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In einer schattendunklen Ecke

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seines Apartments, auf einer nach Mensch riechenden Matratze, den Rücken den Tag über an die Wand gelehnt, die öde, cremefarbene Textiltapete, vergilbt vom Rauch, halluzinierte Balder. Eine ausgemergelte Hungergestalt. Ungewaschen. Voller Erinnerungen, geistiger Nachgeschmäcke.

Seinen gesamten Vorrat an Oxycodon hatte er dazu hergenommen – und alle Zeit, dem Jungen Raum zu geben in seinem Inneren. Oftmals tauchte Balder mit einem halluzinatorischen Bild von ihm vor Augen aus dem Schlaf auf. Ja, es gab sogar Momente, da sah er Elias’ Gesicht so deutlich vor sich, als wäre es in sein Gehirn tätowiert, und war dankbar für diesen Zustand, ähnlich dem des hyperthymestischen Syndroms, einer außergewöhnlichen Fähigkeit der Erinnerung.

Solchermaßen verharrte Balder, Monate, wie ihm schien, bis es eines Abends – Anfang Februar – an der Tür hämmerte und rief: »Es riecht streng aus Ihrer Wohnung – machen Sie was dagegen.«

Das Opioid liebkoste nicht mehr sein Gehirn. Die Erinnerungen verblassten, und die Entzugserscheinungen wurden rascher als erwartet unangenehm. Er griff zum Alkohol, und das, was sein Leben war, ging weiter.

Durch Masturbation wollte er sich Linderung verschaffen. Er hatte alle Mühe, das Glied steif zu machen, steif wie eine Leiche.

»Eet jitt kei Wood, dat sage künnt, wat ich föhl …« hallte es von der Straße rauf, als er ejakulierte, von Jecken gesungen, die von der Verbrennung des »Nubbels« kamen, einer Strohpuppe, die für die Sünden der Karnevalisten büßen musste.

Das erschlaffte Glied in der Hand stand er vor dem beigefarbenen Waschbecken und starrte auf den kläglichen Erguss. Fäden wässrigen Speichels hangelten sich von seiner Unterlippe zu Boden.

Er holte tief Luft, rülpste, indem er ausatmete, aus den Tiefen der Magengrube und spürte einen gärigen Geschmack im Mund. Er hatte zu viele Biere getrunken – aus Dosen, aus Flaschen. Den Alkohol, vom Magen via Aorta über die Leber zu den Nieren gelaufen, hatte die Blase aufgenommen. Er musste dringend pissen.

Die Blase leerte sich mit einem heftigen Strahl. Er gab sein Bestes, die Kloschüssel, nicht die Fliesen zu treffen, und kontemplierte im Uringestank. Sann ernsthaft darüber nach, sich zu erhängen; am Ast eines Baumes, am Rand einer Wiese, wo er den Jungen seine Torerfolge bejubeln und sich hatte beteuern hören, der Ball sei unhaltbar gewesen.

Nein. Noch wollte er in keinen Wahnsinnshimmel kommen. Er würde unter den Gottesanbetern nur Trübsal verbreiten. Höchst unwillig sich laben am Harfenspiel, an dröhnender Orgelmusik, an Stoßgebeten aus dem Lateinischen, an Manna und Wein, der einst Wasser gewesen, und all die schönen Wundertaten mit seiner Schwermut verderben.

Sterben war keine Option.

Im Gegenteil. Er musste den Tod aus seinem Bewusstsein verbannen.

Noch während sich draußen der Morgen ereignete, begann er beiseitezuschaffen – nicht aber zu vernichten –, was an das tragische Ereignis und den Sohn erinnerte: die zerfetzte Kleidung, die Zähne, den abgetrennten Finger. Dinge, die er bisher wie Reliquien behandelt hatte. In Sonderheit die Fotografien von Elias, von denen er das posthume Gefühl hatte, sie seien nur gemacht worden, ihm nun stärker zuzusetzen, als die bloße Bewusstheit seiner allumfassenden Abwesenheit, seiner permanent anwesenden Absenz.

Hernach sank er erschöpft auf die Couch, schloss die Augen und versuchte, den Tod des Jungen zu verdrängen. Seine gesamte Existenz. Jeder Gedanke an ihn war schmerzhaft. Treffender gesagt, er falsifizierte, erachtete als unwahr, was ihn maßlos quälte. Seine Gedanken drifteten ab, entfernten sich. Er spürte den Moment auf, in dem Elias in sein Leben trat. Zerlegte seine Erinnerungen an den Tag, das Jahr, die Jahre danach, in überschaubare Episoden. Verwarf die belastenden, flocht Fantasien ein, gestand ihnen höhere Realität zu als der Wirklichkeit, und setzte alles neu zusammen. Mit der Zeit gelang Balder dies in einer Weise, rückte der Umstand, dass er Vater war, so weit in den Hintergrund, dass auch das traumatische, wachbewusste Geschehen in seiner Gedankenwelt kaum mehr Entsprechung fand. Das Gelungene überdies die Phasen des Schlafes durchwob. Sich derart manifestierte, dass zuweilen nur mehr feinste Haarrisse in der Fassade sichtbar waren. Der Grad der Manipulation seines Geistes allenfalls noch als ein flüchtiger Anflug von Wahn um seine Mundwinkel spielte und den schönen Schein verriet.

Doch je länger er diese Art des Denkens fortführte, – und das trieb er bis zur Erschöpfung –, desto mehr entfremdete er sich von sich selbst.

Er verlor sich in seltsamen Bewusstseinszuständen.

Zeitweise spürte er ein fremdes Zugegensein.

Schon Tage zuvor hatte er das Gefühl gehabt – eigentlich die ganze Phase der Leugnung über – als wäre hier irgendwas anwesend, was in der Sekunde, als er die Augen aufschlug, außer Sicht gehuscht war.

Und jetzt lag er offenen Auges da und wagte kaum zu atmen. Da war ein diffuser Schatten am Rand seines Blickfeldes, eine andere Präsenz.

Benommen folgte sein Blick der konturlosen Gestalt ins angrenzende Bad – die Tür stand offen. Der große Wandspiegel in der Diele erlaubte es ihm, den Raum von der Couch aus einzusehen, auf der er liegend ruhte. Was er sah, ließ ihn an ein paralleles Universum glauben: In heißen Wasserdampf gehüllt stand hinter geriffeltem Glas ein maskulines Wesen im Stadium der Adoleszenz, die Hoden eng am Körper anliegend und noch nicht voll ausgebildet. Schlacke, die haften blieb, als sich der juvenile Leib aus der Asche enthob, zog Schlieren in den Bahnen des abfließenden Wassers, und die Nacktheit, die darunter zum Vorschein kam, war pures Licht, keine Materie.

Die Tantalusqualen, die jenes unantastbare Geschöpf in greifbarer Nähe in Balder hervorrief, war nur von kurzer Dauer. Erschöpfung kam über ihn. Er fiel in einen tiefen Schlaf.

Am Abend des siebten Tages wechselte er früher als gewöhnlich von der unbequemen Couch auf die Matratze, durchdrungen von Fetzen eines Traumes.

In einem fiebrigen Dämmerzustand, einer Art Trance, sah er sich an den Gleisen stehen. Ganz still, ganz in sich gekehrt, richtete er den Blick hin zu der Stelle, wo der Junge gelegen hatte, den es in keinem Traum, keiner Erinnerung mehr geben sollte, und dann sah er ihn da liegen, im uringelben Schein einer Straßenlaterne, die den Schatten eines LSA-Masten wie zerschellt auf das Gleisbett warf. Über ihm die bleifarbenen Wolken, beim Dahinziehen hellsilbern angemalt von einem steten Mond an einem ansonsten nachtschwarzen Himmel. Die Wirkung, die das auf ihn tat, war zweifellos.

Noch in der gleichen Nacht griff Balder zum Stift mit der bleistiftgrauen Mine und schrieb – ganz klein – die Augen ganz nah am Papier:

Der Abendnebel, der um die Häuser strich, tunkte meinen Geist in einen üblen Traum. Keine zwei Sekunden brauchte ich, ihn zu deuten, schon kniete ich vor den Kartons, packte aus und gab zurück an seinen Platz, all jene Dinge, deren Existenz ich in Abrede stellte. Ob des Unterlassens meiner Irrsinnsbemühungen, Erinnerungen zu manipulieren, indem ich Gedächtnisinhalte fälschte und Gegenstände aus den Augen schaffte – in Sonderheit die Fotografien, die zerfetzte Kleidung, die Zähne, den abgetrennten Finger – ist der Gedanke an Elias wieder hellwach.

Zu Beginn des werdenden Tages hob Balder träge die Lider und sprach: »Es werde Licht«, und es ward Licht. Mit einem Wimpernschlag schied er das Licht von der Finsternis, nannte das Licht Tag und die Finsternis Nacht.

Und es ward Abend und es ward Morgen.

Erster Tag.

Mit zitternder Hand führte Balder das Glas Leitungswasser zum Mund, das auf dem Beistelltisch stand, und trank es mit großen Schlucken leer wie ein Verdurstender. Dann legte er sich wieder nieder und formte den Tag über stumm mit den Lippen, was er dachte. Rief sich an der Grenze zwischen Hell und Dunkel die Momente absoluter Verlorenheit ins Gedächtnis, die dem letzten Augenblick, in dem der Sterbende zwar noch atmet, aber so schwer, dass ein »Zurück-ins-Leben« keinen Sinn mehr hat, täuschend ähnlich gewesen sein mochten, und träumte sich in der Nacht an die Seite des Jungen und den Ort jenseits des Augenblicks.

Schlaflied für einen Toten

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