Читать книгу Schlaflied für einen Toten - Katarina Torso - Страница 8

Die Dünne des Rosshaarfadens

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Zeit war vergangen. Nichts war vergessen.

Wenn Balder tief in sich hineinhorchte, klangen ihm die Worte des Gerichtsmediziners noch im Ohr, untermalt von dem beißenden Geruch und der Eiseskälte, die von dem Raum und den toten Leibern darin ausging:

»Die Leiche des 14-Jährigen ist frisch. Die Leichenstarre ist in den Kiefergelenken, den oberen und unteren Gliedmaßen vollständig ausgeprägt. Die Totenflecke sind wegdrückbar und von hell-kirschroter Farbe. Im vorderen Bereich des Kopfes befindet sich ein offenes Schädel-Hirn-Trauma. Die Kopfschwarte ist in diesem Bereich großflächig vom Schädelknochen abgelöst. Hirnmasse ist ausgetreten.«

In klaren, mondhellen Nächten war ihm, als spürte er, wie das Verwesungslicht des blassen Erdtrabanten in ihn eindrang und sein Gesicht leichenhaft färbte. Dann lag Balder wach, in Erwartung der morgendlichen Dämmerung.

Im Zustand tiefster Verwirrung wies seine Kleidung helle Streifen auf, durchsetzt von schattenhaften Linien. Die kamen vom vergitterten Fenster und waren überall dort, wo Mondlicht war, und in seinem Inneren: ein Traumfragment – eine welke Karotte – eine Nase, zwei flache Steine – die Augen, mehr Steine – ein lächelnder Mund, glücklicher Sohn, glücklicher Vater, ein Schneemann. Getaut – neu erbaut – wieder getaut. Dann, Jahre später, rings um das glückliche Kind – es war von einer Straßenbahn frontal erfasst worden – scharfkantiger Schotter. Der Notarzt wird es gleich gewusst haben; es war zu viel Blut im Gleisbett. Da war nicht mehr viel Leben.

Die Lider geschlossen, die Augäpfel lebhaft zuckend, war Balders Denken klar und unverfälscht auf sein einstiges Wirken gerichtet; darauf, was ihn umtrieb in den dunklen Tagen nach Elias' Tod. Im trostlosen »Hier« fiel eine Tür ins Schloss und wurde verriegelt. Im »Dort«, wo Balder im Geist mit Sinnen stand, auf einem Randstreifen im Windschatten eines winterkahlen Baumes, flockte es weiß aus einem wattierten Himmel und überhauchte die entseelten Straßen. Die wenigen erleuchteten Fenster waren bunte Mosaiksteine auf betongrauen Fassaden hoher Häuser.

Mit diesem Bild vor Augen driftete Balder in einen tiefen, traumartigen Zustand.

Spät dran ist er heut, dachte er an jenem frostigen Ort, an dem er im Traum weilte, und versuchte, sich auf die Fahrbahn zu konzentrieren, den mittig verlaufenden Gleiskörper, die Rad- und Gehwege, mit nur wenigen Abdrücken menschlichen Lebens versehen, während der Himmel kaltes Weiß über ihn ergoss.

Donnerstagabend, wusste Balder, kam der Junge hier entlang, die Straße, das Drängelgitter, die Gleise zu queren. Er hatte ihn über Wochen hinweg beobachtet, sich immer weiter vorgewagt, in der Hoffnung, sich ihm eines Tages nähern zu können. Zwar war sein Haar nur dürftig gelockt und nicht blond, sondern rot, aber er war von gleicher Statur wie Elias und ebenso hochgewachsen.

Aber nicht seine äußere Erscheinung war es, was Balder zu dem Jungen hinzog, ihn auf ihn warten ließ. Nicht einmal die Empfindung, die er in ihm wachrief; das Gefühl, wie es war, einen Sohn zu haben.

Der wahre Grund war ein anderer.

Balder liebte es, im trüben Licht der Gehweglaternen zu warten und dem Nordwind dabei zuzusehen, wie er den frisch gefallenen Schnee, dessen Pegel ihm verriet, wie lange dies Warten schon andauerte, in hauchdünnen Schichten abtrug und zerstäubte, um aus Abertausenden Kristallen weiße Gestalten zu formen. Dazu die Kälte, bis in die Knochen. Jeder Muskel, jede Faser in seinen Beinen schmerzte: Femur (Oberschenkel) und Ossa cruris (Schienbein und Wadenbein) verankert im Tarsus, den Fußwurzelknochen (Ossa tarsi) – alle lose, nur gehalten von Sehnen, Bändern, Muskeln, von der Kälte taub.

206 liebliche Knöchelchen waren es, die unter dem vorderen Drehgestell des Langzuges lagen; viele davon zerbrochen, gestippt in roten Saft. Jene von jenem, dessen Fleisch zu totem Fleisch, dessen Leib zu totem Sohn wurde.

Balder stöhnte und fuhr noch einmal empor aus dem Dämmer, auf der harten Pritsche, im Mondlicht, vom Schatten der Gitterstäbe gestreift. Dann glitt sein Geist zurück ins Schneetreiben und blieb.

Er stand so steif, so träge in der Landschaft, den Trenchcoat zugeknöpft bis zum Hals, die Hände tief in den Taschen vergraben, als hätte man ihm ein Bettgestell mit Riemen auf den Rücken geschnallt.

Als er den Rotschopf mit federndem Gang kommen sah, richtete er sein Augenmerk auf die Eleganz seiner Schritte. Es war eine Wohltat, ihn zu sehen. Keiner seiner Bewegungen entging ihm. Balder war, wo er sein wollte, und er versuchte, den Blick des Jungen einzufangen. Aber der beachtete ihn nicht, wie immer. Widmete ihm nicht den kleinsten Hauch seiner Aufmerksamkeit. Dabei verlangte es ihn so sehr nach einer Geste, einem Hallo, das ihm galt. Eine verloren am Grund seines Bewusstseins treibende Emotion drängte an die Oberfläche, groß und schwer. Balder dachte an die letzte Umarmung, an ihre Festigkeit, ihre Wärme; an die Sehnsucht in seiner Brust, die nicht diesen, die einen anderen Jungen meinte. Aber an Elias durfte er jetzt nicht denken. Die Augen zu Schlitzen verengt, blinzelte er in die Gischt der Verwehungen und ließ seinen Blick sich verlieren in dem Meer millionenfach wirbelnder Flocken, wohl wissend, dass einige den Rotschopf, wie einst seinen Sohn, im Gesicht, an den Händen, am Hals berührten. Den Rücken an den Stamm des scheintoten Baumes gelehnt, unter dem er stand, mit den Schuhen im zertrampelten Schneematsch – Nässe kroch in das spröde Leder – nahm Balder das silberne Amulett aus der Jackentasche, dessen Bedeutsamkeit an solche Momente geknüpft war. Es lag kühl in der Hand, und obwohl sich nichts darin spiegelte, weil es feucht war und klamm und seinen Glanz eingebüßt hatte, stierte er darauf und verfiel in einen Trancezustand, eine Art Blackout. Namen drangen aus dem tiefsten Innersten an die Oberfläche seines Bewusstseins; Worte auf einer Liste, ohne Gesichter. Sekundenlang war er sich nur vage bewusst, was um ihn herum geschah.

Er war außen vor, stand außerhalb.

Bremsen kreischten, Stahlräder glühten, Funken stoben auf, verglommen und erstarben in der Kälte, der Schwärze der Nacht, als er aufsah, um den Jungen wieder in Augenschein zu nehmen, dessen Gesicht ein eisiger Wind peitschte, dessen Augen verwirrt auf den nachtgrauen Schneestaub starrten, die Bahn, die wie aus dem Nichts auf ihn zukam, ehe sein Kopf an der Frontscheibe zerschellte.

Die Stille, die hernach eintrat, war geradezu unwirklich. Es fühlte sich an, als wären er und der Junge aus der Zeit hinausgetreten und befänden sich nun an einem Ort, an dem sich Gegenwart und Vergangenheit vermischten.

Balder war versucht, sich auf den Grund des Vergessens gleiten zu lassen und sah dem Reigen der Teilchen zu, die wie feiner Flaum herabfielen, bis sich eine Flocke hervortat, die besonders weiß gewandet niedersank, um sich auf andere – vom Blut des Jungen rot getränkt – sanft zu türmen, ehe sie dahinschmolz und verging.

Es war ein Moment von geistiger Erhabenheit. Balder hatte das Gefühl, er könnte den Schnee auf der Haut des Jungen schmelzen spüren. Ihm kam das glückliche Kind in den Sinn – die leichenhaft bleichen Züge.

6:00 Uhr war die Zeit des Erwachens. Ein langer, ein mühseliger Prozess nach einem Schlaf, der keiner war. Er blieb noch ein paar Minuten liegen. Der Traum geisterte noch immer in lebhaften Bildern durch seinen Kopf, aber es war ebenso eine Erinnerung gewesen aus einer Zeit, als sein ruheloser Geist noch frei war und ihn umtrieb. Ihm war ein Dokument in die Hände gefallen nach Elias' Tod, das Verstörendes dokumentierte. Und dies Dokument war der Grund, warum es Balder zu dem Jungen hinzog, den vor seinen Augen ein so tragisches Schicksal ereilte. Es war ein Moment tiefen Schmerzes. Die zu ihm sprachen, deren Stimmen er vernahm, klangen sehr aufgebracht. Ihr Flüstern war wie ein Tinnitus in Balders Ohren. Zu was sie ihn verleiteten, ließen ihn seine Träume nie vergessen. Unauslöschlich hatten sich die damaligen Eindrücke in sein Gedächtnis gebrannt. Er vernahm jetzt noch ihre Stimmen, spürte noch immer die Dünne des Rosshaarfadens, an dem das Damoklesschwert einer drohenden Dekuvrierung über ihm schwebte – einer Enthüllung seiner Identität. Seine Furcht, entlarvt und als Abweichler diskreditiert zu werden, war viel reflektiert und allgegenwärtig gewesen.

Er fröstelte. Gedankenfetzen begleiteten ihn zum Waschbecken. Die Erinnerungen holten ihn immer wieder ein. Er versuchte krampfhaft, sie abzuschütteln. Gleich würde er sich zeigen müssen. Ein Schließer würde sein Befinden prüfen und seinen Gehorsam.

Balder hob sein mit eiskaltem Wasser benetztes Antlitz, an dem neben der Zeit Kummer und Schwermut fraßen, und trocknete es mit dem kratzigen Anstaltshandtuch aus rauem Leinen. Der Traum war inzwischen in den Hintergrund gerückt und seine Gedanken halbwegs unter Kontrolle. Er rief sich ins Gedächtnis, dass es jenes jüngste, wenige Monate zurückliegende Ereignis gewesen war, das die Bilderflut ausgelöst hatte. Der Anblick mutete gleichzeitig wirklich und unwirklich an. Wie eine kaputt geschlagene Puppe hatte der Junge im eiskalten Schnee gelegen.

Das Bild verlor sich, als er draußen auf dem Gang Schritte vernahm, die vor seiner Zelle haltmachten. Während er sein Äußeres mit Abscheu in den Kacheln betrachtete, gewahrte er, dass das Guckloch in der Stahltür besetzt war. Ohne den Blick von den Wandfliesen abzuwenden, sah er ein vom Türspion kreisrund eingefasstes Auge, das sich, wie er, vage in der cremeweißen Keramik spiegelte und Aufschluss holte über ihn. Und was er nicht sah, fiel seinem Verstand nicht schwer zu ergänzen. Balder kannte die Abläufe, die Gegebenheiten in der Anstalt. Wusste, dass dies der Zeitpunkt von Dellmanns Visite war. So wie er wusste, dass die Seele des Mannes in der Nachbarzelle verdunkelt war von der Perversion des Herzens. Das stand nicht in der Enzyklika, und doch kniete jener lieber vor dem offenen Hosenschlitz eines Ministranten als vor Gott.

All jene von Justitia hier verwahrten schuldunfähigen und vermindert schuldfähigen Männer, verurteilt nach §§ 20,21 StGB, schienen dem forensischen Psychiater jedoch von minderem Belang, da sich dessen Auge allmorgendlich im Türspion von Balders Zelle zeigte, über dessen Boden ein Schatten kroch, der durch das am Gitterfenster gebrochene Licht derart bizarre Formen annahm, dass Balder – unterbrochen nur vom Öffnen und Schließen der Durchreiche für die Mahlzeiten – apathisch darauf starrte.

Als sich die Nachtschatten wieder abzeichneten, legte er sich nieder, und der Traum, der auch eine Erinnerung war, nahm den am frühen Morgen verlorenen Faden wieder auf: Kaltes Weiß wisperte herab – ein Meer von Flocken. Balder konzentrierte sich auf diese eine, die so friedvoll hinsank in dem Wachtraum der vergangenen Nacht, bevor sie ihr Weiß ins Rot mischte und den Geruch annahm, der solchen Unglücksorten zu entströmen pflegt: Es roch, wie feuriges Metall riecht. Es roch nach verschmortem Menschenfleisch. Und ein weiterer, ein untrüglicher Geruch hing in der Luft; der Geruch, den Blut entwickelt, wenn es mit Sauerstoff in Berührung kommt.

Balder wälzte sich elend auf der harten Pritsche aus der Seiten- in die Rückenlage und schloss die Augen. Doch sie wollten nicht geschlossen bleiben, zu viele Bilder fluteten sein Gehirn. Und blieben sie dann doch geschlossen, sickerte Mondlicht durch die Lider. Versilberte die Umrisse der kompakten, schweren Form der Stadtbahn. Funkelte kalt auf der Legierung des metallenen Hebels, den Instrumenten, den scharfkantigen Rissen des Bruchzentrums in der Frontscheibe, die er so bildhaft vor sich sah, dass er meinte, den Nachhall des Aufpralls bis hinein ins mondhelle Halbdunkel seiner Zelle hören zu können.

Der Sog der Bilder, die ihn bestürmten, war ungeheuer. Er tauchte noch tiefer in seine Gedankenwelt ein, spürte die Kälte, die von dem Ort ausging, in jeder Faser, ahnte die Wucht der Kollision, die Schärfe der Splitter.

Über das gesprungene Glas quälte sich mühsam ein Wischer. Schob knirschend den frisch gefallenen Schnee beiseite. Dahinter verharrte der Fahrer in einer Art Schockstarre, die Hand unbewegt am Sollhebel. Zeit ging dahin. Hydraulik-Türen blieben verschlossen. Insassen – degradiert zu unbedeutsamen Partikeln eines riesigen Schlachtermessers – stierten bleichgesichtig aus atembeschlagenen Panoramafenstern und erblickten doch nur ihr eigenes, verzerrtes Spiegelbild.

Sie sahen nicht die auf einen grausigen Fund hindeutende Spur, die Balder den Weg wies: auf halber Strecke ein Bein im Abdruck einer Fontäne aus Blut, vom Pulverschnee gezuckert, vom Bremssand paniert bis runter zum bestrumpften, schuhlosen Fuß. Hier und da das Glied eines Fingers. Unweit vor ihm, auffällig in der weißen Stille, keine zehn Schritte zu gehen, die Bewegung eines dünnen Armes und ein Ringen nach Luft – merkwürdig schnappend und keuchend.

Unter dem ersten Drehkranz, im vorderen Bereich des Zuges, fand Balder den Rotschopf und zog, was noch von ihm übrig war und verkeilt unter der Tram lag, zu sich heran, was ihm schwerfiel. Er sank auf die Knie und hielt prüfend ein Ohr an dessen Brust, die ihm zart erschien, zerbrechlich, und lauschte dem Atem. Ließ das angestrengte Keuchen in sich einströmen. Hob dann den Kopf des Jungen an wie eine Kostbarkeit und blickte in sein Gesicht, halb verdeckt von blutverklebten, wirren Haaren, ohne es wirklich zu sehen. Ein anderes Gesicht hatte sich davorgeschoben, ebenmäßig, schmal und wohlgeformt und schön, wie es sein von Sehnsucht geplagter Geist verinnerlicht hatte. Da war ein plötzliches, grelles Lächeln in seinen Gedanken. Es strahlte über all dem Schmutz, dem wunden Fleisch, dem Blut, das überall war. Der formschöne Mund präsentierte ihm perlweiße Zähne. Die Phantasmagorie, jenes bezaubernd schöne Trugbild, breitete sich über den ganzen Körper des Jungen aus und wuchs zu der Gestalt und vollen Größe des über alles geliebten Kindes. Durch den hell schimmernden Schleier seiner Tränen sah Balder den Sohn so unsagbar nah und real vor sich, dass er glaubte, ihn berühren, ihn leibhaften zu können. Liebe durchfloss ihn, und seine Fantasie ließ ihn erahnen, wie es sein würde, Elias in die Arme zu schließen, ihn an sich zu drücken, ihm Worte ins Ohr zu flüstern, die ihn vergessen ließen, dass er tot war.

Er wünschte, er könne für immer in diesem Augenblick verweilen, bei seinem Kind. Aber die Illusion verblasste und sein Blick glitt über den im Gleisbett liegenden Jungen, der erst jetzt wieder zu erkennen gab: Es war ein anderes Kind, und das Blut, in dem er kniete, war das von dem anderen Kind. Nicht einmal das Haar war von der gleichen Farbe. So sehr hatte ihn die Nähe des Kostbaren euphorisiert, so maßlos geblendet. Und so verstört. Denn es war in ihm geistig erwacht, dass auch Elias’ Leben so geendet hatte; in seiner Körperlichkeit derart grausam defiguriert, bis zur Unkenntlichkeit entstellt.

Mit einem Tuch tupfte er dem Rotschopf Blut von der Stirn, den Wangen, dem Mund, von diesem Gedanken getrieben, und zwang sich, dem Anblick standzuhalten, bis es in seinen Schläfen zu arg zu pochen begann. Einige endlos lange Sekunden wandte er den Blick ab und schaute den Flocken beim Fallen zu.

Dann betrachtete er wieder die schaurige Geschichte, die sich im Zentrum seines Blickfeldes, jedoch unendlich weit entfernt, da jenseits seiner selbst, am Boden abspielte.

Das Pochen hinter Balders Schläfen war zu einem bohrenden Schmerz geworden. Sein Atem ging unrhythmisch. In der Ferne erklang der Ton nahender Sirenen. Als er das Amulett vom Blut befreite, mit Fingern, die vor Kälte taub waren, und die Glieder der Silberkette, die der Junge um den Hals trug, streckte sich ihm eine verstümmelte Hand entgegen, aus der Knochensplitter ragten. Dann ein Zucken, ein sich Winden, ein Gurgeln, ein Ringen nach Luft. Schrecklich. Der Rotschopf schluckte sein eigenes Blut. Sein Kopf kippte immer wieder zur Seite. Ab und an hob ein rasselnder Atemzug das durch die zerfetzte Kleidung sichtbare, knöcherne Sternum. Balder konnte die leichte Brise spüren, die das verursachte.

Hektisch, im Affekt, mit einer raschen, ruckhaften Bewegung – das Dröhnen von Polizeisirenen tönte in seinen Ohren – wandte er den Kopf des Jungen seinem zu und drückte ihn sanft in den Schnee, in dem Bemühen, Ruhe zu bewahren.

Nun, da ihm das Antlitz im perfekten Winkel zugewandt war, flammte die Illusion wieder auf, jene visuelle Sinnestäuschung, die ihn glauben ließ, seinen Sohn vor sich zu haben, und blieb noch eine Weile.

»Genau so«, hauchte er und behauchte den von einer dünnen Schneeschicht überhauchten Jungen. Beugte sich noch tiefer, noch weiter hinunter. Das kalte, hauchdünne Weiß zum Schmelzen zu bringen mit seinem Atem, brachte er sein altes, knochiges Gesicht zentimeternah an das des Jungen, das nichts weiter war als ein glitschiger, klebrig roter Horror, aus dem angstgeweitete Augen ins Leere starrten. »Nichts ist mehr wichtig, außer dir und mir. Nicht die Mutter, nicht der Vater, nicht die Einsamkeit und der niemals endende Schmerz, den du nie gekannt hast. Lass das Vergangene ruhen, denke nicht an das Morgen, und wisse in diesem Moment, dass niemals jemand dich so vermissen wird wie ich. – Und nun schlaf«, sprach er, kniend, das Haupt des Jungen mit beiden Händen rahmend.

Minutenlang verharrte Balder in dieser Haltung, lag sein Schatten auf dem blutigen Torso und halbierte diesen in zwei vom kalten Nachtlicht beschienene Hälften.

Zu berauschend war der Moment, als dass er sich hätte lösen können. Selbst nicht, als das Sirenengeheul der Einsatzfahrzeuge anschwoll, deren flackerndes Blaulicht das mattgraue Weiß in rascher Abfolge blaudierte. Denn nun, da die Illusion endgültig erstarb, bahnte sich das Knirschen der Wirbel beim Verdrehen des schlanken Kinderhalses einen Weg in sein Bewusstsein. Es beunruhigte ihn vom ersten Moment an. Es wühlte ihn alleine deshalb so auf, weil es ein Geräusch war, das nicht nur ins Gehör drang, sondern über die Hände auch ins Gedächtnis.

Ja, bei Gott, es war nicht das erste Mal, dass er dieses Halswirbelknirschen hörte. Er hatte es schon einmal vernommen und aufs Tiefste verinnerlicht. Und vielleicht war es erwacht, wenn denn ein Geräusch erwachen kann, als er das Gesicht des Jungen seinem zuwandte, mit einer ruckhaften Bewegung, und schallte empor aus den Tiefen des Gedächtnisses, um ihn erneut zu quälen. Aber auch, wenn es nur auf Einbildung beruhte, bloß eine Nachwehe war aus einem traumatischen Erlebnis, das Jahre zurücklag, hatte er das Knirschen der Wirbel nur mit zusammengebissenen Zähnen ertragen können. Und nachdem es verklungen war, musste er ihn halten, aus Furcht, es könne wiederkehren, wenn er den Kopf des Jungen auch nur einen einzigen Millimeter bewegte. Wie zu Eis erstarrt kauerte er in dem kalten Weiß, ganz und gar im gegenwärtigen Augenblick, bei dem gegenwärtigen Kind. Eine gebeugte, schemenhafte, unbewegte Gestalt in der zunehmenden Helligkeit, die Gesichtszüge verhärtet durch die beißende Kälte. Die Scheinwerfer der ankommenden Einsatzfahrzeuge schwenkten über den schneeverhüllten Schotter, die Stahlmasten, die lange Schatten warfen, bis hin zu ihm. Ihre aufgeblendeten Fernlichter erhellten die Szene grell.

Licht drang in seine Augen.

Weit aufgerissen starrten sie in den hellen Schein. Immer noch verharrten seine Hände in dieser verkrampften Haltung. Er wagte nicht, sich zu rühren. Zu groß war die Angst, das Geräusch könne wiederkehren.

Aber es kehrte nicht wieder. Und allmählich löste sich die Anspannung. Unberührt der Tatsache, dass einer der Schließer ihn angeleuchtet hatte und Balder langsam in die Realität zurückfand, machten seine Hände geisterhafte Bewegungen. Es zu Ende zu bringen, glitt die eine von der Stirn des inexistenten Jungen abwärts sanft hinab, während die andere den Kopf halb umfasste, ihm behutsam die Augen zu schließen, die lidschlaglos offenstanden. Die Täuschung war für Sekunden so vollständig, dass Balder die Berührung einen Moment lang tatsächlich körperlich zu spüren glaubte.

Der Schließer, der in dies hin und wieder mit Hand und gelenkem Fingersatz durch den Türspion tun sah, hatte diese Art der Manie stets mit Unverstand bedacht.

Als die Lider des Jungen von selber hielten, hielt die Traurigkeit wieder Einkehr. Balder sah, wo er lag – auf einer harten Pritsche in einer acht Quadratmeter großen Zelle.

Bleich wie der von der Nachtsonne in mattes Weiß getauchte Mond starrte er hoch zur Decke, tanzende Lichtpunkte auf der Netzhaut, in den Ohren das Surren eines nicht zu sehenden Projektors. Letzte Bilder, halb zerfetzte Filmschnipsel drängten in das tiefe Schwarz seiner Pupillen, akustisch untermalt vom monotonen Stiefeln des Wachpersonals auf den labyrinthischen Fluren, dem ununterbrochenen Gewimmer und Gemurmel aus den Nachbarzellen, oder einem unvermittelt durch die Zellenwand dringenden Schrei eines Mitgefangenen.

Schlaflied für einen Toten

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