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Das Licht war gedämpft und der dicke Teppichboden schluckte jeden ihrer Schritte. Trotzdem sah Jan hoch als sie eintrat, als habe er sie gewittert.

„Du bist zu spät.“

Er sagte das ganz ruhig. Doch unter seinem Blick stellten sich die Härchen auf ihren Unterarmen senkrecht. Natürlich war er schon da. Er war immer schon da, er hasste Unpünktlichkeit. Nervös warf Xenia einen Blick auf die Uhr. Sie war nur vier Minuten zu spät, aber nach seiner Miene zu urteilen waren das vier Minuten zuviel.

„Tut mir leid, Darling.“

Sie lächelte, während sie ihm einen Kuss auf die Wange hauchte und hoffte, er würde ihren schnellen Puls nicht auf ihren Lippen spüren.

„Setz dich“, sagte er, als sie sich zu ihm hinab beugte.

Xenia hatte die oberen Knöpfe ihrer Bluse gerade weit genug aufgelassen, so dass er das Aufblitzen ihres roten BHs würde erkennen können. Er schmiegte sich perfekt an die vollen Rundungen ihrer Brüste, ein Anblick, von dem sie wusste, dass Jan gar nicht genug davon bekommen konnte.

In ihrer Klasse in Belgrad war sie das erste Mädchen gewesen, das Brüste bekam. Richtige Brüste, nicht solche kleinen Mirabellen. Sie wuchsen schnell und Xenia entwickelte sich noch vor ihrer Cousine Roxana zu etwas, das ihr Onkel als „eine richtige kleine Frau“ bezeichnet hatte (wieder ein Grund mehr zur Eifersucht). Mithilfe dieses Busens gelang es ihr, ihre schlechten Kenntnisse in Algebra auszugleichen. Denn wenn Herr Kristic Xenia aufrief und sie wie immer ziemlich ahnungslos an der Tafel stand, hatte sie sich stets vorgebeugt, um sich am Knie zu kratzen oder ihren Strumpf hoch zu ziehen und ihm einen langen Blick auf ihre weichen, runden Brüste gewährt, die sie wie zwei große samtige Pfirsiche vor sich hertrug. Er hatte dann irgendwie wehmütig gelächelt, geseufzt und sie wieder auf ihren Platz geschickt.

„Sehen Sie sich die Formel doch bitte noch einmal an“, hatte er gesagt und es hatte geklungen, als habe er einen Frosch verschluckt.

Xenia rang sich ein weiteres Lächeln ab und tätschelte Jans manikürte Hand. Sie musste gute Miene zum bösen Spiel machen. Das Essen, erstmal mussten sie essen, dachte sie und nahm geziert ihm gegenüber auf einem der rot gepolsterten Stühle Platz. Um sie herum viel vergoldeter Stuck, satte Teppiche und Stofftapeten die aussahen wie die Desserts, die hier serviert wurden: blumig, köstlich und wie von Puderzucker übersät. Dieses Restaurant hatte einen Stern oder eine Kochmütze, was wusste sie schon, es war jedenfalls sehr fein und man sollte besser nicht zu spät sein, wenn man sich dort mit Jan traf. Denn darüber konnte er sehr böse werden und das würde er ohnehin noch im Laufe des Abends.

„Hast du schon gewählt?“

Ihre Stimme klang in ihren Ohren zu hell und sie musste einem Impuls widerstehen, aufzuspringen und auf die Toilette zu laufen. Vielleicht war ihr Make-Up verwischt, der Lippenstift abgeblasst. Sein Rot erinnerte sie immer an Blut, schmeckte aber weniger metallisch. Eigentlich nach gar nichts. Xenia kannte den Geschmack des Blutes. Sie presste nervös die Lippen aufeinander und stülpte sie nach innen, um die Farbe gleichmäßig zu verteilen. Sie wusste, dass sie gut aussah. Manche sagten sogar, sie sei schön. Jan sagte das auch. Er sagte es ihr jeden Morgen und jeden Abend und Jan musste es ja wissen. Er war Geschäftsmann und hatte beruflich viel mit Frauen zu tun. Er besaß einen Club. Und manchmal dachte Xenia, dass er sie wirklich liebte. Dass er sie brauchte und ohne sie nicht leben konnte, so wie er es ihr immer zuflüsterte, wenn er nachts an einer ihrer großen weichen Brüste lag und ihm die Tränen über das Gesicht liefen. Er schniefte dann und jammerte und sie wiegte ihn in ihren Armen wie ein Baby und freute sich, dass er sich nicht scheute, ihr seinen weichen Kern zu offenbaren. Ihr wurde ganz warm ums Herz, wenn sie daran dachte. Und ein wenig mulmig. Vielleicht, überlegte sie und nahm das Glas Champagner, das der Kellner ihr reichte, sollte sie sich die ganze Sache doch noch einmal durch den Kopf gehen lassen.

„Sieh dir die Karte an“, sagte Jan und faltete sie vor ihren Augen auseinander.

Xenia begann zu lesen, während der Kellner die Flasche Champagner knirschend in einen eisgefüllten Sektkühler stieß. Sie musste sich möglichst rasch eine solide Grundlage verschaffen, von der aus sie argumentieren könnte. Ein leerer Bauch diskutiert nicht gern. Oder anders: wenn er hungrig war, wurde Jan immer aggressiv. Und das galt es zu vermeiden.

„Nicht so verbissen schauen, Honey! Die Karte ist doch nicht auf chinesisch geschrieben.“

Er hob sein Glas.

„Auf unseren gemeinsamen Abend!“, sagte Jan und bleckte die Zähne.

„Auf uns!“, antwortete Xenia und strahlte.

Sie war überrascht gewesen, als Roxana und sie ihm vor einem Jahr durch einen Freund ihres Onkels in Belgrad vorgestellt wurden. Sie wusste, dass er fünfundzwanzig Jahre älter war als sie selbst. Ein viertel Jahrhundert! Länger als sie überhaupt schon auf der Welt war. Und sie hatte sich diesen Ausländer wirklich, wirklich alt vorgestellt. Aber sein Haar war noch nicht grau, er wirkte sportlich und schlank. Damals fiel ihr seine gute Figur und vor allem der Porscheschlüssel auf, den er ungeduldig zwischen den Fingern drehte. Porsche gab es in ihrer Heimat nicht. Extravagante Sportwagen hatte sie bisher nur auf den Fotos gesehen, die ihr Bruder aus irgendwelchen Zeitschriften ausgeschnitten und über sein Bett gehängt hatte.

Es war ein schmales Bett gewesen und hatte im Keller des schäbigen Häuschens ihres Onkels gestanden. Der Keller war dunkel und feucht und Xenia fröstelte jedes Mal, wenn sie das Zimmer ihres Bruders aufsuchte, das nicht mehr war als eine Abstellkammer, an deren Wänden der Schimmel klebte (unter den Sportwägen, versteht sich). Sie sahen sich selten, ihr Bruder musste in einer Fabrik arbeiten, um zum Lebensunterhalt beizutragen.

„Oder wollt ihr wieder ins Waisenhaus?“

Diese Frage wurde Xenia und ihrem Bruder immer dann gestellt, wenn einer von ihnen dem Onkel oder der Tante widersprach. Seit sie sich erinnern konnte, lebten sie bei ihnen unter dem Damoklesschwert der Drohung, wieder in eines dieser Heime abgeschoben zu werden, in dem die Kinder autistisch im Takt ihres Herzens den Kopf gegen die Gitterstäbe ihrer Bettchen schlugen. Bettchen, die sie sich mit zwei anderen Kindern teilen musste. Bettchen, die sie auf ihren verkrüppelten oder entkräfteten Beinchen nie wieder würden verlassen können. Niemand kam in diese Heime, um die Waisenkinder zu adoptieren. Sie waren lebendige Tote, die sich nur in das stille Reich ihrer Köpfe zurückziehen und dort ein wenig Ablenkung finden konnten, bis sie an Typhus oder Ruhr, an Salmonellen, Blutvergiftung oder einfach nur an Einsamkeit und gebrochenem Herzen starben. Ihr Bruder hatte für Xenia gekämpft. Hatte gearbeitet, seit sie bei dem Onkel wohnten. Doch er konnte sie nicht vor allem beschützen.

Wenn ihr Onkel nachts in Roxanas Zimmer kam, tat Xenia immer so, als ob sie schliefe. Er rüttelte sie wach und machte die Nachtischlampe an. (Was für einen gesegneten Schlaf unsere kleine Roxana doch hat, wurde er nicht müde zu beteuern, wenn das Thema auf die Nachtruhe kam.) Dann zog er einen Lolli hinter seinem Rücken hervor. Er zeigte Xenia, auf wie viele unterschiedliche Arten man an einem Lolli lecken konnte und als sie danach greifen wollte, hielt er ihre kleine Hand fest und legte sie in seinen Schritt. Er lehrte sie, ihn wie einen Lolli zu behandeln. Und erst wenn sein Stöhnen verebbte, bekam sie endlich die Süßigkeit. Sie drehte sich zur Wand und steckte den Lutscher schnell in den Mund, um den ekligen Geschmack, den der Onkel auf ihrer Zunge hinterlassen hatte, zu vertreiben.

Xenia stürzte den Rest ihres Champagners hinunter und fuhr sich mit der Zunge über die Schneidezähne. Kein Wunder, dass sie Karies gehabt hatte, als sie hier ankam. Der erste Gang mit Jan führte sie zum Zahnarzt.

„An der Zahnhygiene zeigt sich, wie sauber der Mensch ist“, sagte Jan beinahe jeden Abend, wenn er die Zahnseide durch die Zwischenräume seiner Molare zog und dabei im Spiegel aussah, wie ein gefährliches Monster.

„Das Getränk der Götter“, unterbrach er ihre Gedanken und stellte sein ebenfalls leeres Glas ruckartig neben ihrem ab. Er musterte sie eingehend.

„Alles in Ordnung?“

„Natürlich, Darling.“

Sie warf noch einen schnellen Blick in die Karte und legte sie entschlossen zur Seite.

„Ich nehme Austern, sautierten Lachs, Kalbsmedaillon auf Safrankartoffeln und anschließend Champagnersorbet an warmem Nougatfondant.“

Jan nickte zufrieden und der Kellner entfernte sich mit einer angedeuteten Verbeugung.

Jan hatte sie da rausgeholt.

Zwölf Jahre lang war Xenia von Roxana gepiesackt worden („Sie ist wie eine Schwester zu ihr“, sagte die Tante, wann immer die Sprache auf die beiden Mädchen kam) und sie wusste ganz genau, wie Aschenputtel sich gefühlt haben musste.

An dem Blick, den sie ihr jedes Mal am nächsten Morgen zuwarf erkannte sie, dass Roxana damals in den Onkel-Nächten wach gewesen war und sich nur schlafend gestellt hatte. Es überraschte sie, dass sich darin kein Ekel spiegelte, sondern Hass und Eifersucht. Sie erkannte darin den Schmerz darüber, dass ihr Onkel Xenia der eigenen Tochter vorzog. Und eine wilde Wut auf diese Cousine, die sich in Roxanas Leben und in ihr Zimmer gedrängt hatte, die ihr die Liebe ihres Vaters raubte und seine nächtliche Aufmerksamkeit auf sich zog. Sie vergalt es Xenia mit tausend kleinen Gehässigkeiten. Und einigen großen Gemeinheiten.

Zum Beispiel die Sache mit Krishna, ihrem Hamster. Xenia hatte sich so gefreut, als eine Freundin ihr das kleine Tier in einem Schuhkarton überreichte. Roxana liebte es, ihn ihr abzujagen und an einer seiner rudimentären Pfoten im Kreis zu schleudern. Sie drohte damit, ihn loszulassen, wenn Xenia ihr nicht jeden Wunsch erfüllte. Und als ihr an einem heißen Sonntagmorgen die Limo, die Xenia ihr brachte, zu warm war, ließ sie ihn fliegen. Krishna klatschte gegen die Hausmauer aus Beton und lag hechelnd am Boden. Bevor Xenia ihn aufheben konnte, trat Roxana einmal kräftig mit ihrem Absatz zu.

„Gnadentod“, sagte sie kalt. „Du brauchst mir nicht zu danken.“

Wäre ihr Bruder nicht gewesen, Xenia wäre vermutlich weggelaufen. Doch er machte ihr klar, dass ein Leben auf der Straße für Mädchen nichts Anderes als Gewalt, Drogen, Missbrauch bedeuteten. Sie hatte ihm nicht die Illusionen nehmen wollen, indem sie ihm vom Onkel erzählte.

Dass Jan sich Zeit mit der Weinkarte ließ, erleichterte sie. Es lenkte ihn von ihr ab und sie beobachtete ihn, wie er mit Kennermiene das Angebot unter die Lupe nahm, sich mehrere Flaschen kommen und entkorken ließ, den Weinkelch schwenkte, seine lange Nase hineinhielt, schnupperte und dann einen kleinen Schluck nahm, den er behaglich von einer Wange in die andere schob. Ein Wunder, dass er nicht mit dem Wein gurgelte, dachte Xenia. Sie fand ihn lächerlich. Doch sie blieb auf der Hut.

Dabei war sie Jan wirklich dankbar gewesen.

Dieser Freund eines Freundes schien ein guter Mann zu sein. Er sprach ihre Sprache, zumindest in groben Brocken, und er war Niederländer. Er suchte für gut bezahlte Jobs im Ausland noch junge Mädchen. Roxana sollte gehen, entschied der Onkel, und Xenia sollte sie begleiten. (Was hatte man nicht schon für schlimme Dinge gehört, die den Mädchen dort drüben widerfuhren.) Xenia freute sich auf dieses Land, zu dem ihr nur die Farbe Orange und die Tatsache einfiel, dass es dort eine Königin gab, die gern große Hüte trug. Natürlich war es eine Überraschung gewesen, als sie stattdessen nach England kam. Das Land war ihr fremd vorgekommen und düster und die Königin dort trug meist nur kleine Hüte. Die Sprache erschien ihr härter, als die paar Brocken Niederländisch, die sie gelernt hatte, die Blicke der Menschen auf den Straßen auch. Nur Jan war anders. Anfangs.

Er hatte Roxana und Xenia ein Glas Champagner nach dem anderen spendiert und irgendeinen amerikanischen Schriftsteller zitiert, der anzüglich aber bewundernd über Brüste schrieb. Er habe, so sagte Jan ganz begeistert, sogar ein ganzes Buch darüber verfasst, wie sich ein Mann eines Tages plötzlich in eine riesige, siebzig Kilo schwere weibliche Brust verwandelte.

„Was für eine Vorstellung!“

Dabei hatte er ununterbrochen auf ihr Dekolleté gestarrt, das zugegebenermaßen sehr weit ausgeschnitten war, auf Rat von Roxana. Und Xenia hatte sich geschmeichelt gefühlt und seine Hand zugelassen, die sich bald um ihre Taille herum wand und auf der anderen Seite wie zufällig den unteren Rand ihrer linken Brust streifte.

„Was stocherst du so? Kein Appetit?“

Jan sah sie über die Austern hinweg an. Xenia hatte gar nicht gemerkt, dass sie noch immer den Zitronensaft in der Schale verrührte. Dem armen Tier musste schon ganz schwindelig sein. Aber egal, sein Dasein war ohnehin beendet, dachte sie grimmig. Sie musste sich zusammenreißen.

„Doch. Ich liebe Austern!“, sagte sie und schluckte kräftig.

Anschließend verputzte sie die Hauptspeise bis auf den letzten Krümel.

„Wenn du entschuldigst. Ich muss mich kurz frisch machen.“

Sie schaffte es gerade noch in die Kabine, bevor sie sich übergab. Sie fühlte sich schwach, aber sie kämpfte dagegen an. Sie hatte es versprochen. Also würde sie es durchziehen.

Schnell spülte sie den Mund aus, zog die Lippen nach und wischte einen Rest Lippenstift vom rechten Schneidezahn ab. Jetzt musste sie sich aber wirklich beeilen. Sie hatte sich schon seit Wochen vorgenommen, mit ihm zu sprechen. Sie hatte es nicht nur versprochen, es war auch ihre einzige Chance, von ihm fort zu kommen.

Das erste Mal, als ihm bei einem Streit die Hand ausrutschte, hatte er sich noch entschuldigt. Sie schmeckte Blut, salzig und metallisch und sie war erschrocken, wie sehr sie der Geschmack an daheim erinnerte. An das hässliche Haus in Belgrad, an die Ohrfeigen ihrer Tante und an ihre aufgeschürften Knie, wenn sie wieder lange vor ihrem Onkel hatte knien müssen. Sie hatte dann mit der Zunge über die feinen Blutperlen geleckt, die aus der Schürfwunde auftauchten wie kleine Rubine im Netz des Edelsteinsuchers. Das Blut vermischte sich mit den Tränen, die sie tapfer hinunterschluckte. Es war nicht viel anders jetzt, auch wenn sie kein Kind mehr war. Trotzdem hatte es sie überrascht. Sie hatte nach Luft geschnappt, das erste Mal. Danach hatte er sie immer öfter geschlagen. Als habe er Gefallen daran gefunden oder als habe er eine Maske fallen lassen, die ihm nicht länger zu passen schien. Das Blut im Mund verursachte ihr Übelkeit und ein wundes, rachsüchtiges Monster labte sich daran und wuchs in ihr heran.

Sie stellte sich immer häufiger vor, wie sie Jan den Gürtel, den er sich wütend aus der Hose zerrte, entreißen und gegen seine Schläfe schleudern würde, anstatt seine Schnalle wieder und wieder auf dem Rücken, der Hüfte, den Schultern zu spüren. Sie überlegte, welches Geräusch es wohl geben würde, wenn er zu Boden ginge und sie mit einem Absatz ihrer hohen Stilettos zwischen seine Beine treten und seine Hoden zerquetschen würde. Ob überhaupt etwas anderes als sein Geheul zu hören wäre (vorausgesetzt, er würde nicht sofort in Ohnmacht fallen, man wusste ja, wie empfindlich Männer sein können).

Xenia schüttelte diese Vorstellung ab, atmete tief durch, strich sich die glitzernde Bluse über den Hüften glatt und verabschiedete sich von ihrem Spiegelbild.

Als das Champagnersorbet an warmem Nougatfondant gebracht wurde, war ihre Kehle wie zugeschnürt. Denn der Nachtisch war genau der richtige Zeitpunkt, endlich damit herauszurücken. Sobald sich eine warme Süßspeise in seinem Magen ausbreitete, setzte Jan ein zufriedenes Grinsen auf und seine Aufmerksamkeit war weniger gespannt. Es war, als rollte sich sein inneres Alarmsystem wohlig zusammen und begänne zu schnurren. Dieser warme Nougatfondant war ihr einziger Verbündeter. Sie musste es wagen.

„Ich würde gern nach Hause, Jan. Nach Belgrad. Ich weiß, ich könnte dir nützlich sein dort. Ich kenne viele Mädchen.“

Jetzt war es heraus.

„Heimweh?“ Seine linke Augenbraue hob sich zackenförmig an, während er genüsslich weiterkaute.

„Ich bin nach England gekommen, um Geld zu verdienen. Vielleicht eine Ausbildung zu machen. Doch bisher liege ich dir nur auf der Tasche. Ich will dir das nicht weiter zumuten. Ich habe gedacht, ich könnte mich revanchieren. Ich bin nicht dumm. Ich weiß, du hast sehr viele Geschäftspartner. Wenn du mich lässt, könnte ich dir vielleicht bei deinen Geschäften helfen. “

„Du willst also Geld verdienen? “

Er lachte laut und einige Leute am Nachbartisch drehten sich kurz um.

„Warum hast du das nicht gleich gesagt? Roxana würde liebend gern mit dir tauschen, da bin ich sicher.“

Roxana arbeitete in seinem Club. Xenia war sich nicht sicher, was genau sie dort tat. Sie hatte sie dort tanzen sehen, das einzige Mal, an dem Jan sie mitgenommen hatte. Er hielt sie fern von seinem Unterhaltungsbetrieb, wie er den Club nannte. Er wollte sie ganz für sich. Vielleicht konnte sie das zu ihrem Vorteil ausnutzen.

„Sonst gehe ich fort, verstehst du?“

Er sah sie nur an. In diesem Moment erkannte sie an seiner Ruhe, dass sie ihn falsch eingeschätzt hatte. Vollkommen falsch.

„Ich glaube, du hast hier Einiges nicht ganz verstanden. Ich habe deinen Pass und ich habe das Geld. Ich werde dir nicht erlauben zu gehen.“

Er nahm die Stoffserviette von seinem Schoß und tupfte sich die Lippen ab. Er lächelte, als er sie wieder sinken ließ.

„Aber was deinen Wunsch angeht, ein wenig Geld zu verdienen, kann ich dir entgegenkommen. Ich hätte da ein paar sehr interessante und kurzweilige Aufträge für dich. Es wird dir gefallen. Vertrau mir.“

Er stand auf und blieb neben ihrem Stuhl stehen, bis auch sie sich erhoben hatte. Dann fasste er sie mit links am Unterarm und sein Griff schien bis auf den Knochen zu gehen. Mit der rechten Hand unterschrieb er im Hinausgehen die Rechnung. An der Garderobe half er ihr selbst in den Mantel, der ihr auf einmal wie eine Zwangsjacke vorkam. Vor der Tür stand schon sein Wagen. Aber er stieg nicht ein. Er nickte Omar, seinem Chauffeur, der stets ein elfenbeinernes Lächeln im dunklen Gesicht trug, zu und verdrehte Xenia den Arm, sodass sie ihm folgen musste, wollte sie sich nicht einen Unterarmknochen brechen lassen.

In der nächsten Querstraße hielt Omar an und Jan öffnete ihr den hinteren Wagenschlag. Für einen kurzen Moment dachte sie, er hätte ihren Vorstoß nicht ernst genommen und alles ginge so weiter wie früher. Er würde ihr mit einer galanten doch etwas clownesken Bewegung in den Wagen helfen, einen taffen Spruch ablassen und sie zurück in seine Wohnung bringen. Doch dann traf sie sein Tritt in die Kniekehlen, während er sie gleichzeitig von hinten auf die Rückbank schubste. Wo hatte er nur plötzlich die Kabelbinder her?

Xenia überlegte fieberhaft, was Jan sonst eigentlich mit Kabelbinder anfing (Leitungen fixieren? Andere Frauen fesseln?) als seine Faust ihre Gedanken zum Erliegen brachte. Es donnerte und dröhnte in ihrem Kopf und sie schmeckte wieder ihr eigenes Blut. Aber sie war noch bei Bewusstsein, als Omar mit quietschenden Reifen davonfuhr.

Sie verhielt sich still, es war nur eine kurze Fahrt. Die pinke Leuchtschrift des Jasmin flirrte über ihrem Kopf in der Nacht, als sie vor dem Club anhielten.

Jan und Omar verließen den Wagen. Xenia hob vorsichtig den Kopf. Sie sah durch die Scheibe Roxana an der Wand neben dem Eingang lehnen und eine Zigarette rauchen. Sie trug hohe Stiefel, einen zu kurzen Rock und sah aus wie eine durchschnittliche Prostituierte. Erst in diesem Augenblick wurde Xenia klar, wie naiv sie gewesen war. Tänzerin? Das erste Mal in ihrem Leben tat Roxana ihr wirklich leid. Aber Roxana war stark und sie war hier. Sie würde ihr helfen. Sie hatten schon zu viel gemeinsam durchgemacht. Sie waren eine Familie, zumindest das.

„Roxana!“, rief sie leise und klopfte mit ihrer Stirn gegen das Fenster, auf dem sie eine klebrige, dünne Blutspur hinterließ.

„Roxana!“

Ihre Cousine hob den Kopf und ihre Augen trafen sich. Sie würde herüberkommen und sie befreien. Sie würde ein gutes Wort für sie einlegen bei Jan, wenn er wiederkam. Sie würde irgendetwas tun, um sie aus dieser Situation zu befreien, von der nicht sicher war, wie Xenia daraus hervorgehen würde: tot oder lebendig.

Roxana rührte sich nicht. Sie lächelte ihr zu und machte eine kleine Bewegung mit ihrer Zigarette. Dann kamen Jan und Omar zurück.

„Hast du endlich erkannt, was für eine falsche Schlange sie ist?“, gurrte Roxana und streichelte das Revers von Jans anthrazitgrauem Unternehmer-Anzug.

Er stieß sie ohne Erwiderung von sich und stieg vorne neben Omar ein. Roxana sah dem Wagen beleidigt nach. Dann hob sie träge die Hand und winkte Xenia zum Abschied zu.

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