Читать книгу Jenseits meiner Grenzen der weite Horizont - Katharina Weck - Страница 12

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Staub von den Kleidern

Cameron Bloom, dessen Frau nach einem Unfall im Urlaub querschnittsgelähmt blieb, schreibt: »Zurückzukehren zu dem, der man einmal gewesen ist, und dabei zu erkennen, wer man wirklich sein könnte – das kann eine sehr schwierige Reise sein.«

Dieser Satz birgt ebenso viel Hoffnung wie Wahrheit in sich.

Es ist eine schwierige Reise, sich nach einem harten Aufprall auf dem Boden mühsam wieder aufzurichten, unbeholfen den Staub von den Kleidern zu klopfen, sich zu orientieren und dabei festzustellen, dass nichts mehr am rechten Fleck sitzt. Alles fühlt sich unangenehm neu, schmerzhaft und herausfordernd an. Und dennoch birgt diese Reise die Möglichkeit sich zu ordnen und die erzwungene Orientierungslosigkeit für das Neue zu nutzen. Um die Welt mit all ihren Schrecken auszuhalten und anzunehmen und dabei das herauszusortieren, was zählt: Liebe! Auch wenn diese ganz zart und zerbrechlich ist. Obwohl man sich für sie jeden Tag neu entscheiden muss. Obwohl Liebe bedeutet, sich zunächst einmal wieder selbst in die Augen zu schauen. Innezuhalten, nicht wegzurennen, sondern es auszuhalten, wie einem gerade zu Mute ist.

Ohne die vorbehaltlose Hilfe liebender Menschen ist es zwar möglich, aber schwerer, aufrecht stehen zu bleiben. Ohne die Liebe derer, die sich ohne Eigennutz um andere kümmern, gerät die Welt schnell wieder ins Schwanken. Um wieder Liebe für das Leben, mit all dem Leid zu empfinden, wird man gezwungen, den immer wieder bebenden Boden als neuen Alltag anzunehmen. Und zu entscheiden, wer man sein möchte. Dabei zusehen, wie andere ihre Selbstsucht an die Seite schieben, um den Nächsten zu sehen, regt zum Nachahmen an.

Ich hatte vor Kurzem eine prägende Begegnung im Supermarkt. Mir sind, den dicken Bauch vor mir herschiebend, Nudeln runtergefallen. Ein älterer Herr sprang leichtfüßig hin, um sie mir aufzuheben. Sein Handeln war so selbstverständlich. Ich bedankte mich überschwänglich, sodass er meinte, das wäre jetzt wirklich kein Opfer für ihn gewesen. Und dann kamen wir ins Gespräch. Er erzählte mir von seinen Nachbarn, die viele Kinder haben und einen Golden Retriever, und dass er, obwohl die Nachbarn auf der anderen Seite sagen, da müsse jetzt endlich mal ein Zaun hin, keinen zieht, weil er es mag, wenn die Kinder auf einmal bei ihm auf der Terrasse stehen. Mit dem Hund an ihrer Seite. Und dass er nun, obwohl er Rentner ist, noch ein paar Vorträge hält, da freut er sich drauf. Dass ihm nicht langweilig ist und dass das Leben doch schön ist.

Dieser Moment, wenn man alle Kraft zusammennimmt und wieder aufschaut, in die Augen des Gegenübers, und es zulässt, dass ­erzählt wird, dann begrüßt einen die Lebendigkeit in ihrer vollen Pracht und lässt einen ein kleines Stück vom Boden abheben. Ich spürte in diesem Augenblick Achtung und Nächstenliebe und etwas, was ich lange nicht gespürt hatte: Leichtigkeit. Ich bekam ein Stück seiner Leichtigkeit. Nichts erwarten, ohne Stress, weil Menschen Menschen brauchen.

Nächstenliebe, die: innere Einstellung, aus der man heraus bedingungs­lose Opfer für jemanden bringt.

Ihr Menschen da draußen; Schwestern, Cousins, Nachbarn, Mütter, Tanten, Freundinnen, Brüder, Väter. Ihr, die ihr andere Menschen in schweren Zeiten unterstützt, die ihr mitweint und mitlacht, Drogerieeinkäufe erledigt, Kinder betreut, Wohnungen saugt, Rasen mäht, Hände haltet, Taschentücher reicht.

Unterschätzt eure Leistung nicht! Ihr sichert das Überleben in schweren Lebenssituationen. Oftmals ist man als helfende Person nicht ­sicher, ob das Angebot überhaupt nützlich ist, ob man an der richtigen Stelle den doppelten Boden positioniert hat. Doch die Platzierung ist gar nicht so wichtig. Dass sich jemand die Mühe macht, die Spanngurte von den großen blauen Matten zu lösen, sie umzukippen, um sie hinter sich herzuziehen und unter den schweren Alltag zu legen, ist hilfreich.





Als ich nach der Leukämiediagnose die vierte Woche in Folge mit unserem Sohn auf der Kinderonkologie verbrachte, waren es eben diese Menschen, die mir das stille Versprechen gaben, dass wir es schaffen würden, gemeinsam. Dass unser Leid ihr Leid ist. Menschen, die für uns da waren, ohne uns mit der Frage »Wenn ihr Hilfe braucht, sagt Bescheid« zu belasten. Vor der Tür standen und uns in dem Moment, als wir zu fallen drohten, dafür sorgten, dass der Aufprall abgefedert wird. Nicht fragend, sondern handelnd.

Stimmt, zu der Überlegung, was mein Gegenüber braucht, gehört eine Portion Sensibilität und Empathie. Dennoch müsste man ein ziemlicher Holzklotz sein, um sich mit einem Hilfsangebot in die Nesseln zu setzen! Samuel Koch sagt dazu: »Natürlich: Wer nichts tut, kann auch nichts falsch machen. Aber auch nichts richtig.«

Häufig sind es die kleinen Gesten, die guttun: Hilfe im Alltag oder einfach nur ehrliche Anteilnahme. In Kauf nehmen, dass man nur kurz etwas abgibt, wenn man vor der Tür steht, und dann ohne viel Small Talk wieder geht.

An Tagen, an denen wichtige Behandlungen anstehen oder es neue Informationen gibt, morgens eine SMS schicken. Ein »Ich-denke-an-dich-ohne-dass-du-reagieren-musst.« Uns Menschen fällt es schwer, dem sichtbar Leidenden den Schmerz nicht nehmen zu können. Doch darum geht es nicht. Die Motivation sollte nicht sein, eine Lösung zu finden, sondern die Selbstlosigkeit. Den Schmerz des Gegenübers aushalten und sich dabei immer wieder daran erinnern, dass Menschen, die es schwer haben, oftmals schwierig sind und Verständnis dafür zu haben. Zuhören, wenn immer und immer wieder die gleiche Geschichte erzählt wird. Auch praktisches Handeln ist eine Hilfe. Dabei, auch wenn es schwerfällt, Tipps oder Erfahrungsberichte für sich behalten.

Ich habe mal bei Instagram die Frage gestellt, was in der Not hilft und wurde überschüttet mit Antworten. Um die Nachrichtenflut zu ordnen, habe ich sie in die fünf häufigsten Antworten zusammengefasst.


1. Essen vor die Tür stellen. Ohne Small Talk oder Erwartungen.

(Die Tür aufzumachen, um den Müll herauszubringen und einen Topf Suppe vorzufinden, hat mir geholfen, die verbleibenden Stunden des Tages zu schaffen)

2. Zusammen schweigen können, den Schmerz gemeinsam aushalten, keine Ratschläge, einfach Dasein, und das muss gar nicht immer und ständig sein, aber beständig

3. Kleine Aufmerksamkeiten, ein »Ich-denke-an-dich«, liebe SMS, Briefe, Karten, Blumen, eine Kerze ins Fenster stellen und ein Foto davon schicken.

4. Praktische Hilfe; Kinder aus der Kita/Schule abholen, einkaufen gehen, Wäsche waschen, Rasen mähen etc.

5. Auch Jahre nach dem Tod eines geliebten Menschen an den Todes­tag denken und sich melden, denn Trauer verjährt nicht.

Zu den Antworten gab es häufig Geschichten der Nächstenliebe. Neben den Menschen, die den Betroffenen nahestanden, waren es auch Menschen, die geholfen haben, mit denen eher flüchtig der Alltag geteilt wurde.

Bei uns war es beispielsweise eine Mutter von dem Kitafreund unseres Sohnes. Eigentlich kannten wir uns gar nicht richtig, und dennoch rief sie in der zweiten Woche nach der Diagnose an und fragte mich, ob die Gerüchte in der Kita über Phileas stimmen würden. Es gab einen kurzen Austausch und sie sagte, wenn wir etwas brauchen, sollten wir uns melden. Doch es blieb nicht dabei. Wahrscheinlich wusste sie, dass ich mich nie melden würde, und so schrieb sie mir regelmäßig, lud uns zum Spielen ein, wenn Phileas Immunsystem es erlaubte. Das war mutig, denn zum Spielen kamen ein totkrankes Kind und eine labile Mutter. Sie hielt es aus. Nachdem unser Sohn in die Erhaltungstherapie kam und sogar eingeschult werden konnte, hatte er immer wieder verschiedene, durch die Chemo bedingte körperliche Probleme. Eins davon betraf die Haut. Er hatte starken Juckreiz und Leberflecke, die zu schnell wuchsen. Eigentlich hätte das Arztbesuche zu den ohnehin schon vielen Terminen in der Kinderonkologie bedeutet. Und das, wo wir uns doch nichts sehnlicher wünschten, als einen normalen Alltag zu leben. Als ich der Mutter bei einem unserer Treffen davon erzählte, sagte sie, sie sei Hautärztin und könnte sich das angucken. Sie hatte zwar im Alltag mit einer eigenen Praxis und zwei kleinen Kindern viel zu tun, kam aber danach regelmäßig nach ihrer Arbeit zu uns nach Hause und kontrollierte die betroffenen Hautstellen. Mit solch einer Selbstverständlichkeit. Ich muss immer noch lächeln, wenn ich an diese selbstlosen Kontrolltermine denke. Sie hätte in der Kita auch einfach weghören können, aber sie hat sich entschieden uns zu helfen, auch wenn sie dafür aus ihrer Komfortzone gehen musste.

Eine weitere Person, die uns sehr geholfen hat, war unsere Nachbarin. Als unser Sohn erkrankte, war auch sie eine Fremde.

Diese Nachbarin bot uns sofort ohne Erwartungen Hilfe an, als sie von Phillis Diagnose hörte. Sie kochte uns Essen und lud uns ein, um uns einen Moment aus der Krebsblase zu holen. Oftmals saß ich bei ihr apathisch im Stuhl, keine Kraft, um etwas zu geben, nur froh, dass unsere Jungs für einen Moment Kinder sein durften. Diese Nachbarin ist inzwischen eine gute Freundin von mir geworden. Noch immer bin ich sprachlos über ihre uneigennützige Hilfsbereitschaft. Es stand nicht in ihrer Macht, unseren Sohn zu heilen, doch sie entschied sich, einen Teil unseres Leids mitzutragen, und so bekamen wir immer wieder Kraft, um weiterzumachen.

Sie stellte den ganzen Winter hindurch eine Kerze ins Fenster, damit ich, wenn ich mich zum Weinen auf dem Klo eingeschlossen habe, sehen konnte, dass ich nicht allein bin. Es ist wichtig, dass Kinder die Emotionen der Eltern erleben, damit sie einschätzen können, was los ist, damit sie sehen, dass es völlig normal ist, zu weinen, zu zeigen, dass man müde ist, geschafft, enttäuscht. Das auch Eltern Ängste haben. Dennoch war diese Form der Angst so gewaltig, dass ich diese Momente im Badezimmer brauchte, um mich zu sortieren. Ich wollte dann mit niemandem reden, sondern mich verkriechen. Wenn keine Tränen mehr kamen, stieg ich auf unseren Badewannenrand, um aus dem Fenster gucken zu können. Über zwei Nachbargärten hinweg sah ich das Licht der Kerze leuchten. Es war immer da. Ich weiß nicht, wie sie das gemacht hat. Selbst Mutter von vier Kindern, in einer Patchworkfamilie lebend und alle Hände voll zu tun, nahm sie jeden Tag die Streichhölzer, um mir zu zeigen, dass für uns ein Licht brennt. Dass ihre Tür immer einen Spalt breit offen ist, damit ich mich nicht so alleine fühle.

»Mich ängstigt nicht

der Wind

und das Geräusch

der Stadt,

solange nur

die Tür

hinaus zum Flur

und auf den Gang

zu dir

noch eine Handbreit

offen steht

und angelehnt ist

an dein Licht.«

Hans Günther Saul

Dieses beständige Licht war es, das mir in dunklen Zeiten den Weg beleuchtet hat. Er war dadurch nicht schöner, jedoch besser zu ­erkennen. Ich hatte weniger das Gefühl herumzuirren. Ich denke, dass ist der Inbegriff von Hilfe; Menschen, die einem im Leid in der Überforderung helfen, damit man weniger herumirrt.

Jenseits meiner Grenzen der weite Horizont

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