Читать книгу Jenseits meiner Grenzen der weite Horizont - Katharina Weck - Страница 8
ОглавлениеEin Koffer voller Angst
Vorletzte Nacht stand ein kleiner Junge an meinem Bett, mit wild zerzaustem Haar, den Stofflöwen fest im Arm. Weinend sagte er mir, dass er Beinschmerzen hat.
Ping, sofort war ich hellwach. »Beinschmerz« ist bei uns das Pseudonym für »das Böse.« So haben wir den Krebs damals bemerkt, am Tag war Phileas lange Zeit symptomfrei, aber nachts waren die Schmerzen so groß, dass er sie herausschreien musste.
Phileas schlüpft unter meine Decke und ich fange an, seine Waden zu massieren. Wie lang seine Beine geworden sind. Als ich bei den Füßen ankomme, merke ich, dass dort etwas liegt. Ein Koffer, braun, aus Leder, die Scharniere schon ganz abgegriffen vom vielen Auf- und Zumachen.
Ich öffne ihn nicht, denn ich weiß, was drin ist. Es sind meine Ängste und Sorgen. Noch vor Kurzem wölbte sich der Deckel und ging kaum zu vor lauter Ballast. Ich musste mich draufsetzen, um ihn zu bezwingen. Inzwischen ist er leerer geworden. Gerade droht der Inhalt erneut anzuschwellen, so sehr, dass ich ihn wieder nicht tragen kann. Dann liegt der Koffer mitten im Weg, wir stolpern drüber, er nimmt einfach zu viel Platz im Alltag weg. Nimmt Raum, und manchmal habe ich sogar das Gefühl, dass er uns die Luft zum Atmen stiehlt.
Ich habe mit diesem Koffer sehr viel Zeit verbracht. Habe mich vor ihm hingekniet, das Leder gepflegt, die Scharniere geölt, bin den Inhalt Stück für Stück durchgegangen. Oftmals saßen Weggefährten neben mir, die mir halfen, ihn zu ordnen und auszusortieren. Die mir halfen, ihn ein Stück zu tragen.
In dieser Nacht entscheide ich mich, den Koffer zu nehmen und in die Kammer zu stellen. Behutsam, denn auch wenn mir der Anblick die Kehle zuschnürt, weiß ich um seine Wichtigkeit. Die Angst ist für unser Überleben wichtig, sie macht uns wachsam. Die Sorge ist ein Teil von uns. Dennoch darf ich entscheiden, wie groß dieser Teil ist, weil von Angst ausgelöstes Kreisdenken mich vollkommen blockieren kann. Es wird kommen, wie es kommen wird. Diese Tatsache kann ich besser mit dem Wissen ertragen, das ich nicht allein bin. Gott wacht über uns.
Dieses Wissen beruhigt mich, ich muss niemanden wecken, mich nicht erklären. Er ist da. Egal, ob ich nun die ganze Zeit wach bleibe oder einschlafe. Oftmals sind meine Worte wie das Bitten eines Kindes. Ich möchte, dass Gott sich auf meine Bettkante setzt, dass er mir sagt, dass er die Nacht dortbleibt, dass er da ist, komme was wolle.
Am Tag kann die Angst allerdings ebenso groß sein. Dann hilft mir schnelle Ablenkung oder das Gegenteil, totales Verweilen. Je nachdem, in welcher Situation ich mich gerade befinde, wähle ich einen der beiden Gegensätze aus. Mit dem Wissen, das Ängste normal sind, dass es in Ordnung ist, sich zu fürchten, nur verlieren sollte man sich nicht darin.
Und in dieser Nacht möchte ich mich zu unserem Sohn kuscheln, mich um ihn kümmern, anstatt vor Angst gelähmt zu sein, von dem, was war, von dem, was kommt. Ich möchte die Gegenwart unseres Jungen wahrnehmen und mich freuen, dass er da ist, dass ich ihn versorgen kann.
Kurze Zeit, eine Wärmflasche und Massage später, schläft unser Sohn friedlich neben mir ein. Und ich merke, wie auch ich anfange wegzudämmern.