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Hoffentlich ist Mrs. Oliver endlich tot, dachte Jess und bremste. Der alte Fiat ächzte ein wenig, als er an der roten Ampel zum Stehen kam, ein Seufzen, das klang, als käme es geradewegs aus Jess` Brust. Sie war sich nicht ganz sicher, ob sie nicht wirklich geseufzt hatte. Sah sich um, als säße jemand neben ihr. Aber sie war allein. Natürlich war sie allein. Die Straßen waren noch leer, sie schienen im Halbschlaf da zu liegen, hatten sich noch nicht gestreckt und die Nachtlichter ausgeknipst, sich nicht zurecht gemacht für die Menschen, die auf sie hinausströmen und mit ihrer Hektik das Pflaster beleben würden. Ein graues, winterdunkles Betonlabyrinth, dass sie ins heftig pulsierende Herzen Londons führte. Jess fuhr die Strecke mit einer schlafwandlerischen Sicherheit. Sie kannte jede Kurve, jede Ampel, jeden Fußgängerüberweg. Sie wusste, wann sie beschleunigen konnte und wann es sich nicht lohnte, da die Ampel ohnehin gleich umschalten würde. Sie erahnte die Straßenführung auch im Dunkeln und schnallte sich jedes Mal automatisch ab, wenn die Reifen auf das Kopfsteinpflaster trafen, einige Sekunden, bevor sie auf den Parkplatz einbog, die Schranke sich hob und hinter ihr wieder schloss, sodass sie sich manches Mal fühlte, als tappe sie in eine Falle. Seit Jahren fuhr sie diese Strecke täglich, auch am Wochenende, wenn sie Dienst hatte, oder spät abends zur Nachtschicht.

Sie stieg aus und vergaß, die Autotür abzuschließen, bevor sie auf das altmodische Backsteingebäude des King`s College Hospitals zu ging und in einem Seiteneingang verschwand.


„Wieder kein Exitus heute Nacht!“

Hank strahlte sie an, wie Jesus höchstpersönlich. Als habe er einen ihrer Patienten gar auferstehen lassen. Nimm dein Bett und gehund so weiter.

„Nicht der geringste Hinweis auf ungeklärte Todesfälle, Miss Marple.“ Er feixte. Mit seiner blondierten Strähne und einem Kinn, spitz wie ein Handspaten, sah er aus wie ein eifriges Streifenhörnchen.

Mrs. Marple, wenn überhaupt. Ich bin verheiratet, wie du wissen dürftest. Und für dich immer noch Schwester Jessica.

Es war wirklich nicht mehr komisch. Es war nur eine Namensgleichheit und sie hätte daran gewöhnt sein müssen. Immerhin war es ihr Mädchenname, sie trug ihn seit sechsunddreißig Jahren. Und es gab unzählige Marples in England. Ob sie sich alle ihr Leben lang diesen Mist anhören mussten? Vielleicht lag es auch einfach nur an Hank. Daran, dass er es einfach nicht lassen konnte, sie damit aufzuziehen. Danke Agatha, dachte Jess nicht zum ersten Mal (die Queen of Crime war für sie mittlerweile so etwas, wie eine ermüdende alte Verwandte, die sie widerwillig beim Vornamen nannte) und ging sich umziehen.

Hank war, abgesehen von seinen unpassenden Witzen, ein netter Kerl mit einer offensichtlichen Phobie vor Sterbenden. Er gehörte zu der Sorte Kollegen, die anscheinend riechen konnten, wenn eine der Patientinnen kurz davorstand, sich für immer zu verabschieden (wie diese Hunde, die sich Todkranken zu Füßen legten oder die Katzen, die zu Sterbenden ins Bett sprangen). Allerdings mied er im Gegensatz zu den Tieren die Todgeweihten und ging auf Distanz. Er tauschte seinen Dienst unter fadenscheinigen Ausreden und staunte am nächsten Morgen bei der Übergabe, wenn es wieder einen erwischt hatte. Seine gute Laune, weil er in dieser Nacht alle seine Patienten erfolgreich und noch sehr lebendig durchgebracht hatte, umgab ihn wie eine Wolke aufdringlichen Parfüms. Hochmütig und selbstzufrieden, ein erfolgreicher General nach siegreicher Schlacht, stand er neben dem Kurvenwagen.

„Wie geht`s Mrs. Oliver?“, erkundigte sich Jess und zupfte ihren Kittel zurecht.

„Stabiler Kreislauf, aber ihre Lunge läuft voll. Sie haben die Lasixdosis erhöht und ich hab sie regelmäßig absaugen müssen.“

„Shit!“

„Ich dachte du kannst es gar nicht erwarten, dass sie endlich stirbt?“

Jess schnitt ihm eine Grimasse.

„Sie quält sich doch nur. Und ihr Mann hat längst eine Neue. Hast du bemerkt, wie eilig er es immer hat? Er wird eine pompöse Einäscherung organisieren, und danach werden er und der Rest der Welt sie vergessen. Sie wird anstandslos in der Bedeutungslosigkeit ihres Urnengrabes verschwinden. Ich hoffe nur, sie hat ein paar Freundinnen, die ihrer weiterhin gedenken.“

„Hat sie jemals Besuch bekommen?“

„Nein“, gab Jess traurig zu.

„Keine Liebe in dieser Welt“, jammerte Hank theatralisch und schlug sich kurz darauf an die Brust. „Aber dafür aufopferungsvolle Pfleger, die keine Anstrengung scheuen, ein Leben zu retten.“

„So wie du?“

„Genau“, gab Hank zurück. „Viel Spaß im Einsatz, Mrs. Marple“, sagte er und tippte sich zum Gruß an die Stirn, als verabschiede er sich von einem militärischen Vorgesetzten. Dann drehte er ihr seinen dreieckigen Rücken zu und marschierte davon. Dabei machte er erstaunlich kleine Schritte, und sein schmaler, fester Hintern in der engen weißen Hose (ihre Freundin Dolly würde von Knackarsch sprechen) bewegte sich kaum dabei.


Als Jess an das Bett trat, röchelte Mrs. Oliver. Ihr Atem schlug den Schleim zu Schaum und ließ ihn aus ihrem Mund quellen. Als hätte sie einen Schluck Halo genommen oder Ariel oder wie sie alle hießen, diese Waschmittel, die gegen Flecken und Grauschleier eingesetzt wurden. Es sah aus, als versuchte die arme Frau, sich von innen selbst zu reinigen. Und nun erstickte sie beinahe bei dem Versuch, mit weißer Weste vor ihren Schöpfer zu treten. Jess steckte einen Katheter auf und saugte schnell den Schleim aus Mrs. Olivers Rachen ab. Ihre Patientin war Fünfundvierzig, keine zehn Jahre älter als sie selbst und deshalb fühlte sich Jess irgendwie schuldig. Gleichzeitig überlegte sie, was sie selbst wohl bereuen würde oder zu bereinigen hätte, wäre auch sie todkrank und müsste bereits gehen. Die Bilanz war niederschmetternd. Ihre Ehe war gescheitert, soviel war klar. Da gab es nicht wirklich etwas zu bereinigen. Wie sollte man all die kleinen und großen Streitereien, die Missverständnisse und ungeduldigen Vorwürfe nur aus der Welt schaffen? Sie hatten sich zu einem riesigen Müllberg aufgetürmt. Jess hatte das Gefühl, unter all dem emotionalen Sondermüll zu ersticken, wenn sie sich nicht hin und wieder mit einigen scharfen Keifereien den Weg freischnitt. Dann führte sie sich auf, wie früher ihre eigene Mutter. Ja, das hatte sie längst und verbittert erkannt. Aber sie war machtlos dagegen. Wann immer sie mit Andy sprach, klang ihre Stimme unwirsch und mindestens eine Terz zu hoch. Wie eine meckernde Himmelsziege (ein aussterbender Zugvogel, wie ihr Naturforschender Sohn Vincent ihr begeistert erklärt hatte). Kein Wunder, dass sie Andy kaum noch sah. Offensichtlich versuchte er, ihr aus dem Weg zu gehen. Er hatte Konflikte schon immer gern vermieden. Sie konnte ihn verstehen, sie würde sich auch nicht mit sich selber anlegen wollen. Und das, was sie beide früher verbunden hatte, existierte nicht mehr. Es war in den Jahren vertrocknet und zu Staub zerfallen, dieses Gefühl, nur gemeinsam etwas schaffen und sich dem Abenteuer des Lebens stellen zu können. Doch da gab es Vincent. Der wichtigste Posten auf ihrer Haben-Seite. Das Einzige, das ihr und Andy wirklich gelungen war. Der Hauptgrund dafür, dass keiner von ihnen sich eingestehen wollte, dass ihr Leben nur noch aus Routine bestand und sie in ihrer Ehe vollkommen alleine waren.

Mrs. Oliver hustete blasig. Jess strich ihr mit der linken Hand beruhigend über das Schotterfarbene Haar. Während sie mit dem Katheter in ihren Hals hinein und wieder hinausfuhr, wurde jedes Mal die Sauerstoffzufuhr unterbrochen. Die Patientin, das wusste sie, bekam keine Luft, während sie das tat. Sie litt die Anfangsqualen einer Erstickung, vor der Jess sie doch eigentlich bewahren wollte. Mehrmals täglich krümmte sich ihr Körper unter dem hinterhältigen Sauger und im besten Wissen, ihr zu helfen, fühlte Jess sich dennoch als Folterknecht. Letztendlich würde die Lunge ihrer Patientin irgendwann wegen der Metastasen versagen, wegen eines Ergusses oder Sauerstoffmangels. Es war nur eine Frage der Zeit. Das Brodeln ging in ein Zischen über, als die Ziffer der Sauerstoffanzeige wieder über 90 stand und sie den Silikonkatheter endlich herauszog. Ein gemeines, seltsam hinterhältiges Geräusch. Jess ließ die Luft, die sie unwillkürlich angehalten hatte, aus den eigenen Lungen entweichen, holte tief Luft und warf den benutzten Saugkatheter in den Müll. Dann sank sie erschöpft auf einen Hocker.

Was willst du, Jessica Marple, eigentlich wirklich vom Leben, fragte sie sich matt. Krankenschwester, Mutter, Ehefrau (wirklich jetzt? Wie lange noch?), das waren ihre Rollen. Nicht zuletzt Namensvetterin einer berühmten blaustrümpfigen Detektivin, die allerdings reine Fiktion war. Wie vielleicht alles andere auch. War sie eine gute Mutter oder bildete sie sich das womöglich nur ein? Ihre Vorstellungen von sich als der hingebungsvollen Ehefrau und von der alles überdauernden Liebe waren offenbar auch ziemlich unrealistisch gewesen. Angenommen. Erfunden. Vorgetäuscht? Wo zwischen all dem Schein und Sein befand sie sich, bitte schön, denn nun wirklich?

Sie sah auf ihre grünen Gummiclogs und zählte die Löcher darin.

Der ganze Tag lag hellgrau summend vor ihr, wie ein Laufband, von dem sie nicht wusste, wann es anhalten würde. Ob überhaupt. Sie konnte die Mäuse verstehen, die ununterbrochen in ihren Rädern liefen, immer weiter, weil sie sonst nichts Anderes konnten, weil sie den Käfig nicht spüren und nicht sehen wollten, weil sie den Stillstand nicht ertrugen. Genau darum machte sie ihren Job.

Sie stand auf.

Die Visite führte sie von Bett zu Bett. Danach Medikamente richten. Essen austeilen. Ein hektischer Verbandswechsel zwischendurch, dann weiter, mit quietschenden Sohlen.

Am Nachmittag konnte eine junge Frau nach ihrer Krebsoperation wieder auf ihre Station verlegt werden. Jess holte sie aus dem Wachzimmer ab. Als sie die Papiere auf das Fußende des Bettes legte, das schon auf dem Flur zum Abholen bereitstand, und die Patientin, noch ganz benommen von der Narkose, wimmerte wie ein kleines Kätzchen, musste sie unwillkürlich lächeln. Sie legte ihre Hand auf den zerstochenen Handrücken der Patientin und flüsterte in ihr Ohr, um das sich einige verschwitzte Haarsträhnen kringelten: „Alles wird gut.“

Einen Moment glaubte sie selber daran.

Dann musste sie wieder zu Mrs. Oliver zurück.


Es dämmerte schon, als sie aus dem Seiteneingang trat. Sie musste sich beeilen, sie hatte versprochen, Vincent so rechtzeitig bei seinem Freund abzuholen, dass er sich noch das Fußballspiel im Fernsehen ansehen konnte. Erst als sie am Steuer saß, merkte sie es: Das portable Navigationsgerät mitsamt Kabel und Saugnapfhalterung an der Windschutzscheibe war verschwunden. Sie hatte Bildschirmfreie Sicht auf ihre Scheibenwischer, die Kühlerhaube und die vor ihr parkenden Autos der Kollegen.

„Shit“, fluchte sie zaghaft und versuchte, sich an die Adresse des Freundes zu erinnern. Einmal war sie bisher nur dort gewesen, die Familie wohnte irgendwo im East End. Die Kupplung beschwerte sich kreischend bei ihr über den unsanften Start, Jess trat das Gaspedal durch und schoss über das Kopfsteinpflaster. Ein Blick auf die Uhr verstärkte ihr schlechtes Gewissen: das Fußballspiel hatte bereits begonnen.

Jess nahm das Handyklingeln erst nach einer Weile wahr. Sie hatte in Gedanken auf das Lenkrad getrommelt und sich ihren Weg durch das unübersichtliche Straßengewirr gesucht. Es war erschreckend schnell dunkel geworden und sie irrte in ihrem Kleinwagen durch die Nacht, wie ein ausgesetztes Kind im Märchen. Das abendliche London war der große, schwarze Wald und auch die riesigen Leuchtreklamen änderten nichts daran, dass sie sich verloren fühlte. Sie hatte gerade die Tower Bridge hinter sich gelassen. Hatte sie sich wirklich so restlos und vollkommen verfahren? In einer holperigen Sackgasse wendete sie und griff dann nach ihrem Handy, das empört tutete. Es zeigte Vincents freches Teenagergrinsen.

„Ich bin gleich da.“

„Mum, du bist viel zu spät! Wo bleibst du überhaupt? Schon auf der Cambridge Heath??“

„Ja, Nein. Ich meine, ich weiß nicht.“

Anscheinend war sie eine zu früh abgebogen. Jess kurbelte mit einer Hand am Lenkrad und fädelte sich schnell hinter einem der roten Doppeldecker-Busse wieder in die Hauptstraße ein. Ein gedrungenes Taxi bremste hinter ihr und hupte.

„Ich glaube ich bin noch auf der Whitechapel Road.“

„Ist das weit von der Cambridge Heath?“

„Muss ich die rechts oder links runterfahren?“

„Mensch, Mum! Du hast ja überhaupt keine Peilung!“

Nein, die hatte sie nicht. Hätte sie aber gerne. So ein Peilsender wäre sogar genau das, was sie schon immer haben wollte. Sie hätte ihn Vincent bereits als Säugling unter die Haut pflanzen sollen, damit sie immer wüsste, wo er sich aufhielt. Dann hätte sie niemals Angst haben müssen, wenn er allein zur Schule und spät nachmittags wieder nach Hause ging. Hätte niemals an Kindesentführung und große böse Männer denken, sondern einfach nur auf ein beruhigendes Blinken auf irgendeinem Monitor blicken müssen. Und sie hätte ihn jetzt, verdammt noch mal, schneller gefunden, in diesem Straßengewirr! Aber für ein Handy mit GPS-Funktion war einfach nicht genug Geld da. Vielleicht sollte sie etwas mehr Geld in die Sicherheit ihres einzigen Kindes investieren und sich selbst einfach ein paar Bücher weniger kaufen?

„Mum, hörst du mich? Du musst die Whitechapel Road weiter runter und dann links in die Cambridge Heath. Nach circa einem Kilometer wieder links und gleich die nächste rechts.“

Das hörte sich einfach an. Das würde sie schaffen.

„Hast du mich verstanden, Mum?“

„Ja, hab ich.“

„Und wie lange brauchst du noch?“

„Kann sich nur noch um Lichtjahre handeln“, versuchte Jess zu scherzen, als sie endlich richtig abbog.

„Noch neun Komma fünf Billionen Kilometer?“

Woher hatte der Junge das nur? Wer wusste schon, wie lang (oder weit?) ein Lichtjahr war? Wie um Himmels Willen konnte er sich nur so ein Zeug merken?

„Nein, so weit bin ich wirklich nicht entfernt.“

„Gedanklich schon“, maulte Vincent, „mindestens.“

Dann legte er auf.

Keine Heilige

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