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Der Osiris-Mythos

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Zweiter Tag. Er aß wieder, um zu Kräften zu kommen, und begann, jene Gedanken in die Tat umzusetzen, die er stumm mit den Lippen geformt hatte. Gewissheit zu erlangen, das war er seinem Sohn schuldig. In jener Nacht, im Moment des tiefsten Schmerzes, war nur fragmentarisch zu ihm durchgedrungen, wovon der Mann am Telefon gesprochen hatte. Die Sinnhaftigkeit hatte Balder erfasst, die Tragik, nicht aber die Details.

Die, hoffte er, der Unfallakte entnehmen zu können, den Polizeiberichten, dem Sachverständigengutachten: Letzteres war eine Sammlung von merkwürdigen Wortgebilden und Mutmaßungen, die sich als Gewissheit ausgaben. Von »Blickzuwendungsdauer« war die Rede. Von »präattentiver Wahrnehmungsphase«. Von Kratzspuren an der Front der Straßenbahn, von der Elias – aus der Spurenlage, wie aus Kaffeesatz gelesen – mit nach vorn geneigtem Oberkörper, daher im Laufen, erfasst worden sei, auf dem mit Rohbetonplatten befestigten Gleisübergang jenseits der Eupener Straße in Höhe Haus 598. An einer dortigen Steuerbox für die Signale, an der linken vorderen oberen Kante – die Ecke war dunkelrot verfärbt und es klebten Knochensplitter, Haare und Gewebereste daran – war es nach den Erkenntnissen des Unfallaufnahmeteams zum ersten harten Anprall des Jungen mit dem Untergrund gekommen. Erst kurz dahinter setzten sichtbare Spuren des Mitschleifens ein, bestehend aus Stofffetzen, Gewebeteilen und Blut, die sich bis in die Endlage hinzogen, weit hinter dem Übergang, da die Gefahrenbremsung erst nach der Kollision eingeleitet wurde, erklärt durch obige Faktoren.

Balder klammerte sich an winzige Details, die er mit Bedeutung auflud. Versuchte, zwischen den Zeilen zu lesen, als wären dort Anhaltspunkte für eine Ahnung zu finden, die ihn bereits wenige Tage nach Elias' Tod überkam. Vergebens. Was wirklich geschehen war – es war dunkel, es gab keine Zeugen, niemand konnte ausschließen, dass auf den Jungen eingewirkt wurde – war der Akte nicht zu entnehmen.

Den Kopf, mit einem Knick im Nacken, dem Gleisbett zugewandt – schließlich hatte er hier schon einmal etwas gefunden, was den Einsatzkräften entgangen war – suchte er den Übergang nach Hinweisen ab für seinen Verdacht, der nichts weiter war als eine Ahnung und sich auf nichts gründete, in der Nacht, wenn alles schlief und der Betriebsverkehr auf der Strecke eingestellt war, Zentimeter für Zentimeter, vom gelben Gefahrenstreifen bis zum Gleis stadteinwärts, die Spurweite der Schienen, den Rohbeton zwischen Gleis und Gegengleis bis zur Abriebspur vom Schuh des Jungen. Er machte Schritte dabei und erkannte, dass der letzte einer zu viel gewesen war.

Im Schotterbett justierte er den Lichtkegel seiner Taschenlampe, die allmählich an Leuchtkraft verlor, um die Ritzen zwischen den Steinen besser ausleuchten zu können. Einige hob er an, hin und wieder las er etwas auf, das in dem schwachen Handlampenlicht silbern schimmerte, daumennagelgroß war, oder von der Form her eine gewisse Ähnlichkeit mit Elias’ Talisman hatte, dem Amulett, das nie gefunden wurde – vielleicht war ja das ein Hinweis – bis die Batterien endgültig den Geist aufgaben und Gleis und Schotter, vom Mond mit einer falben Milchhaut überzogen, vor seinen müden, nachtschweren Augen zu einer einheitlichen grauen Masse verschmolzen.

Als er aufschaute, nahm er im Parterre gelegenen Fenster von Haus 598, gleich hinter dem großen Zahn, eine geringfügige Aberration wahr, eine Abweichung unmerklicher Art – und erstarrte. Eine längst verloren geglaubte Erinnerung schien aus seinem Kopf dort hingeraten zu sein: Er war zum Kiosk spaziert, Zigaretten holen. Elias schlief. Er war drei Jahre alt. Als er zurückkam, stand der Junge – das Gesicht verschlafen, das Haar zerzaust – im Pyjama auf dem inneren Sims des geöffneten Fensters im zweiten Stock.

Mehrmals noch sandte er seinen Blick in jener Nacht hin zu dem Kind, das da puppenhaft still hinter Glas stand, in einem vom Mondschein angeleuchteten Schlafgewand, und aus marmornen Augen zu beobachten schien, was dieser seltsame Mann tat, der die Augen nicht von ihm lassen konnte.

Irgendwann starrte Balder nur noch und fragte sich, ob er das, was er hier, an diesem Übergang, zu ergründen versuchte, nicht beobachten könne. Es mit eigenen Augen zu sehen, stünde gewiss über allen Vermutungen. Er wusste nicht, woher der Gedanke kam. Er musste in einer seinem Bewusstsein unzugänglichen Nische gemach aus der Verpuppung geschlüpft sein, oder der Gedanke war im Verborgenen herangereift und hatte sich nur vor seinem Denken versteckt gehalten, um ihn von nun an permanent zu beschleichen. So bedeutend zu werden, so groß, dass er kaum noch in den Schädel passte. »Der Gedanke ist gedacht. Ich sehe alles vor mir. Gewiss wird es dauern. Ich werde lange warten müssen. Beharrlichkeit wird von Vorteil sein.«

Balder wirkte zum Schein ganz normal. Hatte sogar wieder zu malen begonnen (mit Fleischfarbe den Leib Christi, mit Schwarz in 25 Nuancen die Gewänder der Trauernden) und Gespräche zu führen mit den Hausbewohnern, ohne einen Anflug von Trauer – »wie geht es Ihrem Sohn?« – »gut« – »man sieht ihn kaum noch« – »er hat alle Hände voll zu tun mit seiner Franziska.«

Ein neuer Auftrag kam herein, ein Motiv aus dem alten Ägypten. Er wählte für die Darstellungsform der Isis den »Klagevogel«, ein geflügeltes, anthropomorphes Tierwesen, der über Osiris schützend seine Schwingen ausbreitete. Nach dem Osiris-Mythos wurde der Gott von Seth zerstückelt und seine Einzelteile über das ganze Land verteilt. Arthribis zum Beispiel beanspruchte das Privileg, sein Herz beherbergt zu haben. Daraufhin machte sich die trauernde und verzweifelte Isis auf die Suche nach den Überresten ihres Bruders und Gemahls Osiris, um diese mit Hilfe von Magie wieder zusammenzufügen. In der Darstellung des Klagevogels hatte sie kein erkennbares Gesicht. Ihr Antlitz war verdunkelt vom Schatten des Todes.

Und seine Oxycodon-Vorräte waren aufgefüllt. Nur mit verengten Pupillen schaffte er es, den Pinsel zu führen. Die anderen Präparate – die Balkontür stand nachts offen, er überprüfte jeweils den Inhalt der Packungen, zählte die Blister und überschlug grob, wie lange er damit auskommen würde – stahl Balder bei Bedarf vom Nachbarn.

Euphorisch, innerlich taub, wie abgestorben, je nachdem, welches Pharmakon er gerade geschluckt hatte – Neuroleptika, Antidepressiva – stand Balder nach Einbruch der Dämmerung am Gleis und wartete, mit unfasslicher Geduld, das Gesicht verklärt vom törichten Hoffen auf das Unvorhersehbare.

Wechselte, wenn sich tagelang nichts tat, planlos, ziellos den Übergang. Stierte auch hier versponnen, verquält, versunken in dies absurde Warten, mit dem beklemmenden Gefühl, zeitlos, sinnlos dahinzugleiten. Schrak aus der Kontemplation, der inneren Einkehr, lediglich auf – hellwach auf einmal – wenn ein Junge seinen Blick kreuzte und in ihm Erinnerungen an den Sohn wachrief.

Die im Viertelstundentakt an ihm vorbeidonnernden Züge hingegen rissen ihn kaum mehr aus seiner Lethargie. Nur wenn der Schrei, der tief unten in der Kehle saß, aus ihm heraus wollte, schrie Balder aus Leibeskräften in den Fahrtwind – »wann hörst du endlich auf damit, tot zu sein!« – an diesen Übergängen, die von der gleichen Trostlosigkeit geprägt waren, wie der von diffusem Dienstlicht vergilbte Aufenthaltsraum, wo Fahrer – im Ganzen rund 620, verteilt auf 382 Stadtbahnen – vor Schichtbeginn mit stumpfen Blicken belegte Stullen verzehrten, als würden sie Brennstoff tanken, in der von Schweißgeruch durchtränkten, hundertfach von Kollegen inhalierten, vorverdauten und ausgestoßenen Atemluft, bevor sie nach Flexplan ausschwärmten, oft wochenlang nicht in der Zentrale erschienen, weil sie ihre Dienste direkt an den Haltestellen aufnahmen und aus der Frontglasperspektive auf die langgestreckte, starre Schlichte blickten – den Schienenstrang. Die hypnotische Starre übertrug sich auf ihn. Wie ihre, waren seine Augen auf das doppelte Stahlband der Schienen gerichtet, das die ganze Stadt skelettierte. Und mit der Zeit, Balder glaubte, an allen Übergängen, allen Unfallschwerpunkten gestanden zu haben, drang nur noch mühsam in sein Bewusstsein, was er wahrnahm.

Nach sinnlos vertanen Monaten, gefühlten Jahren, am Morgen irgendeines Tages – er war, in die Betrachtung des Bildes vertieft, im Atelier auf der Couch eingeschlafen, die Nacht hatte Dunkelheit gebracht und der Anblick Isis’ ihm auf eine seltsam reflektierende Weise bewusst gemacht, dass sein Weg vorgezeichnet war – besann Balder sich auf das klinische Dokument, das an der zerfetzten Kleidung haftete, am eingetrockneten Blut, und begann die Sieben in Augenschein zu nehmen, die einen Teil von Elias in sich trugen. Zwar musste er auch hier stehen und warten, doch war dies Spähen auf Haustüren und in Fenster, aus der Ferne so klein, dass sie in den Interdigitalraum zwischen Daumen und Zeigefinger passten, ganz hübsch gewesen. Alles lief irgendwie wie in Zeitlupe ab, unter dem Einfluss von Drogen. Und was er dachte, stand als Untertitel unter dem zu lesen, was er sah. Ein Stummfilm in Schwarz-weiß, koloriert nur an Stellen, wo die Fenster erleuchtet waren. Und wenn einer der Jugendlichen sich zeigte, war es, als wäre er es, sein Sohn, der die Empfindungen erstaunlich lebhaft wiederaufleben ließ, als wären nicht Monate vergangen seit jener kalten fernen Stunde, sondern nur Sekunden. Doch immer, wenn Balder den Arm nach ihm ausstrecken wollte – eine irgendwie verlangsamte, handgekurbelte Bewegung – riss der Filmstreifen.

Die Eiche stand träge im Licht der letzten Spätsommertage und warf mild bewegte Schatten auf Elias’ Grab, als Balder von der Mühsal sprach, wenigstens drei der Sieben ausfindig gemacht zu haben. Die Stadt. Die Straße. Das Haus, in dem sie lebten. Der Junge auf dem Foto am Kreuz lächelte. Lächelte breit und ewig.

Der Schmerz ließ ein wenig nach.

Doch schon bald nach deren Inaugenscheinnahme wurden die Tage kürzer und dunkler, und kaum einer von ihnen ließ sich noch blicken. Fast unbemerkt hatte dies stupide, seltsam isolierte Warten – dominiert von Agonie und Trance – wieder Einkehr gehalten.

Zu einem Genius Loci war Balder geworden, einem Geist des Ortes. An die Umgebung gab er nichts weiter ab als seinen starren Blick und seinen Atem. Vor seinen Augen, kantig vom stundenlangen Starren, hielten die Lichter der Straßenlaternen die Schatten ihrer Masten still.

Sein bis in die Haarspitzen Haldol-durchtränkter Körper, gewandet in Stoffe von dunkelfarbiger Beschaffenheit, verschmolz mehr und mehr mit dem schmutzigen Nachtgrau der Betonbauten, das schwer wie Stein auf seiner Seele lastete, dem Grau der Wand, an der er lehnte – von welkem Laub, papierartigem Zeug und Nieselregen umweht.

Er war ein Anonymus. Ein Niemand. Er fiel niemandem auf. Niemand schien ihn zu bemerken, von ihm Notiz zu nehmen, während er da draußen einsam stand – in welcher Stadt auch immer – und die Sekunden, die Minuten, die Stunden von ihm abtropften.

Gegen Mitternacht – er blieb noch, er genoss das Gefühl der Nähe – vergaß das Hirn, wie hungrig der Leib war. Der Geist war auf Schlaf fixiert. Er schwebte, gewichts- und gedankenlos, transparent wie der immer gleiche Regen, durch einen der Sieben.

»Habe ich heute einen der Sieben gesehen, ich weiß es nicht mehr.«

Wahrscheinlich war der Seelenschmerz der Grund, warum Balder den Verstand verlor.

Er widersetzte sich jedweder Zähmung, ließ sich weder bezwingen noch bändigen. Ganz gleich, wo er auch stand und war, vor dem Haus von einem der Sieben, am Grab seines Sohnes, im Atelier, mit verengten Pupillen den Pinsel führend, in schmuddeligen Hotels mit postpubertären Nutten vom Straßenstrich, die er nicht umarmen, nicht küssen, nicht lieben konnte – alles, was er tat, tat er mit ihm. Er wanderte vom Kopf abwärts, als er in sie eindrang, und konzentrierte sich kurz vor dem Höhepunkt ganz nach da unten.

An die Begierde konnte er sich noch erinnern, die postkoitale Schläfrigkeit, die auf den »Liebesakt« folgte, nicht aber an ihre Gesichter. Nicht einmal an das der Letzten.

Sie lag, den Rücken ihm zugewandt, auf der Seite, als er aus ihr herausglitt. Das schwache, von einem Lampenschirm gedämpfte, gelbe Licht einer Stehlampe umspielte ihren festen, knabenhaften Körper und ließ ihr Haar blond erscheinen. Balder betrachtete sie, während er sich ankleidete. Sie war jung, viel zu jung für ihn. Er senkte für die Kürze eines kontemplativen Wimpernschlags die Lider: »Elias, bist du da?«, stieß er leise flüsternd hervor, und sie drehte sich zu ihm hin und löschte die Augentäuschung. Sein Blick hatte zu lange auf schamhaarigen und andershaarigen Regionen geruht, als dass er das Trugbild erneut hätte aufflammen lassen können. Er glitt noch ein letztes Mal über nackte Erhebungen – kleine, weiße Brüste, die nicht bedeckt waren – und fiel durch die beschlagene Scheibe hinaus in die Dunkelheit, bevor er ging – desillusioniert und mit dem Gefühl, etwas Verachtenswertes getan zu haben.

Wie die Nächte waren die Tage ein langer Balanceakt.

Er war es leid, in Fenster, auf Haustüren zu starren und begann ziellos umherzuirren. Sein Gesicht war ganz grau vom Schlafmangel. Die Gehweglaternen übergossen ihn mit schmutzig gelbem Licht. In einem Straßenspiegel, der zertrümmert am Boden lag, war sein Antlitz multiple.

Nur die Krähen in den Bäumen waren Zeugen des gespenstischen Bildes, das Balder abgab: Ein dürres Schattenwesen, das durch die Straßen schlich, immer in Gleisnähe, heimlich, getrieben, von allen unbemerkt.

Er fühlte sich seltsam, wie außerhalb seines Körpers, und halluzinierte immer häufiger. In einer Nacht sah er im Führerhaus einer ausrangierten Lok einen ungeschlachten Mann, der linke Fuß auf dem Totmann-Hebel. Der Kopf, weit nach hinten gelehnt, wurde von der Nackenstütze getragen. Maden der ersten Generation labten sich an seiner Wohlbeleibtheit und stierten während der Verdauungsphasen aus den Höhlen der Augen, der Nase, dem Mundloch des Verwesenden, das weit offen stand, als hätte er etwas gerufen, »weg da!« vielleicht, auf das mit beredten Indizien besäte Gleisgelände: Winzig kleine Fetzen von Verkehrsopfern, die, von niemandem wahrgenommen, vor sich hin moderten.

Er war noch nicht lange tot.

Zuerst gesehen hatte ihn der Junge.

Der war nicht wirklich da.

Und doch hat der Sohn den Vater zum Trost bei der Hand genommen. Die Berührung des Imaginären, so superb in verlorenen Nächten, und so voller Grauen, wenn Balder ihn atemlos vor sich liegen sah.

Schlaflied für einen Toten

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