Читать книгу Schlaflied für einen Toten - Katarina Torso - Страница 16
Die Kunsthaarperücke
ОглавлениеNach ihrem jüngsten Erscheinen vollzog sich an Balder eine Verwandlung, die bald, nachdem er schlafwandlerisch dem Bett entstiegen war, zur vollen Entfaltung gelangte. Sie ging einher mit der Vision von einem juvenilen, weiblichen Wesen, 14 Jahre alt, das dumpf und schwer niederklatschte auf dem Gleis parallel zum »Trampelpfad« Bergerstraße, hängen blieb am vorderen Drehgestell, mitgeschleift wurde über kantigen Schotter, der tiefe Wunden riss – Furchen aus Leibesfetzen und Qual – und all dem Üblichen mehr: aus dem Kopf ein menschenwarmer Brei, von dem, wer noch Atem hatte, nehmen konnte. Was mit der Zunge erhascht, nahm die ausgedörrte Seele auf. Schluckte den letzten roten Tropfen selten. Wurde still. Verstand ging aus, wenn er nicht schon vorher ausgegangen war.
Dann nahm alles seinen Lauf. Gelbe Dreiecke mit schwarzen Nummern wurden in den Dreck gesteckt. Magnet- und Klebepfeile zum Markieren von Kratzern, Dellen, Lackabtragungen an der Karosserie zum Haften gebracht. Weiß umrandet und mit Spritzern unsorgfältig hingemachter Sprühkreide-Markierungen versehen ihr persönliches Habe, das verstreut im Gleisbett lag – ihr Schulranzen, ihr Handy, ihr Schuh – zur Dokumentation der Lage, vom Verkehrsunfall-Aufnahmeteam, das die Spuren sicherte, während die Kollegen vom ET-Verkehr die Drecksarbeit machten. Die Tote in ein Leichentuch des Vergessens hüllten. Eine Plane über sie warfen, bevor sie sie für immer aus der Welt schafften.
Und wieder war es die Linie 7, die Elias' Schicksal besiegelt hatte.
Die Stimmen klangen sehr aufgebracht. Ihr Flüstern war wie ein Tinnitus in Balders Ohren. Sein Denken war plötzlich ein anderes. Er fühlte sich sonderbar, beinahe wie eine andere Person. Als er sein verwandeltes Äußeres im Spiegel betrachtete, offenbarte sich ihm eine Marionette, die eine billige Kunsthaarperücke trug und tat, wie ihr geheißen: die Kanister auf den Hänger zu laden, sich auf den Sattel zu schwingen und zum Depot zu radeln. Denn der Halbschlaf ist des Schlafes Bruder und der Bruder der Nachtwandler und Träumer, die zu gehorchen haben.
Der Himmel war gespenstisch schwarz.
Im Strauchwerk zitterte der Nachtwind. Streichelte das Laub, das künstliche Haar von Balders Perücke, die aalglatte Front der Linie 7. Im Depot glich jedes Fahrzeug in Dimension und Schwere dem Ausmaß seiner Verzweiflung. In Länge, Breite, Höhe und Bedrohlichkeit wollte Balder dies alles brennen sehen. Er war ein Getriebener und handelte nachtwandlerisch in einer Art Schlaf, der keine Zeit stahl. Schultern, Arme, Hände koordinierten sich intuitiv mit der Beinbewegung. Die Wirkung einer in ihm schlummernden, längst gelegten Ursache lenkte seine Schritte. Wie ein Soldat, der unter Beschuss über ein Schlachtfeld läuft, eilte er fünf, sechs lange Minuten – all die Verkehrsopfer vor Augen: blutleeres, bleiches Gebein, in jederlei Haltung hingestreckt, die er allein, Kraft seines Blickes, loszusprechen vermochte von ihrem verborgenen, körperlosen Dasein – mit den Kanistern durch die spukhaft belebte Dunkelheit und goss Benzin aus: Die giftigen Dämpfe inhalierend, gefangen in der Welt der Erscheinungen, den mechanischen Bewegungen des roboterhaften Handelns.
Donner groll, als er nach dem Feuerzeug griff, es aufklappte, den Zündmechanismus betätigte, die Flamme an die Lunte heranführte, die er mit dem Rest Benzin aus dem letzten Kanister gelegt hatte. Es war nicht er, der das Feuer entfachte. Der Himmel bewahrte den Täter vor der Tat. Blitze gingen trocken hernieder, alle Schuld auf sich zu nehmen.
Er schleuderte die Perücke weit von sich und atmete asthmatisch im Widerschein des auflodernden Feuers, bis die Flammen das inflammable, leicht entzündliche Kunsthaargebilde vertilgt hatten und das Marionettenhafte – zwar nicht gänzlich, aber beinahe gänzlich – aus seinem Bewusstsein verschwunden war. Verschloss und verlud hernach die leeren Benzinkanister. Zog den Reißverschluss des Parkas zu. Besann sich auf den Sohn – androgynes Antlitz, helle, sommersprossige Haut, junger, fester, wohlgestalteter Körper, die Hände schlank, die Finger feingliedrig, das Haar leicht gelockt – und sprach: »Wir müssen warten, müssen stehen, müssen sehen, wie der Rauch und mit ihm der Fluch emporsteigt in den sternenlosen, mondlosen Himmel«, während unweit vor ihm Panoramafenster barsten, Karosserien sich verformten, verrußten, auf denen sich ein rot/weißes Symbol mit einem Pfeil im Mittelpunkt des Kreises hervortat.
Pantographen, zum Übertragen elektrischer Energie von stromführenden Oberleitungen, lösten sich aus der Verankerung, Metallteile fielen scheppernd zu Boden. An Balders Schläfen hämmerte der Schmerz. Das Dröhnen in seinem Schädel vermengte sich mit dem anschwellenden Geheul der nahenden Sirenen. Es dauerte, bis er den Klang, den seine Ohren wahrnahmen, korrekt einzuordnen vermochte. Ein kurzes, kontemplatives Innehalten, dann sammelte er die verstreuten Teile seines Bewusstseins ein und radelte so rasch, wie es ihm seine Beine erlaubten, davon. Im Hintergrund loderte das Feuer. Das Licht der Flammen erweckte den Anschein, als leuchtete seine Gestalt.