Читать книгу Jenseits meiner Grenzen der weite Horizont - Katharina Weck - Страница 16

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Überförderungs- gestöber

Unser Sohn, seit einiger Zeit bist du nun ohne Chemo. Endlich. Wir haben uns so danach gesehnt.

Aufatmen, nach vorne schauen. So habe ich es mir gewünscht, doch so recht daran geglaubt habe ich nicht. Denn du bist so voll. Auch wenn dein Körper die Zytostatiker abbaut, bleibt all das Erlebte in dir. Ein fieser Matsch aus Kotze, Angst und zu viel Ninjago gucken. In dir brodelt es wie in einem Magen voller scharfer spanischer Wurst.

Und immer öfter läufst du über. Dann kotzt du Emotionen; auf Geburtstagen, in der Schule, zu Hause. Und alle verstummen. Was hat dieser tollwütige Junge? Ihm geht es doch gut, alles überstanden. Mir schießen dann Tränen in die Augen. Aus Hilflosigkeit, aus Wut, weil niemand es so recht verstehen will. Dass es tatsächlich so schwer ist zu verstehen. Oberflächlich gesehen scheinst du unversehrt. Zwei Beine, zwei Arme, ein Kopf. Kriterien, die fälschlicherweise dazu benutzt werden, um zu beurteilen, wie es jemandem geht.

Sarah Broll schreibt in ihrem Artikel in der Zeitschrift Family: »Die Vorstellung, ein behindertes Kind zu haben, ist viel schlimmer, als tatsächlich eins zu haben.«

Sarahs Sohn hat das Down-Syndrom, und sie erzählt ehrlich und ebenso herzlich, was es heißt, ein behindertes Kind zu haben. Unser Sohn ist auch behindert, so sagt es zumindest sein ­Behindertenausweis. Diese Behinderung wird immer weniger offensichtlich und dennoch bewegen wir uns in einem Alltag voller Defizite. »Alles ist gut« scheint nicht unser Weg zu sein. Unser Weg ist laut, krank und mit Unruhen gepflastert.

Und dann wieder so leise und innig, dass nur das Wispern unserer Schritte zu vernehmen ist. Dieser Weg zwingt mich immer wieder das Gute nicht zu übersehen. Ich schließe meine Augen, falte meine Hände, sehe durch die Lieder das glitzernde Schneegestöber meiner Schneekugel auf dem Nachttisch. Die Flocken wirbeln auf und nieder, umspielen die Schneemannfamilie.

Da, da ist es, das Schöne in all dem Überforderungsgestöber: Nicht der Tod hat Einzug erhalten, sondern das Leben.

»Von allen Seiten werden wir von Schwierigkeiten bedrängt, aber nicht erdrückt. Wir sind rastlos, aber wir verzweifeln nicht.« (2. Korin­ther 5,8).

Das Leben ist selten schwarz-weiß, nur gut oder nur schlecht. Ich habe den Glauben daran verloren, dass es eine umhüllende Zeit geben wird, in der wir uns neben die Schneemannfamilie stellen und nichts anderes machen, als in die Flocken zu schauen. Eine Zeit ohne Herausforderungen.

Erst letzte Woche, die Sehnsucht nach einem vollkommenden Tag war mal wieder besonders groß, machte es knack in meinem Mund, meine Zunge fuhr instinktiv an die Stelle, sofort war klar, da ist ein Stück Zahn abgebrochen. So ein Mist. Sashi, 11 Monate alt, hat seit zwei Tagen Fieber, dementsprechend sind die Nächte.

Also schnell die beiden Großen wegbringen, zum Zahnarzt, zurück nach Hause, den Mann ablösen und mit dem Baby zum Kinderarzt.

»Es ist doch nur ein Zahn«, »es ist doch nur ein Schnupfen«, hilfreiche Signale dieser Art könnte mir mein Gehirn doch senden. Tut es aber nicht. Mal wieder bin ich erschöpft.

Natürlich sind die Straßen voll. Ich schiebe mich in den Kreisverkehr, ein Mann, der eigentlich zu bullig für seinen kleinen Opel Corsa ist, grinst, bremst, lässt mich vor, mit einer Handbewegung, als würde er mich zum Tanz auffordern. Ich bin so überrascht, dass ich ihm einen Handkuss zuwerfe.

Im Parkhaus angekommen ist die Schranke offen.

Unser Junge glüht, meine Füße machen kleine schnelle Schritte, wann ist er denn so schwer geworden, ich fange an zu schwitzen. Auf dem Weg zum Fahrstuhl begegnet mir der Hausmeister, er sammelt Müll auf, seine Greifzange klickt, die Parkhauswände geben das Echo wieder. Wir nicken uns zu. Ob ich denn kein Ticket gelöst habe, fragt er mich im ernsten Ton, die Greifzange erhoben zur Schranke. Ich halte inne, stottere irgendwas von »die Schranke war offen, äh.« Er kostet den Moment aus, noch 3 … 2 … 1, grinst dann und lächelt. Ach so, das war ein Spaß, du Schelm.

Ich sage ihm, dass für sowas heute nicht der richtige Tag ist, er fragt was denn los sei, ich antworte in Stichpunkten, er ist ganz zugewandt. Der Mann ist Mitte vierzig, und ich gehe mal davon aus, dass er beim Müllaufsammeln nicht unbedingt innerlich jauchzt, doch er sieht die Chance des kurzen Schwätzchens und ergreift sie. Ich muss grinsen. Jetzt haben sie mich doch zum Lachen gebracht. Er sagt in der typischen Berliner Direktheit: »Dit wird schon nüscht Schlimmet sein!« Wir lächeln uns zu, ich steige in den Fahrstuhl.

Beim kleinen Jungen sind es die Ohren. Im Erdgeschoss gibt es beim Portugiesen Karottenküchlein, diese Dinger mit weißer Sünde drauf. Ich kaufe mir eins und beiße genüsslich rein. Es sind solche Zeiten, die mich in die Knie zwingen oder aufrichten können.

Meine Lebensarroganz, es drauf zu haben, gibt es an diesen Tagen nicht. Ich verbünde mich mit allen, die es auch nicht draufhaben, und schwimme wogend in der Masse.

Jennifer Zimmermann sagt in ihrem Buch »Als Gott mich fallen ließ«: »Kostbar ist die Welt mit ihrer Schönheit und ihrer Dunkelheit. Nicht trotz. Nicht wegen. Und.«

Gleichwohl wird das beschlagene Glas klarer, meine Erkenntnis wieder sichtbar: Wir brauchen kein »Alles-ist-gut« um glücklich zu sein, denn wir können weiteratmen, lassen uns von dem Leid nicht erdrücken. Und ich stimme in das Sarah Brolls Lied ein: »Die Vorstellung ein krebskrankes Kind zu haben ist schlimmer, als eins zu haben.«

Jenseits meiner Grenzen der weite Horizont

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