Читать книгу Jenseits meiner Grenzen der weite Horizont - Katharina Weck - Страница 13

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Die bittere Pille

Mein Baby, unser Sohn, da bist du endlich, vollkommen, kein Makel ist zu finden, nur ein Wunder. Nun liegst du schon seit einigen Tagen in meinen Armen und ich kann nicht begreifen, auch nicht beim dritten Kind, dass so etwas Unsagbares möglich ist. Ich bin erschöpft, an ein leises, störungsfreies Wochenbett ist nicht zu denken, aber es bleibt genug Zeit, um dich einzuatmen.

Als gestern der Kinderarzt wie auch damals bei deinem Bruder zur U2 zu uns nach Hause kam, auf leisen Sohlen und mit sanfter Stimme, um dich zu untersuchen und mir mit einem Lächeln mitzuteilen, dass du ein vollkommen gesunder Junge bist, musste ich unweigerlich schlucken.

Dein großer Bruder, unser Erstgeborener, war immer ein »kerngesunder Junge«, selten krank, immer alle Werte im Normbereich, bis zu dem Tag, als nichts mehr stimmte.

Als ich gestern am Wickeltisch stand und in die beruhigenden Augen des Arztes schaute, konnte ich nur denken: »Nichts hat Bestand, auch nicht die Gesundheit unseres neusten Familienmitgliedes, unseres kleinen Jungen, für den ich schon in der Schwangerschaft so viel Mut brauchte.« Auch ihn werde ich halten, stillen, pflegen und mit Liebe überschütten, doch sein Leben, sein Leben habe ich nicht in der Hand. Ich musste mich für den Moment der Erkenntnis am Wickeltisch festhalten, bemüht, das Lächeln des Kinderarztes zu erwidern.


Die Erkenntnis, dass ich nichts in der Hand habe, ist nicht neu und trifft mich dennoch hart, denn diese Pille ist bitter und kaum zu ­schlucken. Und ich fühle es ebenso stark wie damals, mein Baby, als ich nicht wusste, ob dein großer Bruder sterben wird. Seitdem muss ich mich immer wieder daran erinnern, was wir brauchen: Liebe, Vertrauen, Demut und die Fähigkeit, Tag für Tag dafür zu sorgen, dass die Bitterkeit der Pille runtergespült wird, damit sie sich nicht in unseren Herzen ausbreiten kann. Es braucht genügend fließendes Wasser, damit aus der Bitterkeit keine Verbitterung wird.

Mein Baby, so friedlich liegst du hier auf meinem weichen Bauch, und ich bin mir meiner Begrenztheit bewusst, die so hart und gleichzeitig aufrichtig ist. Ich habe nichts in der Hand, doch mein Herz in der Brust ist weich, und ich werde dafür sorgen, dass es so bleibt. Für euch, für mich. Ich darf mich mit all meinen Rundungen und Kanten lieben. Ich bin gut. Und voller Fehler. Und das Beste: Ich werde geliebt, mit allem drum und dran.

In Epheser 3,17 heißt es: »Und ihr seid in der Liebe eingewurzelt und gegründet.« Das klingt nach einem Fundament, nach einem Versprechen.

Egal, was auf der Erde so los ist, wie du aufgewachsen bist, ob dein Job gut und deine Beziehung glücklich ist, du bist in der Liebe Gottes eingewurzelt. Daraus werden Nährstoffe geschöpft. Diese Liebe möchte nichts, sie ist nicht an Bedingungen geknüpft. Ich schließe die Augen und kann atmen. Dieser Atem geht tief in den Bauch, er lässt mich wachsen. Gottes Liebe ist mein Schutz. Ich hätte aus menschlicher Sicht jedes Recht gehabt, Gott zu verdammen, ihn mit einem süffisanten Lächeln zu sagen, er soll verschwinden. Ich hätte laut schreien können: »Hau ab, hau ab mit dieser ganzen ›Ich bin bei euch alle Tage bis ans Ende der Welt‹-Scheiße.« Nirgendwo warst du. Du hast zugelassen, dass an dem Körper unseres Sohnes keine heile Stelle mehr war. Du hast auf seine offenen, eiternden, nicht heilen wollenden Wunden geguckt und mit den Achseln gezuckt. Da war kein Wunder. Da waren nur Krankheit und Tod. Kinder, die gestorben sind. Und ein kleiner Bruder, der an der Hand immer hinterhergezogen wurde. Und eine Ehe, die nur noch aus Schichtübergabe bestand, aus Schweigen und Aushalten, aus stillen Tränen, Überforderung und Alkohol. Weil niemand diese Ohnmacht ٢٤ Stunden im vollen Bewusstsein aushalten kann. Es macht einen kaputt. Und auch wenn die medizinischen Möglichkeiten unseren Sohn nicht haben sterben lassen, hat es damit das Erlebte nicht gelöscht. Das ist in uns. Verwachsen, nicht mehr zu trennen von unserem Geist. Ja, ich hätte allen Grund gehabt, an der Existenz Gottes zweifeln zu können. Das ist auch alles ein wenig merkwürdig; etwas Großes, das im Himmel ist, aber auch neben mir. Das die Erde überflutet, aber alles wachsen lassen kann. Nicht greifbar und dabei die vollkommende Liebe.

Ich habe keine Sekunde daran gezweifelt, dass es einen Gott gibt. Es gab und gibt auch heute noch immer wieder Phasen, in denen ich mich unruhig durch das Internet klicke, mit lieben Menschen ­telefoniere, Projekte starte. Alles in der Hoffnung, dass es in mir ruhig wird, dass die pöbelnden Stimmen in meinem Kopf schweigen. In dieser Hoffnung werde ich immer eiliger, bin mir sicher, dass mir irgendetwas schon helfen wird. An manchen Tagen geht es schneller, an anderen brauche ich einen Moment, um zu merken, dass ich stehen bleiben muss, um ruhen zu können. Um die Tiefe zu spüren, das Zugrundeliegende unter der Ratlosigkeit. Dass das, was die Welt mir gibt, nicht genügt. In meinem Kopf ist es schon angekommen, aber meine Füße machen immer noch unruhige Schritte hierhin und dorthin. Dalai Lama im Kopf, Speedy Gonzales im Rest des Körpers. Stopp! Halt! Aufhören!




Alles, was ich bin, gebe ich dir, Gott. Alles, alles, alles. Meine Beine bleiben stehen, ich sinke nieder. Ich darf auf­hören zu produzieren. Dieser ganze Kram, der auf meinen Schultern liegt, tonnenschwer, der Anspruch, ich müsste dennoch geradestehen und stark sein, fließt von meinen Schultern. Gleitet zu Boden. Er kleckert vor meine Füße. Mein Kopf beugt sich, ich darf schwach sein, klein. Denn diese wunderbare und gleichsam schwere Welt gab es schon vor mir, ich muss nichts neu erschaffen. Ich schaue auf all meine Sorgen, Gedanken, Ängste, Herausforderungen, die in die Ritzen unserer Dielen laufen. »Gott, kannst du das aufwischen? Ich muss mich erst einmal ausruhen!« Ich rolle mich ein, decke mich mit meinen Haaren zu und höre noch, wie der Lappen neben mir ausgewrungen wird, höre, wie all das, was mich seit Tagen immer missmutiger werden lässt, in das Wischwasser tropft. Mein Alltag ist nicht allein meine Sorge. Von dem Anspruch, dass alles gelingen muss, darf ich mich befreien. Bevor ich langsam wegdämmere, habe ich entschieden, das Unnötige die nächste Woche wieder abzuschütteln und nur an dem Unersetzlichsten zu arbeiten.

Jenseits meiner Grenzen der weite Horizont

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