem Boden vor dem verschraubten Schrankbett lag, dessen beide Gasfedern unlängst den Geist aufgegeben hatten, überlegte er, ob er den Alten mit der für gesunde Menschen unbegreiflichen Reizbarkeit herausklingeln sollte, der eine Etage tiefer wohnte.
Sein Paroxetin ging zur Neige.
Bis der emeritierte Hirnchirurg sich endlich aus dem Bett gequält hätte – er pflegte Tranquilizer mit stark sedierender Wirkung einzunehmen, die Balder ihn anflehen würde, mit ihm zu teilen –, wäre eine geraume Weile vergangen. Und der tags mit Haldol, nachts mit Diazepam und anderen Präparaten ruhiggestellte Mann würde ihn anhören, seine Leidensgeschichte über sich ergehen lassen, ohne eine Miene zu verziehen, und Balder dann zu verstehen geben, dass das Gehirn, wie er beim Öffnen unzähliger Schädel erkannt habe, zwar entscheidend für das bewusste Empfinden von Schmerz sei, selbst aber keinerlei Schmerz empfände.
Mit dieser Szenerie im Kopf und dem Entschluss, sich am nächsten Tag, oder am übernächsten, an dessen Tablettenvorrat zu bedienen – zwei Schubladen voll mit Schachteln, Röhrchen, Plastikdosen und losen Blisterpackungen von Valium über Antidepressiva bis hin zu Anxiolytika – starrte er düster auf das Foto an der Wand. Der darauf Abgebildete warf lauthals lachend den Kopf in den Nacken.
Balder hätte dort bleiben sollen, wo er geboren wurde. Nicht gehen an diesen unseligen Ort, wie vielleicht an jeden anderen unseligen Ort, der ein solch grausames Schicksal für ihn bereithielt.
Während des Zweiten Weltkrieges war eine bei jedem »Vaterunser« sich bekreuzigende Katholikin mit ihren drei Kindern aus eben jener Stadt ins Eifelidyll geflüchtet, gelegen am Arsch der Welt. Tragischerweise hatte deren einziger Sohn, in der Schlussphase des Krieges, im eigenen Haus, gleich neben einer Sprudelquelle – »Heil Hitler« – beim Pflaumenessen eine Bombe auf den Kopf bekommen. So war sie – »Heil Hitler« – Haus und Sohn mit einem Schlag losgeworden.
Jahre nachdem alle Bomben gefallen waren, war ein groß gewachsener Mann, der ein zechender Klempner war und im Krieg drei andere erschossen hatte, schon viermal mit dem Inhalt seiner Hoden bis zum Uterus ihrer jüngsten Tochter vorgestoßen, die bei jedem päpstlichen »Urbi et Orbi« Kreuz schlagend vor dem Schwarz-Weiß-Fernseher kniete und nicht nur den apostolischen Segen empfing, sondern auch noch dem Rohrverleger vier Söhne gebar. Von diesen war Balder der letzte und ging als einziger zurück in jene Stadt, wo »et kütt wie et kütt« und »noch emmer joot jejange hätt«, nachdem er in seiner Kindheit und Jugend von den Pflaumen des Baumes genascht hatte, der den Trümmern des zerbombten Hauses auf so wundersame Weise entsprungen war. Da war die oben genannte Ahne, die man zuletzt nur noch um den Wohnblock spazieren getragen hatte – die Hauptstraße rauf, die Mühlenstraße runter – schon lange tot.
Und jetzt, da er für seine Wahlheimatstadt nichts weiter empfand als Hass, musste er im Hass bleiben, denn in diesem Hass war das Grab seines Sohnes, der mühelos all das darstellte und verkörperte, was Balder in seiner Jugend sein wollte.
Er, der als Kind mehr mit sich selbst geredet hatte als mit anderen, in der Landschaft, zu viel Landschaft, ging in der Nacht vom 30. November noch aus dem Haus, obwohl er wusste, dass er auch da draußen keinen Frieden finden würde. Nicht an dem Übergang über die Gleise, wo er lang und sprachlos stand, mit seinen dreiundfünfzig Jahren, und im Bewusstsein die Gewissheit trug, dass der Junge ihn von da oben wahrscheinlich sah, wie er ihn sah: als geisterhaften Schemen.
Wie in Trance folgte Balder der Schleifspur, die weit hinter dem Übergang im Blut endete, und scannte den Boden mit seinen Blicken. Lange hielten sich die Spuren massivster Verletzungen an den Basalten.
Unweit der Stelle, wo Elias zum Liegen kam, wo er aufgefunden wurde, krümmte Balder seinen Rücken nach etwas Hellem und entdeckte fünf abgebrochene Frontzähne im Schotterbett, verkeilt zwischen den Steinen, und etwas weiter einen halb verwesten Finger, abgerissen am Grundgelenk. Er klaubte ihn und die Zähne auf und küsste sie, als wären es Juwelen.
Drei faustgroße Basalte, woran Elias’ Blut haftete, und Haar, das blond war, und die anderen makabren Schätze nahm er mit sich und gab die fleischlosen Dinge in eine silberne Schale.
Angefleht hatte Balder die Leute von der Gerichtsmedizin, sie mögen ihm als Reliquie überlassen, als Andenken, was Elias am Leib getragen. Wie ein Dieb, ein Lumpenhund, hatte er sich aus der Abfalltonne fischen müssen, was für ihn übrigblieb. Denn die Nachlässe, die verstreut im Gleisbett lagen, waren der Mutter gegeben.
Zerfetzt, blutbefleckt, wie die Kleidung war – er hatte sie in einem Plastikbeutel aufbewahrt – breitete er sie auf dem Boden, in Nachahmung eines Schlafenden, neben seiner Matratze aus; die Trainingshose, den Kapuzenpulli, der beim Auslegen ein papiernes Geräusch machte. Gab zur Vervollkommnung die fünf aufgeklaubten Zähne hinzu und versuchte hernach, das zerknitterte Schriftstück, das durch zufällige Umstände mit der bedruckten Seite an dem baumwollenen Pullover haftete – am eingetrockneten Blut, das wie Klebstoff wirkte – möglichst unbeschadet abzulösen. Sank dann im Schein einer Kerze auf die Knie und mühte sich, das Dokument – das Verstörendes dokumentierte – zu entziffern. Nur langsam sickerten die Worte und deren Bedeutung in ihn ein; es waren Teile von Elias zurückgeblieben, Körperteile. Organe wurden entnommen. Die Namen und Daten der Empfänger waren mit Blut befleckt, daher schwer lesbar. Er versuchte, sie sich vorzustellen, ihnen Gesichter zuzuordnen. Atmete dabei den dem Textil anhaftenden Duft seines Sohnes und streichelte, versunken in eine Art Stupor, den abgetrennten Finger, den er als fleischlichen Beweis seiner Existenz aus dem rechten Ärmel des Kapuzenpullis hatte hervorlugen lassen.
Den Rest der Nacht blieb er so und erwartete, im vom geisterhaft flackenden Kerzenlicht matt durchdämmerten Zimmer hockend, den Beginn des werdenden Tages. Und war die Nacht dem Empfinden nach sargschwarz gewesen, hatte die lange Spanne des ausgehungerten Morgens etwas unnatürlich Friedfertiges. Die Haut des Jungen, dessen Anwesenheit er fast körperlich zu spüren glaubte, wirkte beinahe durchscheinend. Mit den geschlossenen Lidern, die sich stramm um die Augäpfel spannten, war diese Erscheinung etwas, in das er seine Gedanken hineinbetten konnte.
Sie standen unter der Mittagssonne auf der Wiese am Wasserwerkswäldchen nahe dem Verteiler. Er spannte den Compoundbogen und richtete ihn auf die Zielscheibe. Elias zielte mit seinem Bogen in den strahlend blauen Himmel. Es mochte acht oder neun gewesen sein.
Als Balder das dumpfe Surren der Sehne hörte, schoss der Pfeil nach oben. »Was hast du getan«, schrie er und eilte zu dem Jungen hin, ihm mit seinem Körper Deckung zu geben. Der niedergehende Pfeil grub sich zentimeternah tief in die Erde.
Am Leben war er, wenn er auch tagelang nichts aß. Nur dalag in seiner Matratzengruft neben der zerfetzten Kleidung, dem Imitat, der Nachbildung des ruhenden Sohnes. Selbst am Tumult des Jahreswechsels wollte Balder nicht teilhaben. Die Weihnachtsfeiertage über hatten ihm die Nachbarn Driving home for Christmas durch die Wand gedrückt with a thousand memories. Und nun wurden unten auf der Straße Feuerwerkskörper gezündet und Lichtblitze drangen durch die Ritzen zwischen den Decken, die er vor die Fenster gehängt hatte, und illuminierten den Raum, das Mobiliar, den Weihnachtsmann. Der war vom Beistelltisch gefallen, die Silberfolie aufgeplatzt, der Schädel des mit wenig Zucker gesüßten Zartbitterleibs eingedrückt wie der von Elias.
Der Störungsgrad seiner Psyche weiche im Impact of Event Scale, einem diagnostischen Verfahren, mit dem der Schweregrad einer posttraumatischen Symptomatik ermittelt werde, signifikant von der Norm ab. Das Ausmaß der Somatisierung in der SOMS-Skala – ein Maßsystem zur Auswertung psychisch verursachter körperlicher Beschwerden – sei exzessiv, hörte Balder eine nachhallende Stimme auf sich einreden. »Daher hat der Fahrer der Linie 7, die ihren Sohn frontal erfasst hat, jede Kontaktaufnahme ihrerseits verweigert. Früher wurden Bahn- und Busfahrer nach Unfällen mit schwerstverletzten oder tödlich verunglückten Personen zur Kur in die Eifel verschickt. Die Verkehrsbetriebe hatten dort Hotelzimmer angemietet. Wochenlang jeden Abend betrunken. Das war die ›Therapie‹.«
Die medikamentöse Behandlung mit Mirtazapin hingegen, ein Arzneistoff aus der Gruppe der Antidepressiva, leicht löslich in hochprozentigem Alkohol, dauere in der Regel nur drei Wochen. Schon zeigten die meisten wieder eine gute familiäre, berufliche und soziale Lebenszufriedenheit. Eine behutsame Konfrontation mit dem Geschehenen sei der Schlüssel. Wichtig sei daher die erste Fahrt danach. Darauf bereite man traumatisierte Fahrer in der Trauma-Ambulanz des Instituts für Psychologische Unfallnachsorge (ipu) vor. Sie finde im Beisein eines Traumatologen statt und nehme einen entscheidenden Verlauf, wenn es an die fragliche Stelle gehe. Dann kämen die verschütteten Bilder wieder hoch. Dann sei es, als würde es ein zweites Mal geschehen. Da es für sie aber existenziell sei, müssten sie wieder rein in den Zug. Ihr einziger Halt sei letztlich ihr Broterwerb. Das mache berufsbedingte Traumata so besonders.