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Prolog

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Dana hielt sich die Augen zu. Granaten explodierten in den Häusern.

Dana zitterte so stark, dass ihre Hände immer wieder verrutschten und die Sicht auf das Unbeschreibliche freigaben. Sie sah sie rennen, wie Kaninchen. Drei Frauen und zwei Männer. Die Männer fielen zuerst hin. Als sie zögerte, hatte die eine der Frauen schon verloren. Die andere rannte weiter, sie bekam eine Kugel ins Bein. Dann lagen sie vor den Soldaten im Schmutz. Dana konnte sie wimmern hören. Sie kniff die Augen zusammen und trotzdem konnte sie die Bilder nicht loswerden. Sie hatten sich in ihre Netzhaut gebrannt wie die Magnesiumlichter an Silvester, die sie auch dann noch hatte sehen können, als sie nach dem Feuerwerk mit geschlossenen Augen glücklich in ihrem Bett gelegen hatte. Ihr Bett war gerade in die Luft geflogen. Und das Gefühl, dass sie in diesem Moment überkam, war kein Glück. Dana hatte sich noch nie so gefühlt. Innerlich kalt und schmerzhaft wund, sie fühlte sich fiebrig vor Angst und gleichzeitig war ihr speiübel.

Aber sie hatten sie nicht entdeckt.

Es hatte zweimal laut gekracht, da hatte ihre Mutter sie vom Stuhl gerissen, auf dem sie gesessen war, um am Tisch ihre Hausaufgaben zu machen. Obwohl seit Wochen die Schule ausfiel, hatte ihre Mutter darauf bestanden, dass sie weiterhin die Buchstaben übte. Jeden Tag einen neuen. Sie hatte das Alphabet schon zweimal durch und heute war sie wieder bei K angelangt. Viele Wörter mit K kannte sie noch nicht. Katze. Kaninchen. Kohl. Kaffee. Krieg.

Krieg! Krieg! Krieg!

Es hämmerte in ihrem Kopf, dieses Wort, dass sie gar nicht aufgeschrieben und trotzdem in den letzten Minuten unaufhörlich gedacht hatte, während sie darauf wartete, dass ihre Mutter zu schreien aufhörte, dort draußen.

„Lauf weg, schnell! Versteck dich!“, hatte sie ihr zugerufen und sie aus der Hintertür geschubst, während sie selber die Vordertür nahm in dem Moment, als das Nachbarhaus explodierte. Kurz darauf war auch ein Geschoss in ihr Zuhause eingeschlagen.

Geschoss, das schreibt man mit G, dachte Dana und überlegte, ob es von jedem Buchstaben gute und schlimme Worte gab, oder ob einer unter ihnen vielleicht ungefährlich war. Ein Buchstabe, mit dem es nur wenige Wörter gab. Der so unbedeutend war, dass man mit ihm einfach keine schlimmen Worte bilden konnte. Vielleicht das X?

Xylophon. X-Beine.

Es war plötzlich sehr still da draußen.

Dana öffnete die Augen und spähte zwischen ihren Fingern hindurch. Sie sah die breiten Rücken der Männer, die leblose Körper hinter sich herzogen und unterdrückte ein Schluchzen. Sie stopfte ihre Faust in ihren Mund, als das Weinen nicht aufhören wollte, denn eines hatte sie verstanden, obwohl sie noch nicht lesen und noch kaum schreiben konnte: diese Männer würden sie töten. Genauso, wie sie ihre Mutter (sie musste in ihre Knöchel beißen, um nicht zu schreien) und alle aus ihrem Dorf getötet hatten.

Dana dachte schnell an den letzten Sommer. Als die Luft weich und warm und sicher war. Bis abends um zehn Uhr blieb es hell und sie durfte mit ihren Freundinnen Verstecken spielen, bis die Dunkelheit leise heran kroch. Sie war immer die letzte gewesen, die gefunden wurde, die unbestrittene Prinzessin des Versteckspiels. Ihre Freundinnen waren dann nach und nach alle weggezogen, nur ihre Mutter blieb und wartete auf den Vater, der manchmal da war und häufig fort.

Dana konnte die Männer nicht mehr sehen. Sie zog das rechte Bein zu sich heran. Sie hatte darauf gesessen und es war eingeschlafen und kribbelte ganz fürchterlich. Vielleicht könnte sie kurz aufstehen, es ausschütteln. Da hörte sie wieder Schüsse. Ein empörtes Gackern erstarb in der nächsten Salve und Dana wusste, nun waren auch die Hühner tot. Erschöpft sank sie zurück. Natürlich hätten die Hühner sie auch nicht retten können. Sie waren keine Super-Hennen, die plötzlich Zauberkräfte entwickeln und die Männer mit einem Bann belegen oder zu Stein erstarren lassen würden. Sie waren keine verwunschenen Krieger einer höheren, großzügigen Hühnermacht, einer Königshenne, die Mitleid mit den Menschen und mit ihr, Dana, im Besonderen hatte. Die sie adoptieren und in ihre Hühner-Magie einweihen würde. Nein, von den Hennen war nie mehr zu erwarten gewesen, als Gegacker und auch das konnten sie nun nicht mehr. Dana schniefte leise und erstarrte. Hatten Sie sie gehört? Sie biss sich auf die Lippen und zählte in Gedanken langsam bis zwanzig. Sie würde hierbleiben, sich nicht von der Stelle rühren und zwanzig Mal bis zwanzig zählen. Sie konnte sich einfach nicht mehr an die weiteren Zahlen erinnern. Aber das musste reichen. Es war alles, was sie tun konnte. Zählen. Warten.

Das Zittern ließ allmählich nach. Die Männer waren in eines der unversehrten Häuser gegangen und bereiteten sich gewiss einen Festschmaus. Danas Magen war leer und fühlte sich flau an. Sie legte den Kopf auf die Knie und schloss wieder die Augen.

Da fühlte sie plötzlich eine Hand auf ihrer Schulter. Ein fester, zupackender Griff und sie spürte, wie vor Schreck ihr Schlüpfer feucht wurde.

Sie war entdeckt worden.

„Psst, Dana! Da bist du ja!“

Die Freude, die sie in seiner Stimme hörte, ließ ihr eigenes kleines Herz fast bersten. Darius, ihr großer Bruder Darius, der mit dem Rad im Nachbarort gewesen war, hatte sie gefunden! Er lebte! Er war ihnen nicht vor die Flinten gelaufen!

„Wir müssen hier weg!“, kommandierte er flüsternd.

„Sie haben auch die Hühner erschossen“, sagte Dana.

Sie merkte, dass sie wieder zu zittern begann. Ihre Wangen waren plötzlich nass und fühlten sich kalt an.

„Ich weiß, ich weiß, aber jetzt müssen wir abhauen.“

Darius nahm ihre Hand. Gebückt krochen sie unter den Holzscheiten hervor und rannten los. In den Wald hinein. Danas Hose war klamm und scheuerte zwischen ihren Beinen. Sie schämte sich dafür und schwor sich, dass so etwas nie wieder vorkommen würde. Sie war jetzt kein kleines Mädchen mehr. Immerhin, sie war schon sechs.

Keine Heilige

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