Читать книгу Schlaflied für einen Toten - Katarina Torso - Страница 9
Verborgen im blassen Bleistiftgrau
ОглавлениеAll diese Laute ignorierte der forensische Psychiater, als dieser im elften Monat desselben Jahres – am 16. November 2011, drei Tage nach Balders Verschwinden – den weitläufigen Korridor entlangschritt und erschöpft sein Büro betrat.
Wohl wissend, dass auch der kommende Tag einen frühen Morgen haben würde, richtete Dellmann sein Augenmerk auf das speckige, ihm zellophaniert überreichte Büchlein, welches im ungefähren Licht des späten Nachmittages roch, obwohl er es bereits Stunden zuvor aus der Folie genommen hatte.
»Ich bin Jesus! Lasst mich hier raus! Ich habe Seelen zu bekehren!«, hallte es durch den Zellentrakt.
Dellmann ging zum Fenster, öffnete es, zog Latexhandschuhe über.
Kaum, dass er sich hinter seinem Schreibtisch niedergelassen hatte – der Schreiende war verstummt, ein Medikament in dessen Mund geschoben und dessen Zellentür verriegelt worden –, blätterte er mit behandschuhten Fingern in dem grindigen Skript und fand Unleserliches. Vor den piktografischen Zeichen, altägyptischen Hieroglyphen, scheinbar willkürlich akzentuiert ins leicht ergraute Blattweiß gesetzt – zwei, drei auf jeder Seite – wurden ihm die Lider schwer, und er spielte mit dem Gedanken, das Skript zu entsorgen. Einzig Ich sehe ihn noch vor mir. Sein Blut schimmerte rot, wie koloriert, im weißen Schnee hatte er, kraftvoll ins Papier gedrückt, halbwegs lesbar geschrieben gefunden. Der Stift, sehr davon in Mitleidenschaft gezogen, schloss mit: Die Bilder habe ich immer und immer wieder vor Augen.
Tags darauf – in der Nacht hatte er eine Eingebung, die er in aller Bescheidenheit nur als genial bezeichnen konnte – nahm Dellmann eine Lupe zur Hand und fokussierte mit angehaltenem Atem, was zu seinem Erstaunen, verborgen im blassen Bleistiftgrau, jenseits der Hieroglyphen geschrieben stand, die offenbar der visuellen Ablenkung dienten. Die blasse, sehr kleine Schrift, verschlimmert noch durch Stockflecken auf den umschlagnahen Seiten – was den Umständen geschuldet war, unter denen das Büchlein gefunden wurde, in der Gesäßtasche von Balders Leiche – würde ein Entziffern zur Sisyphus-Arbeit machen.
Bereits am Tag von Balders Einweisung war Dellmann die Eigenheit des Mannes aufgefallen, der ihm Blicke zuwarf, die nicht bloß das Grau in seinem analysierenden Auge beanstandeten, sondern vielmehr eine in dieser Anstalt Norm gewordene Verzweiflung in sich bargen. Und nun glaubte er, durch die Konvexlinse ein Genie des Minimalismus im Verfasser dieser Zeilen zu erkennen, in denen einleitend geschrieben stand:
Schon wenige Tage nach Elias' Tod begann ich Gedanken zu entwickeln, Fantasien, die ich nur mehr dem Papier anvertrauen konnte. Ich trauerte tief; in einer Weise, die jeden, der mir einmal nahestand, sich von mir abwenden ließ. Und je weiter ich in den Abgrund meines Geistes vordrang, je detaillierter ich schriftlich festhielt, was ich zu tun gezwungen war in meiner Verzweiflung, desto mehr war ich darauf bedacht, dass diese Zeilen nicht in die falschen Hände geraten ...
Dellmann legte die Lupe beiseite und schnappte nach Luft. Denn es rochen die ersten Seiten stärker noch als die anderen. Jedoch nicht so streng, wie es der Umschlag tat.
An zig weiteren Abenden quälte er sich mit dem Konvexglas vor Augen durch die nur mehr fragmentarisch erhaltenen Schriften – Seiten fehlten, Seiten waren beschmutzt, Seiten klebten aneinander – in der Hoffnung, den Zeilen entnehmen zu können, was im Kopf seines Patienten vorging. Wann dessen Trauer pathologische Züge annahm.
Aus Angst, seine Beine würden ihn nicht tragen, hatte Balder am Tag der Beisetzung, siebzehn Tage nach Elias' Tod, zwei Paroxetin eingeworfen (ein Arzneistoff zur Behandlung von Depressionen und Angststörungen), war Dellmann zu entziffern gelungen, nachdem er zwei aneinanderhaftende Seiten behutsam voneinander getrennt hatte.
Als weilte der Junge mitten unter ihnen und er, Balder, wäre nur gekommen, all die tadellosen Gesichter zu bestaunen, die so unberührt wirkten wie einst das eine, so sei ihm gewesen, stand geschrieben, als er den Friedhof betrat und die vielen Schüler sah, von denen einige im Stimmbruch zu tuscheln begannen.
Schöne Gesten habe der Kirchenmann getan, in seinem glitzernden Gewand, und gesprochen schöne Worte in der Trauerhalle von Melaten:
Wie ein Rosenstock, der im Winter ausgetrocknet, hart und abgestorben erscheint, noch die ganze Lebenskraft des Erblühens in sich trägt, so ist Elias mehr als nur ein toter Junge. Er geht mit euch allen, die er geprägt hat und die ihn geprägt haben, weiter ins Leben, wenn ihr ihn in euren Herzen - wie eine Rose - gut bewahrt.
Das ist Isolation, das ist Stille, hatte Balder gedacht, als die Urne beigesetzt wurde, in die so viel hineinpasste: ein ganzer Sohn, ein ganzes Leben. All die Jahre. Die gemeinsamen Jahre. Nichts davon war mehr zu sehen, nur Dunkelheit. Feinkörnige, poröse Dunkelheit.
Er wollte gar nicht dort sein. Er stahl sich davon – in eine Erinnerung. Die gedankliche Nähe zu dem Jungen – daran erinnerte er sich noch mit ungeheurer Deutlichkeit – versetzte ihn in eine fast erlösende Stimmung.
Und obgleich er am 30. November im Regen und später, über seinen Notizen den Stift führend, im Geiste der Bestattung beiwohnte, war Balder gewillt, an dem Irrglauben festzuhalten, dass der Junge da draußen noch irgendwo sein müsse – so tickte sein Hirngespinst, das er um sich spann, um wie Raupen von Motten zu sein; geschützt in ihren Gespinsten.
Wie in einem Traumbild, das nach dem Erwachen noch vor dem inneren Auge steht, sah er den Sohn im Hochbett liegen. Frühes Morgenlicht drang durch die Jalousien in den dämmrigen Raum und zeichnete helle Streifen auf die Bettdecke. Füße, die 14 Jahre, 4 Monate und 13 Tage zuvor erstmals den Boden berührten, schauten ein wenig müde noch darunter hervor.