Читать книгу Schlaflied für einen Toten - Katarina Torso - Страница 7
Prolog
Оглавление13. November 2007
Der tote Christus ruhte im Schoß seiner Mutter, der Jungfrau Maria. Zu seinen Füßen kniete leinwandbleich Maria Magdalena. Der greise Josef von Arimathäa zog das Leichentuch zurecht. Am Firmament schwebten trauernde Engel. Im Hintergrund ragte groß und schwarz das Kreuz auf. Die mit Kohlestift skizzierten Häupter der Wehklagenden – Motiv: »Die Beweinung Christi« – umgab ein mit frischer Ölfarbe aufgetragenes Leuchten von Goldpigment.
Mit der Pinselspitze nahm David Balder erneut eine winzige Menge hochpigmentiertes Gold auf und vervollkommnete mit virtuosem Strich die Aureole um das Haupt des Johannes, der in melancholischer Pose auf Jesus blickte, dessen lebloser Körper gleichsam auf Vollendung wartete. Noch ein prüfender Blick auf das Werk, dann legte Balder Pinsel und Palette beiseite und rollte mit seinem Stuhl zum Telefon, das nicht aufhören wollte zu klingeln. Er mochte Anrufe nicht, die sein künstlerisches Schaffen störten. Er hatte bereits vier ignoriert an diesem Abend. Der einzige Mensch, an dem ihm gelegen war, rief zu so später Stunde nicht an. Nach der Schule, gelegentlich, um Bescheid zu geben, wann er zu kommen gedachte, ja. Aber nicht in der Nacht. In der Nacht war kein Anruf von dem Jungen zu erwarten. Er hob den Hörer ab und nannte seinen Namen. Dann drangen Worte an sein Ohr, so kühl gesprochen, so sachlich formuliert und so verstörend, dass er augenblicklich in Panik geriet.
Das Tragische, von dem der Mann am Telefon sprach, hatte sich in den Abendstunden auf einem Gleisübergang unweit vom Haus der Mutter des Jungen zugetragen. Auf dem Heimweg war Elias dort entlanggegangen – Stahlrädern entgegen, von denen staubiger Regen spritzte. Balder sah die rote Kunststoffverkleidung, den Stoßfänger, die riesige Frontscheibe der Niederflurbahn. Er sah die Fratze der Verwirrung im Gesicht des Fahrers, der mit nachtschweren Augen hinter der Verglasung saß. Sah dies alles vor seinem geistigen Auge, als untilgbares Mal seinem Sohn in den Leib gepresst.