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Wenn Les etwas an dieser Stadt nicht leiden konnte, dann, dass sie niemals aufhörte zu leuchten. Neonreklamen flackerten anzüglich, Laternen tauchten ihre Umgebung in ein Fantasyfarbenes Leuchten. Geschmackloses, allgegenwärtiges Licht! Es verzerrte die Tatsache, dass die Erde ein dunkler Ort war. Kalt und unwirtlich. Außerdem störte es ihn beim Denken. Ließ man sich erst einmal auf die Dunkelheit ein, dachte er, dann war es erstaunlich, wieviel der Mensch sehen konnte. Auch nachts. Besonders nachts. Die Sterne zum Beispiel. Die Sterne konnte man nur an Orten sehen, die nicht durch künstliches Licht verschmutzt waren. Und fotografieren konnte man sie auch nur dort. Mit einem Stativ und viel Geduld, einer warmen Jacke und einem kleinen Thermobecher heißen Tees. Tee, dachte Les, als er in eine schmale Gasse einbog, war in jedem Fall unverzichtbar. Er hatte schon lange keine Sterne mehr fotografiert. Er fotografierte Gläser, Töpfe, Blumen, Staubsauger oder Tortenheber, Bohrmaschinen, Rasenmäher, Spaten. Hin und wieder auch ein Auto. Aber große Aufträge dieser Art waren selten geworden, wahrscheinlich, weil er Autos hasste. Er fotografierte für verschiedene Firmen und Kaufhäuser. Früher waren seine Bilder in Katalogen gedruckt oder in Zeitungen zu sehen gewesen. Heute fand man sie im Internet. Manchmal wurde eins geklaut und er sah sein Foto auf der Webseite eines Menschen, der ihm kein Geld dafür gezahlt hatte. Dennoch freute es ihn. Ein geklautes Bild war immerhin eine Art der Würdigung und der Anerkennung. Werbefotografen bekamen davon nicht sehr häufig einen Anteil.

Er nippte an dem Becher mit dem kleinen Schlitz im Deckel, in den er vor zehn Minuten, kurz bevor er das Haus verlassen hatte, seinen Tee gefüllt hatte. Es war kurz nach Mitternacht und die Sonne würde sich noch viele Stunden nicht blicken lassen.

Les mied die großen Boulevards und hielt sich abseits. Hangman wedelte freudig um ihn herum durch die Straßen. Auch er ein Fan von den abgelegenen Orten, die sein Herrchen aufsuchte, um seine dunklen Bilder mit der langen Belichtung zu schießen. Er war ein weißer Pitt-Pull-Terrier mit freundlichen Schlappohren und einem schwarzen Klecks über dem rechten Auge. Ganz offensichtlich ein direkter Nachkomme des Hundes Pete aus den „Kleinen Strolchen“, einer Fernsehserie, die nur noch sehr, sehr alte Knacker oder Nerds wie Les kannten. (Sie hatte in den ersten Folgen als Stummfilm begonnen, war das zu glauben?). Les hatte wieder einmal nicht schlafen können, hatte Hangmans Gewinsel nachgegeben, seine Kamera umgehängt und das Stativ geschultert. Er hatte sich in seinen alten Vauxhall gesetzt und war die Shakespeare Road hinuntergefahren, bis er an die alten Eisenbahnbögen westlich der Loughborough Junction kam. Er parkte vor einem der halbrunden Tore und rüttelte an den Schlössern, bis eines davon nachgab. Er wusste, dahinter verbargen sich staubige Krypten voller Wasserflecken, Moder an den Wänden, unverputzte Ziegel. Unter den beiden parallel verlaufenden Viadukten lagen illegale Haschhöhlen oder Discotheken, die seit Jahren aufgegeben waren. Dort hoffte er, einen bestickten Satinfetzen oder verbogene Spritzen als kleines Detail für seine düsteren Bilder zu finden. Hangman rannte schnüffelnd durch die hohen Gewölbe und sprang auf der anderen Seite durch ein eingeschlagenes Fenster wieder hinaus.

„Hangman, bleib!“, rief Les etwas zu spät.

Da begann Hangman zu bellen.

Les mochte den tiefen Bariton seines Hundes. Er bellte selten und eher bedächtig, als wüsste er um sein durchdringendes, irgendwie bestimmendes Organ, auf das jeder hörte, auch Menschen, die nichts von Hunden hielten. Aber Hangman hörte gar nicht wieder auf zu bellen. Sein Bariton steigerte sich in die beinahe hysterischen Höhen eines Altus und Les kletterte ihm beunruhigt durch das Fenster nach. Er befand sich in dem schmalen Durchgang zwischen den Gleisbögen und einer Mauer, die vor der benachbarten Häuserwand verlief. Es war eine enge Gasse, nach Urin und Fäulnis stinkend, an manchen Stellen moosig, weiter hinten vollgemüllt. Dort sah er Hangman stehen und bellen, erregt und ängstlich, und als Les näherkam, erkannte er, dass neben ihm ein nackter Körper lag. Eine leblose Frau. Sie lag auf dem Bauch, die Arme nur leicht verdreht neben ihren Hüften. Ihr Gesicht war von langem dunklem Haar bedeckt und als er es zur Seite strich, weil er nicht anders konnte, fasziniert von den beinahe unglaublich perfekten Rundungen ihres perlweißen Hinterns, staunte er. Er hockte sich hin und durch seine Linse sah sie noch schöner, noch unberührbarer aus und er drückte zehnmal auf den Auslöser, bevor ihm klar wurde, dass er eine Leiche fotografierte.


Es dauerte fünfzehn Minuten, bis der erste Polizeiwagen kam, nachdem er den Notruf abgesetzt hatte. Man konnte ihn auf der nicht weit entfernten Straße vor der Gasse halten sehen. Die Lichter auf dem Dach stumm blinkend, als sei es eine romantische Nacht. Les ging ihnen entgegen, um sie zum Leichnam zu führen und sie zogen die blau-weißen Absperrbänder vor den Durchgang, sprachen in ihre Funkgeräte und ließen die Dunkelheit durch ihre tragbaren Scheinwerfer verschwinden.

„Wo zum Teufel bleibt der zuständige Inspektor? Und was ist mit den Sanitätern? Hat irgendwer sich die Frau schon angesehen? Das hat man nun davon, dass man schlaflos ist und in der Nähe wohnt.“

Ein Glatzkopf im langen Mantel kam keuchend und vor sich hin schimpfend auf Les zu. Er zog sich Latexhandschuhe über und beugte sich zu der schönen Toten hinab. Les beobachtete ihn eifersüchtig. Der Ermittler tastete den Hals der Frau ab. Richtete sich abrupt auf und sah Les erschrocken an.

„Heilige Scheiße, die lebt ja noch!“


Verdattert stand Les in dem Getümmel, das plötzlich losbrach. Männer, die nach Decken riefen, der Glatzkopf, der in sein Handy plärrte. Er wurde zur Seite geschubst, als die Sanitäter, in Neonwesten leuchtend wie Glühwürmchen, mit einer Trage anrückten. Er würde gehen. Offenbar wurde er hier nicht mehr gebraucht.

Aber sollte nicht jemand seine Personalien aufnehmen? Ihn als Zeugen befragen? Obgleich ein Überfall weit weniger schwerwiegend war, als ein Mord, soviel war auch ihm klar. Doch er konnte sich nicht trennen von der Frau, die nun umgedreht wurde. Hektik brach aus, die Stimmen überschlugen sich, einer hielt einen Beutel mit klarer Flüssigkeit hoch und es fiel das Wort Bluttransfusion. Er konnte nicht länger zusehen, was sie mit seiner schönen Toten anstellten, von der er hoffte, dass sie nicht sterben würde. Er nannte sie bei sich noch immer „die Tote“, weil er einige Minuten lang wirklich geglaubt hatte, sie sei verstorben und das hatte ihr einen gewissen Zauber verliehen, etwas unwirklich Magisches, das er sich selbst nicht erklären konnte.

Er würde gehen, wenn sie ihn nicht befragen wollten, denn allmählich wurde ihm kalt. Wo war Hangman? Er drehte sich suchend nach seinem Hund um. Stieß den kurzen Pfiff aus, auf den Hangman immer folgsam reagierte und da stand er auch schon vor ihm. Sein weißes Fell war an der Schnauze rot gefärbt, als habe er einen Himbeerkuchen verputzt, und leuchtete im Licht der Scheinwerfer wie Blut. Stolz hielt er Les seinen Fund hin, einen groben Fetzen, den er vorsichtig in seinen Fangzähnen hielt. Er wedelte mit dem Schwanzstummel wie jedes Mal, wenn er mit Les apportierte. Und Les strich ihm lobend über das kurze Fell, sodass Hangman den Brocken fallen ließ, der aussah wie ein großes Holzfällersteak.

„Leinen Sie gefälligst Ihren Hund an! Sonst müssen Sie noch mit einer Anzeige rechnen!“, blaffte ein Polizist, der, da war Les sicher, sonst nur Streife ging und sich über die aufregende Wendung freute, die sein Dienst genommen hatte. Er war womöglich enttäuscht, dass es nicht wirklich eine Leiche war, mit der er es zu tun bekommen hatte, sondern nur eine Schwerverletzte, und vielleicht war er deshalb so griesgrämig, dass er seinen Ärger an ihm, Les, ausließ. Seufzend beugte er sich zu Hangman hinunter und hakte den fetten Karabiner an der Öse seines Lederhalsbandes ein. Dabei fiel sein Blick auf Hangmans Trophäe. Und so aus der Nähe betrachtet, meinte er plötzlich erkennen zu können, was Hangman da entdeckt hatte. Er spürte seinen Herzschlag heftiger als zuvor und eine Welle Magensäure stieg ihm in den Rachen. Er würgte, als er sich endlich eingestand, was da vor ihm im Dreck lag. Es war eine abgetrennte, blutverschmierte und verzerrte weibliche Brust.

Keine Heilige

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