Читать книгу Schlaflied für einen Toten - Katarina Torso - Страница 15
Die Heimsuchung
ОглавлениеAn einem Tag, der nur ein weiteres Glied einer endlosen Kette von Tagen ohne Sohn war – Balder war sich nur vage bewusst, wo er war, er konnte sich nicht erinnern, diesen Weg eingeschlagen zu haben, es war nicht die erste Erinnerungslücke, die ihm auffiel – riss ihn ein Spektakel aus seiner Apathie, veranstaltet von einer Bande halbwüchsiger Jungen, alle in ihrer Beschäftigung versunken. Fahles Außenlicht eines nahegelegenen Firmenkomplexes illuminierte schwach ihre Gesichter. Hinein in die Szenerie stolzierte eine junge Frau, die die Jugend zurechtwies.
Balder musterte sie.
Sie wusste nicht, warum er dort stand. Es war ihr Weg, der sie an ihm vorbeiführte. Ihm, der so lange schon keiner solchen begegnet, nicht in der Nähe einer solchen gewesen war.
Dann war sie verschwunden.
Und fünf Jungen, die jene Unbekümmertheit an den Tag legten wie einst der Kostbare, staunten, wie problemlos zerbarst, was sie zum Zeitvertreib auf die Schienen legten. Kleine Hindernisse: Münzen, Steine, Glasscherben, diverse Teile aus Chemielaboren. Für die schweren Räder ein Kinderspiel. Balder sah, wie sie lachten, sich anspornten, ihnen mulmig wurde, als sie immer solidere Barrikaden bauten mit dem Geräteschrott, der hier überall herumlag.
Er beschloss, die kommenden Abende hier zu verweilen, in der Hoffnung, die Schöne möge sich wieder zeigen. An ihm vorbeistolzieren mit ihren langen Beinen, als ob es ihn nicht gäbe. Es war etwas an ihr, das er kannte. Wie die einstige Geliebte, von der er es kannte, war sie ein Juwel in seinen Augen. Sie brachte einen Hauch von etwas Gewesenem, längst Vergessenem, lange nicht Verspürtem in sein einsames, verzweifeltes Dasein: diese köstliche Gelöstheit, die ausgeht von einem lasziven, mal mehr, mal weniger gut durchbluteten Steifen; im feuchtwarmen Drin, im kalten Draußen, und wenn draußen, dann doch immer nah genug der schamhaarigen Pforte zum Mutterland.
Er sah sie noch zweimal im Regen. Er wollte sie. Er glitt in sie hinein. Es war herrlich, in Gedanken in ihr zu sein; mit jedermanns hässlichem Gott zwischen den Beinen, dem einzigen, dem wahren, der, weil er Samen hat, zeugen kann.
Bis in den Spätherbst begleitete ihn die Sehnsucht an die Trasse, wo die Ferne so klar wie die Nacht war und die Schöne so fern wie die Ferne.
Nichts Menschliches bewegte sich unter dem Mond, kugelrund wie ein Leib Käse. Da war nur dunkle, kalte Nacht, und die warf große Schatten. Über den Bahndamm tänzelte eine Schar kleiner Schatten, geworfen von etwas, das durch die mondhelle Luft flog, um sich auf dem lakritzschwarzen Draht der Oberleitung niederzulassen. Sich aufzuplustern. Zu schnäbeln. Sogleich wieder davonzufliegen und mit der Dunkelheit jenseits der Gleise zu verschmelzen. Oder nichts davon zu tun; vielmehr etwas zu sein, das an Zweigen hoher Bäume auf der anderen Seite der Bahntrasse welkes, abgestorbenes Blattwerk war, das vom Nordwind herübergeweht wurde, um kleine Schatten zu werfen auf etwas, das wie ein Schlüsselbund aussah.
Der Kostbare jedenfalls warf keinen Schatten mehr.
Und Balder war mehr und mehr davon abgekommen, dass dies der Ort sein könnte, an den auch der Sohn wieder herangeweht würde, als Hauch von etwas Gewesenem, wenn er nur fest daran glauben, nur lange genug auf den Horizont starren würde, an dem sich drei jungenhafte Gestalten abzeichneten, die nach und nach zu erkennen gaben, dass er nicht unter ihnen war.
POL-K: 091821-3-K Zwei Schüler von Straßenbahn erfasst.
Am Samstag, gegen 20:20 Uhr, kam es auf der Straßenbahntrasse in Höhe der Grüngürtelstraße zu einem schweren Verkehrsunfall. Ein 14-Jähriger und seine zwei älteren Freunde waren als Fußgänger auf der Trasse in Richtung Michaelshoven unterwegs und suchten nach einem verlorenen Schlüsselbund. Kurz nach dessen Auffinden wurden die beiden Freunde von einer Straßenbahn der Linie 16 erfasst und tödlich verletzt. Wie durch ein Wunder blieb der 14-Jährige unversehrt. Ein ganz in Schwarz gekleideter Mann habe ihn von den Schienen gezerrt, gab der Schüler an.
Es folgten die ersten, ganz schlechten, nahezu völlig schlaflosen Nächte, in denen Balder erstmals zweistimmig flüstern hörte: »Warum hast du uns nicht gerettet?« Dann kamen mehr Stimmen. Ihr Kommen ging einher mit tinnitusähnlichen Geräuschen.
Und nahmen sie Gestalt an in der kühlen Nachtluft – ein eisiger Schrecken war Balder in die Glieder gefahren, das kleine, 1-Zimmer-Apartment war laut mit seinem Atmen, laut mit seinem Herzschlag erfüllt, als sie ihm erstmals erschienen, diese in der Dunkelheit fahlweiß leuchtenden Jenseitsgestalten – so warfen auch sie keine Schatten. Ihre bleichen Münder sprachen schwer, wie von Frost erstarrt. Einem von ihnen – unverkennbar war der Klang seiner Stimme – hing ein Büschel blondgelockter Haare in die kalte Stirn und verdeckte die tödliche Wunde über der rechten Braue.
Sie alle hatten den Gang über den Übergang nicht überlebt und waren gekommen, ihm Mitteilungen zu machen.
Wie lange schon verweht klangen ihre Stimmen. Jede Art von Grabesdünsten ausatmend hauchten sie ihm Bilder von Schülern zu, die nahe dem Albertus-Magnus-Gymnasium einen Gleisübergang querten – ein enges Gebilde, begrenzt von hüfthohen Drängelgittern, die man Z-förmig umlaufen musste – und verkündeten das Drohende seinem Geist. Balder entnahm ihrer Vehemenz und Gehetztheit, dass sich das Unheil ganz früh am Morgen ereignen würde, lange vor seinem üblichen Erwachen, was immer ein unangenehmer, ein mühseliger Prozess war mit einem toten Sohn im Kopf.
Er drückte zwei Pillen aus der Blisterpackung. Sie wirkten nicht. Die Sinne umhüllt von Träumen lag er wach. Nur hin und wieder fiel er in einen Sekundenschlaf. Um sechs Uhr früh, als die ersten Lichter im Nachbargebäude angingen – die Morgendämmerung war nicht einmal eine Ahnung am Horizont – erwachte Balder aus dem Schwebezustand. Das war der Moment, der am meisten schmerzte, der Übergang zur Wirklichkeit. Benommen richtete er sich im Bett auf und massierte die Schläfen mit den Fingerspitzen. Dann ging er ins Bad. Wusch sich. Kleidete sich an. Murmelte etwas wie: »Ich eile, ich haste ja schon, sie werden in Ordnung sein«, bevor er hinausrannte, mit nichts im Magen. Nicht ohne sich noch einmal umzudrehen und devot zu bekreuzigen vor jenen – die Aufstellung genommen hatten am Fußende seines Bettes, ohne auch nur einen Schatten zu werfen.
Noch zögerte der neue Tag, sein Nachtgewand abzustreifen. Bald würde das darke Gewölk vom Morgenwind kraftvoll aufgerissen werden oder niedergehen als Regenschauer. Es war November. Balder nahm die Wiederkehr in sich auf und blieb noch eine Weile an einem der Drängelgitter stehen, bis von der nahenden Dämmerung das erste graue Tageslicht am fernen Horizont schimmerte. Die Stimmung, die mit dem Wind vom verwaisten Pausenhof herüberwehte, war simpel: Das Vor- und Zurückwippen einer rostigen Schaukel, auf der er glaubte, ein Kind rufen zu hören: »Du musst mich anstoßen, Papa! Los! Komm schon! Mach schon! Schubs mich!«, und gedämpfte Laute aus gekippten Fenstern von unversehrten Schülern, deren Lotse er war und deren Schutzengel er sich einbildete, gewesen zu sein.
Er versinnbildlichte die Eindrücke, hörte auf zu denken und empfand nur noch.
Irgendwann, er wusste nicht, wieviel Zeit vergangen war, setzte sein Denken wieder ein. Er schwang sich auf sein Rad und fuhr nach Hause.
Den Rest des Tages verschlief er. Die Flüsterer, in der Nacht noch Angst gehabt, sie würden ihn abmurksen, verhielten sich ruhig.
Schleichend hatte die Heimsuchung begonnen. Lange, bevor sie ihm erschienen, hatten sie unvermerkt über ihm geschwebt, diese Jenseitsgestalten, in all den ungezählten Stunden, in denen er neben dem Imitat des ruhenden Sohnes kniete und das Geschöpf hielt, väterlich, Wange an Wange, das er aus dem abgetrennten Fingerstumpf, gedüngt mit Halluzinogenen auf geistigem Nährboden, befeuchtet mit salzigem Augenwasser, hatte auskeimen sehen. Und war ihm vor ihrer Leugnung noch, er habe sich ihre Präsenz nur eingebildet, so hatten sie bald jedwede Scheu verloren.