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Das Licht ging aus und er stand im Finstern. Diese vollkommene Dunkelheit, die ihn umgab, war fein wie Nebel und undurchdringbar. Eine Dunkelheit, die an seiner Netzhaut abprallte, ihn verschluckte. Die Augen weit aufgerissen streckte er die Hand aus nach dem Schalter, der hier irgendwo von der Decke baumelte, ein dürres Stück Schnur mit einer Plastikkugel am Ende. Seine Hand fuchtelte wirr umher und malte unsichtbare Zeichen in die zähe Luft, bis sie die Schnur streifte. Er griff nochmals danach (da war sie ja!), zog mit einem Ruck und die Birne leuchtete auf. Rot, hinter die Gitter einer Kellerlampe gesperrt.

Es konnte losgehen.

Vorsichtig öffnete Les die Entwicklertrommel. Diese Black-Box, in der aus einem Entwicklungskeim schwarzes Silber entstand, das virtuelle Bilder in sichtbare überführte. Für die meisten eine unhinterfragte chemische Reaktion, war es das Wesen des Silberhalogenids, dass sich daraus durch Licht Elektronen abspalten ließen. Es machte Klick, die Blende öffnete sich für den Bruchteil einer Sekunde und die Lichtstrahlen lösten die Elektronen, die auf dem Film Silber-Ionen zu Silberatomen reduzierten. Die Magie der Fotografie, wie er sie täglich vollzog. Früher. Jetzt, im Zeitalter der Digitalfotografie, nahm auch er sich kaum die Zeit dafür.

Zwar hingen keine Gedärme vom Galgen des Krankenhausbettes, trotzdem sah seine schöne Tote so bleich aus, als sei all ihr Blut verspritzt, nachdem sie operiert worden war, mit schmerzhaft scharfen Skalpellen und Scheren. Konnten sie sie denn nicht einfach in Ruhe lassen? Sie war vollkommen, so, wie sie war. Sogar wenn sie gestorben wäre. Oder besonders dann? (Er wagte es nicht, diesem Gedanken zu viel Raum zuzugestehen, aber er war da und schwebte wie ein leiser, modriger Hauch unablässig durch sein Bewusstsein).

Er hatte die Schweißperlen auf ihrer Stirn gesehen. Und das Muttermal über ihrer Lippe. Er hatte es fotografieren müssen, einmal, zweimal. Die Tote hatte Graces Mund.

Irgendwie war es eine seltsame Ironie, dass ausgerechnet er keine Fotos von Grace besaß. Sie hatten sich nur drei Monate gekannt, bevor sie beschlossen zu heiraten. Nach ein paar gemeinsamen Ausflügen hielt er in einer Hähnchenbude um ihre Hand an. Sie hatte eigentlich nur Hunger, doch sie sagte auch „Ja“ zu ihm (nicht nur zum Hühnerbein).

Die Fotos von diesen Ausflügen sind wackelige Schnappschüsse. Portraits wollte sie nie von sich machen lassen, war zappelig, hielt nie still. Manchmal schnitt sie Grimassen und es gelang ihm nicht, ihr mit der Kamera nahe zu kommen. Sie zog sich im selben Moment zurück, in dem er den Fokus auf sie richtete. Ihre gemeinsame Zeit blieb im Dunkeln, im Schatten, in diesem gewissen Zwielicht, dem Grace niemals mehr entkommen würde. Er hatte sich darin eingerichtet wie in seiner Dunkelkammer. Dort verbrachte er die zärtlichsten Stunden des Tages. Das rote Licht schliff die harten Kanten der Realität, seine Bewegungen verlangsamten sich und sein Herzschlag auch. Es war, als strömte die Dunkelheit durch seine Adern und färbte sein Blut schwarz, machte es träge und widerständig, wechselwarm wie das eines dunklen Salamanders, der tief in ihm zu wohnen schien und sein Herz mit schleimigen Füßen trat. Wenn er an den Taumel des übermütigen Glücks dachte, der sie auf das Standesamt führte, wurde ihm schlecht.


Wenn er gefragt wurde (und das wurde er selten), erzählte er etwas von unglücklicher Liebe und einer unschönen Trennung. Das war natürlich gelogen. Aber wie konnte er vom Unglaublichen berichten: dass seine wunderschöne Frau während der Flitterwochen unter einer Flutwelle begraben und hinaus in den weiten Indischen Ozean gezogen worden war?

Er war mit schweren Beinen durch den warmen Sand gerannt, als er bei seinem einsamen Morgenspaziergang den Rückgang des Wassers beobachtet hatte. Bald hörte er weit hinter sich die Welle bereits gegen die vorderen Felsen klatschen, die wie Wellenbrecher die Wasserwand spalteten. Wütend sprengte das Meer weiter vor, er wusste, es würde nicht aufzuhalten sein, sich seinen Weg suchen bis in den hintersten Winkel der Bucht. Die Bambuslatten splitterten, als er die Tür aufstieß und ihre Hand packte.

„Grace, komm mit!“

„Wa-as?“ fragte sie genervt, die Frage wie eine Klinge gegen ihn gerichtet. Das Adrenalin machte ihn immun dagegen, und er zerrte sie einfach an einem Arm aus dem Bett, nackt wie sie war.

In der Tür erstarrte sie, der Strand war fort.

Eine brodelnde, braune Brühe schwappte in Kopfhöhe heran, Palmhohe Gischt vor sich her schleudernd.

Grace begriff, dass sie laufen musste.

Er blieb dicht hinter ihr und drehte sich nicht um. Setzte Fuß vor Fuß in wilder Entschlossenheit, imaginäre Spikes unter den Füßen wie damals, als er bei den Sportmeisterschaften den Achthundert-Meter-Lauf gewonnen hatte. Eine papierene Urkunde nur, jetzt ging es um mehr. Vor ihm lief eine thailändische Familie, Frau im geschürzten Sarong und Mann mit Kind auf dem Arm. Er griff nach Graces Hand, um sie ein wenig mitzuziehen, er spürte bereits ihre nachlassenden Kräfte, dabei hatten sie gerade erst den Palmenhain erreicht. Er verschwendete keinen Gedanken an die Skorpione, als er barfuß zwischen den Stämmen hindurch hastete. Bis zur rettenden Felsenhöhe waren es noch ungefähr hundert Meter. Hinter sich hörte er Schreie. Er widerstand dem Impuls, sich umzusehen, weiter, weiter, hämmerte es in seinem Kopf. Da stürzte die Thailänderin vor ihm hin. Sie hob den Kopf, sah ihn von unten her an und er erkannte die junge Frau von der Strandbar. Nun lächelte sie nicht, blankes Entsetzen war ihr ins Gesicht geschrieben und eine verzweifelte Resignation lag in dem Blick, den sie ihrem Mann mit dem Kind auf dem Arm hinterherschickte. Zu spät erkannte er die Gefahr. Grace stolperte über die Frau und ließ seine Hand los.


Der Film, eingespannt und projiziert, zeigte diesen Mund. Graces Mund im fremden Gesicht. Es war das Gesicht seiner Toten (Ja okay, sie war nicht wirklich tot) und sie trug Graces Muttermal direkt oberhalb der rechten Oberlippe. Zum Glück lächelte sie nicht. Sie schlief. Sie sah sehr ernst aus und Grace sehr ähnlich. Doch beim geringsten Anzeichen eines Lächelns, wenn der eine Mundwinkel zuckte, noch bevor er sich kräuselte, wenn die Spannung in den Lippen stieg, noch bevor sich ihre Kontur veränderte, da würde er sich verraten. Fremder Mund.

Er hatte die junge Polizistin an sich vorbei aus dem Krankenhaus hasten sehen. Hatte den bärtigen, hochgewachsenen Mann mit den grauen Schläfen beobachtet, wie er über die Station lief und die Schwestern und Ärzte befragte, bis auch er sich zurückzog, sich in sein Auto setzte und tat, was ein Inspector eben tut: telefonieren, gähnen, losfahren und Verbrecher jagen. Er hatte gewartet, bis es dunkel wurde und sie wieder schlief. Dann hatte er sich auf die Station geschlichen (wie alle anderen Kliniken waren sie auch dort notorisch unterbesetzt) und war in ihr Zimmer geschlüpft.

Er stellte den Projektor auf den Tisch, legte das Fotopapier auf den Boden und vergrößerte den Mund. Ein mal ein Meter Mund. Er legte sich darauf, wälzte sich durch das Bild und spürte doch keine Erleichterung.

Vielleicht sollte er weinen?

Aber es ist doch schon Jahre her!

Lieber arbeitete er die ganze Nacht hindurch, montierte den Mund in das Stückwerk ihres Gesichtes, an das er sich erinnern wollte, sein Leben lang.


Alle Urlaubsfotos waren vernichtet.

Als sich das Wasser zurückzog, hatte es eine Spur der Verwüstung hinterlassen. Das Paradies war mit einer Glasur von Dreck und Müll überzogen und in der Luft hing der Geruch des Todes. Sein Blick fiel auf den Leichnam einer ertrunkenen Katze, die im Belüftungsgitter des Restaurants hängen geblieben war. Wie im Traum wandelte er durch den Matsch. Es schien eine zerfranste Stille über allem zu liegen, durch die hindurch nur gedämpft die Rufe der Suchenden drangen. Sein Fuß stieß an die Lehne eines umgestürzten Liegestuhls, die aus dem Schlamm herausragte. Er musste dem Billiardtisch ausweichen, der einst in der Eingangshalle des Hotelhauptkomplexes gestanden hatte und nun wie ein alter Seelöwe zwischen den Überresten der Hütten auf der Seite lag. Aus einem seiner Löcher krabbelte ein desorientierter Krebs. Zwischen den Lumpenförmigen Körpern lagen einige Longtail-Kanus wie abgenagte und von dem Untier wieder ausgespiene Knochen verdreht auf dem Strand.


Er beugte sich über die Fotoschale wie über eine Wiege und sah das Gesicht der Beinahe-Toten aus der Flüssigkeit auftauchen wie eine Erscheinung oder ein Gespenst. Er musste dem Drang widerstehen, es mit der Pinzette aus dem Entwicklerbad zu zerren noch bevor es fixiert war, und sie mit dem bleichen Licht der Deckenleuchte zu blenden, bis ihre Konturen auseinanderfielen wie seine Erinnerung an Grace, die niemals gefunden wurde. Es war keine Asche in ihrer eiförmigen Amphore, die sie unter einem Kubikmeter Friedhofsdreck verbuddelten. Wie oft wird diese Erde schon von eifrigen Würmern umgepflügt worden sein auf der vergeblichen Suche nach Graces Körper. Genauso fühlte er sich: ein Wurm, ein elendiger. Es war ihm egal, dass seine Freunde ihn merkwürdig fanden. Ihn einen Getriebenen nannten. Er sah sich als Suchenden.


Hin und wieder wurde er fündig. Bei einem dieser Mädchen, mit denen er häufig zu tun hatte, die auf Knopfdruck lächelten mit aufgeworfenen und breiten Lippen. Die sich vor ihm auszogen, sich in Pose warfen und die er mit dem blinden Auge seiner Kamera fotografierte. Sie drangen nie in sein Innerstes vor, diese feinkörnig schönen Gesichter, nur hier und dort blitzte ein bekanntes Zeichen auf, ein Signal wie aus einer anderen Welt, ein Wink aus dem Totenreich – morituri te salutant – und er erkannte sie wieder, die Einzelheiten. Das schmale Handgelenk, ihren Nacken oder die Wölbung ihrer Wade. Abgesehen von dem Mund mit dem Muttermal war es vor allem der Rücken des Mädchens gewesen und ihr Hintern, die merkwürdig bleich in der dunklen Gasse wirkten, so perfekt und so sehr Grace.

Der schönste dieser Rückenakte hing über der Entwicklerschale. Er zeigte ihre gerade Wirbelsäule vom Steißbein bis zum Nacken, die beiden Grübchen, symmetrisch und nicht zu tief unter dem Beckenkamm. Daneben die Details eines anderen Trapeziusmuskels und die Seitenansicht eines geschwungenen Deltoideus. Sie waren längst getrocknet, er war schon seit Jahren auf der Pirsch.

Jeden Tag könnte ihm Graces Taille oder eine ihrer Fesseln über den Weg laufen.


Er verkleinerte den Mund wieder. Diesen ernsten Mund in Schwarz und Weiß. Er könnte ihn anfüllen mit Farbe und Leben, mit Geschmack und Geruch, könnte die Schleusen der Erinnerung öffnen und dieses fremde Bild kolorieren, bis es beinahe aussähe wie echt. Für diese Arbeit brauchte er Ruhe, absolute Ruhe. Seine Vorstellungskraft war ein sensibles Instrument, das keinerlei Ablenkung vertrug. Manchmal, wenn die alte Frau aus der Wohnung gegenüber mit den schlurfenden Schritten einer Kriegerwitwe die Kellertreppe hinunterkam, und sich in der Waschküche zu schaffen machte, fielen alle seine Sinne aus. Das feuchte Klatschen, mit dem sie die Wäsche ausschlug, vertrieb die Farben und die Gerüche, und er stand mit hängenden Armen im roten Dämmerlicht, allein vor einer Plastikschale mit nassem Papier.

Keine Heilige

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