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Es war ja nicht so, dass Diana blind gewesen wäre.

Sie konnte sogar noch sehr gut sehen (obgleich sie zum Lesen seit einigen Jahren eine Lesebrille brauchte). Sie erkannte, dass dieses Mädchen nicht im Geringsten so aussah, wie Emily. Und dennoch musste sie unentwegt an sie denken, seit die Unbekannte in ihr Zimmer geschoben worden war.

Es waren nicht die Äußerlichkeiten (sie hatte schwarzes Haar, Emily war blond gewesen), sondern eher die Tatsache, dass hier eine junge Frau war, die vor kurzem noch ein Mädchen gewesen war und die noch nicht so ganz in ihre neue Rolle hineingewachsen zu sein schien. Sie war hilflos (zumindest direkt nach der Operation) und Diana konnte ihr helfen. Sie tat das gern und dachte dabei an Emily. Sie wäre froh, wüsste sie, dass irgendjemand dasselbe für Emily getan hätte. Man sollte immer hilfsbereit sein, warum auch nicht? Es gab so viele schlimme Dinge in der Welt, soviel Kummer. Wenn man sich gegenseitig half, dann war alles leichter zu ertragen.

Sie streckte die rechte Hand aus und half der jungen Frau auf.

Alle nannten sie Agathe, sogar die große, freundliche Krankenschwester fing jetzt damit an, obwohl es nur ein willkürlicher Akt der Presse gewesen war, ihr diesen Namen aufzudrücken. Diese selbstherrlichen Journalisten! Diana wurde übel, wenn sie daran dachte, wie rücksichtslos sich diese angeblichen Intellektuellen verhielten. Merkten sie denn gar nicht, was sie der jungen Frau damit antaten? Dass es eine weitere, nur viel subtilere Form der Vergewaltigung war, die sie an dieser wehrlosen, jungen Unbekannten vornahmen, nur um leichter über sie berichten zu können? War ihnen nicht klar, dass sie diese Frau allein durch die Abwesenheit ihrer Brüste definierten, wenn sie die Arme sogar danach benannten? Hartnäckig blieben sie dabei, in jeder verfluchten Zeitung. Wie grausam das war. So wurde ihre Zimmergenossin immer und immer wieder an das ihr zugestoßene Unheil erinnert, sie würde es niemals vergessen können. Diana hoffte, dass die Kleine (sie meinte es zärtlich, nicht herablassend) eines Tages - bald! - auf den Tisch hauen und klarstellen würde, dass sie nicht Agathe war und sich niemals mehr so würde nennen lassen.

Diana seufzte. Frauen wurden immer nach ihren Brüsten beurteilt. Wohin starrten die Männer, wenn sie einer Frau begegneten? Auf die Brüste. Was interessierte sie an einer Frau? Die Größe ihrer Brüste (große Titten, kleine Titten, geile Titten). Diana sah an sich hinunter. Ihr T-Shirt fiel flach auf ihren Bauch herab. Wenn sie nackt war, konnte sie von oben ihren Bauchnabel sehen, was vor der Operation nicht möglich gewesen war. Auch sie hatte beide Brüste verloren. An den Krebs. Aber wer brauchte schon Brüste? Männer, immer nur die Männer. Kinder konnte man auch mit der Flasche großziehen (war sie selbst nicht ein Flaschenkind? Es hatte ihr nicht geschadet).

„Geht es so?“

Mit geübten Griffen raffte Diana die Drainagebeutel ihrer Nachbarin zusammen und hängte sie ihr über den Arm.

„Mir ist noch etwas schwindelig.“

„Das liegt bestimmt daran, dass du so viel Blut verloren hast. Anscheinend mussten sie zahlreiche Blutkonserven in dich reinlaufen lassen. Kleiner Vampir.“

Diana tätschelte ihr die Hand, die sie sich auf den Unterarm gelegt hatte. Den Ellenbogen hatte sie untergehakt. Mit tastenden Schritten bewegten sie sich vorwärts. Diana musste schon wieder an Emily denken und wie sie mit ihr das Laufen geübt hatte. Sie hatte dieselben tapsigen Schritte gemacht, Fuß vor Fuß, und sich verkrampft an ihrer Hand festgehalten. Da war sie vierzehn Monate alt. Zwei Monate später rannte sie schon durch den Flur, ihrem kleinen bunten Stoffball hinterher.

„Es wird nicht lange dauern und du marschierst ganz allein auf die Toilette und wieder zurück. Aus dem Zimmer hinaus, in den Flur und irgendwann auch nach Hause.“

„Ich habe kein Zuhause“, murmelte die junge Frau verdrossen.

„Jeder hat ein Zuhause“, sagte Diana optimistisch. „Auch wenn er vergessen hat, wo es liegt.“

Sie schlurften langsam den Flur hinunter.

„Hey, hey, so flott auf den Beinen, heute?“, rief Pfleger Hank hinter ihnen her. Schwester Jessica winkte aus dem Stationszimmer.

Diana grübelte über das Wesen der Amnesie nach. Was wurde vergessen und was nicht? Wenn es eine Art Hirnschlag war, dann fehlten doch bestimmt auch Teile des Allgemeinwissens. Kannte sie noch die mathematischen Grundrechenarten und wusste, wer Julius Cäsar gewesen war? Was war mit Religion? Hatte sie ihren Gott vergessen, wenn sie je an ihn geglaubt hatte und wenn ja, welcher war es? Wenn es nur diese Art Schutzmechanismus war, die Dr. Mackintosh angedeutet hatte, dann waren die Ausfällte vielleicht wirklich nur auf den Vorfall und die damit verbundenen Personen beschränkt, einschließlich ihrer selbst. Sprechen konnte sie ja noch, aber offensichtlich war Englisch nicht ihre Muttersprache. Wie konnte es sein, dass sie sich mit ihr in einer Fremdsprache unterhielt, ihre Muttersprache aber verloren hatte?

Diana dachte an ihre Schüler. Es waren ausnahmslos Erwachsene, denn Diana wollte keine Jugendlichen unterrichten. Erwachsene begehrten nicht auf, provozierten sie nicht und hatten alle Hände mit sich selbst zu tun. Mit ihren unterbrochenen, gescheiterten oder neu wieder aufgenommenen Lebensentwürfen. Die meisten von Ihnen probten den Neuanfang, wollten ihr Glück noch einmal versuchen. Dabei konnte Diana ihnen helfen, das lag ihr. Sie genoss es, vieler neuer Glücke Schmied zu sein. Sie kamen oft aus fremden Ländern. Diana lehrte sie Englisch und Landeskunde und manche bereitete sie auf den Einbürgerungstest vor.

„Gibt es eigentlich irgendetwas, an das du dich erinnerst?“, fragte sie.

„Nein. Es ist wie Watte im Gehirn. Und es macht mich unglaublich wütend, wenn ich das Gefühl habe, einen Zipfel Erinnerung zu fassen zu bekommen und er sich dann doch in Nichts auflöst.“

„Hast du schon mal von Jesus gehört?“

„Bist du Zeugin Jehovas, oder was?“

Diana lachte.

„Nein! Aber sieh mal, du kennst Jesus! Du weißt, dass es diese Zeugen Jehovas gibt. Du hast nicht dein ganzes Wissen verloren.“

„Das Wissen nicht. Aber meine Persönlichkeit.“

„Na, das wollen wir erstmal sehen.“

Diana bugsierte ihren Schützling in die Sitzecke des Aufenthaltsraums, der um diese Uhrzeit leer war, denn die Besuchszeit begann erst nachmittags. Sie ließen sich auf die bunt gemusterten, gepolsterten Stühle nieder, vor ihnen auf dem Tisch stand ein Topf mit künstlichen Glockenblumen. Sie sahen täuschend echt aus und wirkten trotz ihres munteren Blaus auf Diana staubig und trostlos.

„Was ist drei Mal fünfzehn?“, begann sie ihren Test.

„Fünfundvierzig.“

Die Antwort kam wie aus der Pistole geschossen.

Diana grinste. Und das erste Mal sah sie den Anflug eines Lächelns auf dem Gesicht der schönen Unbekannten. Es machte sie noch schöner.

„Die Hauptstadt Frankreichs?“

„Paris!“

Na, es ging doch. Aber sie wollte es ihr nicht zu einfach machen.

„Die Wurzel aus fünfundzwanzig?“

„Fünf!“

„Präsident von Amerika?“

„Obama.“

„Kennst du Mousse au Chocolat?“

„Ich bevorzuge Creme brulée.“

Diana stutzte.

„Ist dir eigentlich klar, was du da gesagt hast?“

Sie schüttelte den Kopf.

„Magst du keine haute cuisine?“

„Du liebst anscheinend die feine Küche! Französische Küche. Du scheinst kein armes Mädchen zu sein.“

Diana war plötzlich total aufgekratzt. Vielleicht waren sie auf eine wichtige Spur gestoßen? Womöglich konnten sie ihre Identität mithilfe ihrer kulinarischen Vorlieben ermitteln?

„Vielleicht warst du mit deinen Eltern immer Stammgast im Chez Bruce oder Galvin la Chapelle? Klingelt da was?“

„Keine Ahnung“, wiegelte die junge Frau ab und zuckte mit den Schultern. Ihre Stimmung schien schlagartig zu kippen, während sie die Arme abwehrend vor ihrem Körper verschränkte.

„Was ist denn? Macht doch nichts, wenn du dich nicht erinnern kannst.“

Diana legte ihr besänfigend die Hand auf den Oberarm.

„Ich habe keine Mutter mehr und auch keinen Vater.“

Diana sah sie überrascht an und legte den Kopf ein wenig schief.

„Daran erinnerst du dich?“

„Nein. Nein, natürlich nicht. Scheiß auf die Restaurants. Ich meine damit, dass ich keine Eltern habe, weil ich sie vergessen habe. Ich habe einfach alles vergessen. Ich erinnere mich an niemanden mehr, an keine Menschenseele. Dadurch habe ich sie alle verloren. Wer kommt mir zu Hilfe? Wer kümmert sich um mich? Wer liebt mich?“

Sie hatte zuletzt nur geflüstert und den Blick zu Boden gerichtet. Es klang nicht melodramatisch, nicht selbstmitleidig. Es war die nüchterne Feststellung einer bitteren Erkenntnis. Sie war allein, vollkommen allein, weil sie alle Menschen und ihre Beziehungen zu ihnen vergessen hatte. Selbst wenn ihre Mutter, ihr Vater oder ihr Freund durch diese Tür treten und sie umarmen würden, wären sie Fremde für sie. Vollkommen Unbekannte. Konnte es einen einsameren Menschen geben?

Diana fühlte, wie das Mitleid ihr den Hals zuschnürte.

„Das Einzige, was bleibt, ist, mit dem vorlieb zu nehmen, was sich gerade anbietet. Neue Freundschaften zu knüpfen. Zum Beispiel mit einer vom Krebs zerfressenen, alten Schachtel. Du bist noch da. Und ich bin da. Das ist doch schon ein Anfang, oder nicht?“

Sie nickte und lächelte und ließ sich umarmen, das Kinn auf Dianas Schulter. Diana spürte ihren schnellen Herzschlag an ihre Brustwand klopfen, wie den eines knochigen, kleine Vögelchens, das Einlass begehrte. Sie schloss die Augen und ließ es hinein.

Keine Heilige

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