Читать книгу Fabelmacht Bundle - Kathrin Lange - Страница 10

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Die Wüste war blau, der Himmel rot, die Palmen lila. Und die beiden Kamele grasgrün.

Milas Blick wanderte über das großflächige Gemälde, das die Backsteinmauer in der Rue Cortot zierte, in der Isabelle wohnte. Dann warf sie einen Blick auf ihr Smartphone, auf dem sie ein Foto eben dieses Gemäldes geöffnet hatte. Auf dem Foto prangte an einer Stelle direkt unter einem Palmwedel ein dickes schwarzes Kreuz.

»Schlüssel«, hatte ihre Freundin Isabelle an dieses Kreuz geschrieben.

Mila ließ das Handy sinken und suchte die entsprechende Stelle auf der Mauer. Wenn sie sich reckte, kam sie gerade so daran. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und tastete die bezeichnete Stelle ab. Der Ziegelstein darunter war lose. Er ließ sich herausziehen und als Mila es tat, fiel ihr auch schon ein einzelner Sicherheitsschlüssel in die Hände. Ein Schnürsenkel in Neongrün war durch das Loch gezogen und mit sieben nebeneinanderliegenden Knoten verknotet.

Mila steckte den Backstein wieder in das Loch. Dann wandte sie sich der Haustür links neben der Backsteinmauer zu und schloss auf.

Sie betrat die winzige Wohnung im Erdgeschoss und atmete erleichtert auf. Nach den Ereignissen auf dem Bahnhof hatte sie sich nichts sehnlicher gewünscht, als endlich hier anzukommen und eine Tür hinter all den sonderbaren und schrecklichen Dingen zu schließen, die passiert waren, seit sie aus dem Zug gestiegen war.

Nachdem dieser brutale Kerl verschwunden war, hatte Mila Eric gesucht, weil sie ihm helfen wollte. Aber sie hatte ihn nicht wiedergefunden. Eine ganze Weile war sie durch den Bahnhof gelaufen. Vergeblich. Und auch von der Obdachlosen mit ihren merkwürdigen Sprüchen hatte sie nichts mehr gesehen.

Also hatte sie beschlossen, all diesen Irrsinn hinter sich zu lassen und zu Isabelle zu fahren. Ihre Freundin war nicht nur vier Jahre älter als sie, sondern stand auch mit beiden Beinen fest auf dem Boden. Schon im Camp damals war sie jemand gewesen, der immer eine Lösung fand – und wenn nicht, der dann wenigstens den ganzen Mist, der manchmal passierte, fröhlich weglachen konnte. Isabelle würde Mila den Kopf zurechtrücken und ihr die Sicherheit zurückgeben, die sie mit ihrer Ankunft in Paris verloren hatte.

Ihr Blick schweifte über eine bunt zusammengewürfelte und ganz offenbar aus dem Sperrmüll stammende Couchgarnitur, ein aus Ziegelsteinen und Brettern gebautes Regal mit alten, zerlesenen Taschenbüchern und einen uralten und ziemlich wackelig aussehenden Esstisch mit unterschiedlich bunt angemalten Stühlen. An jeder Wand hingen Dutzende von abstrakten Bildern und auch auf dem Fußboden standen sie in mehreren Reihen übereinander gegen die Wände gelehnt.

Isabelle lebte von der Unterstützung durch ihre reiche Familie und davon, dass sie Touristen quietschbunte Ansichten von Paris in schrillen Farben verkaufte. Ihr Herz jedoch schlug für ihre eigene Kunst. Sie malte abstrakte Gemälde in düsteren Tönen und mit unheimlich verzerrten Gestalten. Verkauft hatte sie davon bisher nicht ein einziges. Was vermutlich ein Grund dafür war, dass die Bilder jeden Quadratzentimeter ihrer Wände bedeckten.

Der Geruch von frischer Ölfarbe und Firnis hing in der Luft.

Mila zog die Tür hinter sich zu und atmete das erste Mal, seit sie den Bahnhof verlassen hatte, tief durch.

Auf dem Tisch in der Mitte des Raums standen eine Flasche mit Wasser und eine mit Saft bereit. »Mach es dir gemütlich, bin um kurz nach sechs zu Hause«, hatte Isabelle in ihrer unverwechselbaren, kaum leserlichen Handschrift auf einen Zettel gekritzelt. Mila musste lächeln.

Sie streifte sich ihre Schuhe ab, stellte ihr Gepäck neben die Küchenzeile, ließ sich auf die Couch fallen und schloss die Augen.

Sie war erledigt. Und brauchte wirklich eine Pause.

Doch sofort waren die Bilder wieder da. Und mit ihnen auch die Geräusche.

Vor allem das Knacken, mit dem Erics Handgelenk gebrochen war.

Hatte sie das wirklich erlebt? Jetzt, in der Abgeschiedenheit von Isabelles Wohnung, kamen ihr die Szenen auf dem Bahnhof vollkommen unwirklich vor. Eric, der ihr Portemonnaie und Handy geklaut hatte. Und Nicholas …

Nicholas mit den schwarzen Haaren und den blauen Augen. Dem schwarzen Mantel mit dem unverwechselbaren Kragen.

»Absurd!«, murmelte sie. »Völlig absurd.« Vermutlich hatte sie zu wenig geschlafen und zu viel geschrieben in letzter Zeit. Ja, dieser Kerl hieß Nicholas, und ja, er hatte schwarze Haare und blaue Augen – aber das konnte auch einfach ein merkwürdiger Zufall sein.

Plötzlich hatte sie das dringende Bedürfnis, noch einmal die Sätze zu lesen, die sie im Zug geschrieben hatte. Sie holte ihr Notizbuch aus der Umhängetasche und blätterte auf die letzte beschriebene Seite.

Es fühlte sich seltsam an, ihre eigenen Worte noch einmal zu überfliegen. Diese Fürsorglichkeit, die Nicholas dem kleinen Mädchen gegenüber an den Tag legte, passte so überhaupt nicht zu der Brutalität, mit der er Eric das Handgelenk gebrochen hatte. Klar. Weil Realität und Fiktion nicht das Geringste miteinander zu tun hatten!

Sie seufzte auf, weil ihre Fantasie mal wieder mit ihr durchgegangen war. Es war ja nicht das erste Mal, dass das passierte. Sie griff nach ihrem Bleistift und begann, ein paar Sätze in ihr Buch zu kritzeln, so wie sie es immer tat, wenn sie etwas verstörte. Bisher hatte es ihr noch jedes Mal geholfen und ganz bestimmt konnte sie die Ereignisse so besser aus dem Kopf bekommen.

Sie fing mit Eric an und beschrieb ihn, so genau es ging. Seine schmutzigen Klamotten, seine braunen Haare, die Augen, in denen etwas geschimmert hatte, was sie nicht richtig zuordnen konnte. Leere war es, das begriff sie jetzt beim Schreiben. Eine Müdigkeit, die eigentlich nicht zu seinem Alter passte.

Sie beschrieb Erics gebrochenes Handgelenk und dann, aus einer Laune heraus, schrieb sie, dass der Bruch wie durch Zauberhand heilte. Sie hielt kurz inne, aber weil sie schon mal dabei war, schrieb sie weiter. Wie Eric sich neben eine Reihe Schließfächer stellte und sein Blick auf eine Frau mit langen roten Haaren fiel. Automatisch checkte er, ob sie als Opfer infrage käme.

Doch dann bekam er ein schlechtes Gewissen wegen dem, was er mit Mila gemacht hatte.

Mila beschrieb, wie er an sie dachte und ihm dabei klar wurde, dass es erbärmlich war, davon zu leben, am Bahnhof Frauen auszunehmen.

Inzwischen flog Milas Stift wie von selbst über das Papier, produzierte Wörter, Sätze, Absätze. Zeile um Zeile, Seite um Seite schrieb sie und dann – urplötzlich – leuchtete die Mine des Bleistifts auf. Wie Tinte aus Licht floss es aus ihr heraus. Das Leuchten erfasste die letzten Buchstaben, die Mila geschrieben hatte. Ihre Wörter und Sätze füllten sich nach und nach mit blauem Licht, so wie ein trockener Kanal sich mit Wasser füllte, wenn die Schleuse geöffnet wurde.

Erschrocken ließ Mila den Bleistift fallen. Sah noch einmal hin. Blinzelte.

Verschwunden war das blaue Leuchten. Das Geschriebene sah völlig normal aus: bleistiftgrau und matt.

Verwirrt blätterte Mila vor und zurück. Dann schaute sie zu Isabelles funzeliger Lampe hoch. War sie einer optischen Täuschung aufgesessen? Vermutlich. Wie lange war sie schließlich unterwegs gewesen? Acht, neun Stunden, in denen sie kaum etwas gegessen und viel zu wenig getrunken hatte.

Kein Wunder, dass sie Halluzinationen bekam.

Sie verstaute ihr Buch und den Stift in ihrer Umhängetasche, streifte die Schuhe ab und schenkte sich ein großes Glas Wasser ein, das sie in einem Zug leer trank. Sie schaute auf die Uhr. Es würde noch gut zwei Stunden dauern, bis Isabelle nach Hause kam. Sie sollte die Zeit nutzen, um sich auszuruhen. Wie sie ihre Freundin kannte, würde das heute ein langer Abend werden.

Sie legte sich der Länge nach aufs Sofa.

Einige Minuten lang starrte sie an die Decke. Ein staubiger Spinnfaden hing an der Lampe und bewegte sich sachte in irgendeinem Luftzug, den Mila nicht wahrnehmen konnte. Tatsächlich schien das Schreiben geholfen zu haben. Sie fühlte sich leichter als vorher und die Bilder vor ihrem inneren Auge wurden blasser, um anderen Platz zu machen: von ihrer Mutter und dem Streit, den sie gehabt hatten. Vom ICE am Berliner Hauptbahnhof, in den sie früh am Morgen gestiegen war. Dann das eintönige Rattern der Zugräder …

Zum ersten Mal, seit sie in Paris angekommen war, verlangsamte sich ihr Herzschlag. Ihre Glieder wurden schwer. Als ihr die Augen zufielen, seufzte sie auf und drehte sich auf die Seite. Und kurz darauf war sie eingeschlafen.

In der großen Halle des Gare de l’Est stand Eric an die Seitenwand einer Reihe Schließfächer gelehnt und hielt sich fluchend das Handgelenk. Der Schmerz war fies, auch wenn er daran gewöhnt war. Er hatte sich schon öfter den ein oder anderen Knochen gebrochen. Das brachte das, was er am liebsten tat, so mit sich. Aber dass dieser beschissene Drecksack wirklich durchgezogen hatte, ging ihm nicht in den Kopf. Dazu hatte nicht die geringste Veranlassung bestanden.

Er hob den Blick, als eine zierliche Frau mit roten Haaren und teuer aussehender Kleidung an ihm vorbei zu den Schließfächern ging. Automatisch scannte er sie. Sie wirkte gebildet. Bei ihr würde er mit seiner Baudelaire-Masche und seinem Tausend-Watt-Lächeln leicht landen können. Außerdem sah sie wohlhabend aus. Vermutlich befanden sich in ihrer Geldbörse hundert Euro oder sogar mehr.

Ein leichtes Spiel also. Lukrativ.

Er sah auf seine Hand hinunter, die plötzlich überhaupt nicht mehr wehtat. Verwundert bewegte er das Gelenk. Es ging ohne Probleme.

Die Schmerzen waren verschwunden.

Sollte ihm recht sein. Er konzentrierte sich wieder auf die Frau mit den roten Haaren. Er war schon drauf und dran, sich von den Schließfächern abzustoßen und zu ihr zu gehen, als Milas Gesicht vor seinem geistigen Auge aufflammte. Die Art, wie sie geschaut hatte, als ihr klar geworden war, dass er sie bestohlen hatte. Der Schrecken, vor allem aber die Scham, die sie empfunden hatte, waren ihm wie ein Messer in den Leib gefahren. Hübsch hatte sie ausgesehen, dachte er. Selbstbewusst und klug wirkte sie. Das gefiel ihm.

Er beobachtete, wie die Rothaarige ihren Koffer in eines der Schließfächer einschloss und danach in einen der kleinen Blumenläden ging. Dabei zog sie ihre Geldbörse aus der Tasche. Das Ding war von Louis Vuitton. Was für eine Gelegenheit!

Wieder dachte er an Mila, an die Art, wie sich ihre blonden Locken rechts und links ihrer Wangen kringelten.

Sie hatte kein Wort zu ihm gesagt, als sie begriffen hatte, dass er sie bestohlen hatte. Aber sie hatte ihn angesehen wie ein Insekt, das man besser zertrat.

Er knirschte mit den Zähnen. Es war schon erbärmlich, wie er seinen Lebensunterhalt verdiente.

Eric stieß sich von den Schließfächern ab.

Und ging davon.

Die verfallene Krypta unter dem alten Friedhof Père-Lachaise wirkte wie in friedliches Licht getaucht. Die uralten Malereien an den Wänden und über Nicholas’ Kopf waren verblasst; Geschichten, die seit Jahrhunderten von niemanden mehr weitererzählt wurden. Wurzeln wuchsen durch das alte Gewölbe. Die Sonne schien durch Spalten und Risse, malte schimmernd helle Vorhänge in die staubige Luft. Moos überzog Pfeiler und Säulen, sodass alles einen sanftgrünen Schimmer hatte. Es roch nach Pilzen und nach Erde.

Nicholas saß auf einer der alten Kirchenbänke, stützte die Ellenbogen auf den Knien ab, ließ den Kopf hängen und dachte nach. Ab und an strich er über das blaue Leuchten an seinem Handgelenk.

Das hier war der totale Albtraum. Und er war leider darin gefangen.

Am besten, er schrieb schon mal auf, wie er sich seine Beerdigung vorstellte. Nicht, dass sie noch auf die Idee kamen, Candle in the Wind zu spielen.

Irgendwann kam Leben in ihn. Er griff in die Manteltasche und zog sein Notizbuch und einen silbernen Stift heraus, aber natürlich nicht, um seine eigene Trauerfeier zu planen. Statt in beschissenem Selbstmitleid zu versinken, musste er sich um etwas anderes kümmern.

Und zwar um Erics Handgelenk.

Ihm war klar, dass er wiedergutmachen musste, was er angerichtet hatte. Ihm ging nicht aus dem Kopf, wie es sich angehört hatte, als das Handgelenk des Jungen gebrochen war. Scheiße. Noch nie hatte er einen Menschen absichtlich körperlich so schwer verletzt und doch war es ihm in diesem Moment als das einzig Richtige erschienen. Er hatte die Verwirrung in Milas Blick gesehen. Und da war dieses Bedürfnis in ihm gewesen, die Katastrophe zu stoppen, die mit ihrem Auftauchen hier in Paris ins Rollen gekommen war.

Das war der Grund gewesen, warum er sich wie ein brutaler Scheißkerl verhalten hatte. Darum hatte er durchgezogen.

Ein sarkastisches Lachen stieg in seiner Kehle auf.

Was für ein Idiot er war!

Deine Geschichte ist zu Ende erzählt, Nicholas. Das hatte Odette in den letzten Jahren mehr als einmal zu ihm gesagt. Sie hatte all das hier kommen sehen, während sich alle anderen, ihn selbst eingeschlossen, geweigert hatten, der Realität ins Auge zu blicken.

Odette war die Einzige gewesen, die sich nichts vorgemacht hatte, und er würde es ab jetzt auch nicht mehr tun.

Er würde wiedergutmachen, was er Eric angetan hatte, und dann konnte er sich immer noch seinem eigenen Abgesang widmen.

Er griff den Stift fester. Es waren nur ein paar Zeilen, für ihn eine leichte Fingerübung. Er begann zu schreiben, doch egal, welche Worte er wählte, um Erics Handgelenk zu heilen, etwas war anders als sonst. Das blaue Leuchten wollte sich einfach nicht einstellen.

Was zum Teufel war nur los? Es hatte doch bisher immer funktioniert! Es funktionierte bei Spielzeug, wie der Puppe der Kleinen am Eiffelturm, ebenso wie bei gebrochenen Knochen oder Wunden.

Nur, dass ausgerechnet jetzt nichts geschah.

Er legte das Notizbuch und den Stift neben sich auf die Kirchenbank. Dann drehte er seine Hand so, dass er die brennenden Schriftzeichen darauf sehen konnte. Mila stand dort noch immer.

»Hier bist du!« Über die geborstenen Fliesen der Krypta kam Luc auf ihn zu. Er deutete in Richtung Gewölbe, über dem der Friedhof lag. »Was zum Henker tust du?«

Nicholas hob den Kopf. »Den Schauplatz nutzen«, sagte er. »Ich mach mich schon mal mit dem Thema Tod vertraut.«

Wütend funkelte Luc ihn an und Nicholas ärgerte sich über seinen eigenen Spruch. Eigentlich war er sonst nicht der melodramatische Typ. Aber bei dem, was gerade geschah … »Schon gut«, murmelte er.

»Nichts ist gut!« Luc fegte sein Notizbuch beiseite und setzte sich zu ihm. »Dieser Typ, dieser Eric kommt in der Geschichte überhaupt nicht vor. Und viele Details sind bis jetzt ganz anders verlaufen, als du es geschrieben hast!« Er räusperte sich. »Ich meine: Das ist doch der Grund gewesen, warum du diesem Kerl die Hand gebrochen hast, nicht wahr? Weil du dir beweisen wolltest, dass es auch anders laufen kann. Dass deine Mutter Erfolg hatte mit …«

»Lass meine Mutter aus dem Spiel!«, warnte ihn Nicholas.

Luc zuckte mit den Schultern. »Dann eben, weil du dir beweisen wolltest, dass du nicht die Rolle des tragischen Helden einnehmen musst«, sagte er stattdessen.

Nicholas schnaubte. Luc hatte es auf den Punkt gebracht. Er hatte die Geschichte tatsächlich in eine neue Richtung treiben wollen, als er Eric das Handgelenk gebrochen hatte. Sein Freund kannte ihn ziemlich gut.

»Was ich sagen will …« Luc ließ nicht locker. »Es muss nicht so enden, wie du es dir ausgedacht hast.«

Nicholas biss die Zähne zusammen. Plötzlich waren da Erinnerungen in seinem Kopf. Erinnerungen an das, was er vor Jahren selbst geschrieben hatte. Blut. Schmerz. Eine Kugel, die sein Herz durchschlug …

Gott, was für theatralisches Zeug! Die Laune eines Teenagers. Er war einfach ein dummer Junge gewesen, der keine Ahnung davon gehabt hatte, dass sein Schreiben echte Konsequenzen nach sich zog.

»Übrigens …« Luc wartete, bis Nicholas ihn erneut ansah. »Dein Vater ist auf dem Weg hierher.«

Nicholas überraschte das nicht sonderlich, er hatte damit gerechnet. Sein Vater wusste, dass er sich gern hierher zurückzog, wenn er allein sein und nachdenken wollte. Und Nicholas war sich sicher, dass sein Vater auch längst von Mila wusste.

Er schaute zu dem schmalen Gang, der seitlich vom Altarraum abging und der einen Zugang schuf vom eleganten Stadthaus seiner Familie zu dem unterirdischen Gängelabyrinth, das ganz Paris durchzog.

Schritte von zwei Menschen drangen aus diesem Gang. Die einen waren eher leise, wie von teuren Ledersohlen. Die anderen klangen nach Stiefelabsätzen. Sein Vater kam als Erster in Nicholas’ Blickfeld. Er trug einen eleganten Designeranzug in Schwarz, maßgeschneidert, sodass er perfekt an seinem schlanken Körper saß. Seine italienischen Schuhe waren handgenäht. Villain Caruel war ein ebenso reicher wie mächtiger Mann. Sein Gesicht – das Nicholas’ so ähnlich sah – wirkte nicht wie sonst souverän und offen, sondern maskenhaft und verkniffen.

Ein zweiter Mann kam direkt hinter ihm. Er war groß, muskulös und wirkte grimmig, aber das tat er oft. Serge Lefevre war der persönliche Assistent von Nicholas’ Vater, eine Mischung aus Leibwächter und Mädchen für alles, der seinen Arbeitgeber wie ein Schatten begleitete.

Nicholas mochte ihn nicht besonders, was durchaus auf Gegenseitigkeit beruhte.

Serge wusste, zu welchen Dingen Nicholas – und auch Villain Caruel – fähig waren. In seinen Augen lag oft ein versteckter angewiderter Ausdruck deswegen. Nicholas fragte sich manchmal, warum er für die Caruels arbeitete und was sein Vater ihm dafür bezahlte, dass er über die Dinge schwieg, die er sah. Aber sie hatten nie mehr als belanglose Worte gewechselt und Nicholas hatte nicht vor, daran in der nächsten Zeit etwas zu ändern.

Caruel blieb abrupt stehen. »Nicholas«, sagte er nur.

Langsam stemmte Nicholas sich in die Höhe. »Du weißt es schon«, sagte er. Es war keine Frage. Das Schriftmal an seinem Handgelenk tat höllisch weh, aber er zwang sich, es nicht zu umklammern. Er wollte nicht, dass sein Vater es bemerkte.

Endlose Sekunden vergingen. Schließlich nickte Caruel. »Ich habe es nicht glauben können.« In seinem Blick stand der verzweifelte und völlig vergebliche Versuch, gefasst zu wirken.

»Tja«, sagte Nicholas nur.

Caruel schloss die Augen. Als er sie wieder öffnete, hob er seine Hand in die Höhe und zog den Hemdärmel zurück.

Auf seinem Arm leuchteten die gleichen Schriftzeichen wie bei seinem Sohn.

Nicholas fluchte. »Bei dir auch?« Er hatte befürchtet, dass das geschehen würde. Es war bereits mehrmals geschehen, aber Nicholas hatte gehofft, dass wenigstens sein Vater dieses Mal von dem Phänomen verschont bleiben würde.

Caruels Blick war nicht auf die Schrift, sondern in Nicholas’ Gesicht gerichtet. »Wie kann das sein?« Seine Stimme war rau und Nicholas wusste, was jetzt kommen würde. Sie hatten es in den letzten Jahren oft genug durchgekaut und doch hatte sein Vater offenbar das Bedürfnis, es immer und immer wieder zu wiederholen. Und genau das tat er auch jetzt.

»Das, was hier geschieht, Nicholas, ist noch nie zuvor geschehen«, sagte er. »Kein Fabelmächtiger hat je zuvor seine eigene Zukunft zu Ende geschrieben.«

»Genau!« Luc, der die ganze Zeit auf seinem Platz auf der Kirchenbank sitzen geblieben war, sprang ebenfalls auf. »Und es ist auch nicht so, wie wir alle angenommen haben. Es läuft anders ab!«

Gleichzeitig wandten Nicholas und Caruel ihm den Kopf zu.

»Die Realität«, stieß Luc hervor. »Sie stimmt nicht hundertprozentig mit dem überein, was Nicholas geschrieben hat. Es muss also vielleicht nicht … böse enden.«

Serge stand regungslos wie eine Statue im Hintergrund und machte ein ausdruckloses Gesicht.

Caruel sah seinen Sohn sinnierend an. »Nein«, sagte er. »Vielleicht nicht.« Er wandte sich ab, ging zu dem Altar hinüber und auf dem Weg dorthin zog er ein kleines Oktavheftchen aus seiner Anzugtasche.

»Was hast du vor?« Nicholas klang alarmiert.

Caruel antwortete nicht. Er schaute über den Altar hinweg, dann zog er einen Kugelschreiber aus seiner Hemdtasche, der dem, den Nicholas benutzte, sehr ähnlich sah.

»Ähm, Monsieur Caruel?« Plötzlich schien Serge nervös zu sein. Unruhig trat er von einem Bein aufs andere.

Caruel achtete nicht auf ihn. Sein Gesicht strahlte jetzt Entschlossenheit aus und er klickte die Kugelschreibermine heraus. »Ich habe keine andere Wahl.«

Nicholas trat einen Schritt vor, blieb wieder stehen. Er sah Serge an. »Halten Sie ihn auf«, presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

Serge reagierte nicht. Er wirkte unsicher, was er tun sollte.

»Halten Sie ihn auf«, wiederholte Nicholas. »Er will versuchen, meine Geschichte umzuschreiben, aber das darf er nicht. Auf mich hört er nicht.«

»Bleiben Sie, wo Sie sind, Serge!«, befahl Caruel.

Spannung lag in der Luft.

Serge dachte nach. Einige Sekunden verstrichen. Caruel setzte den Kugelschreiber auf die Seiten des Oktavheftchens.

»Bitte, Serge!«, Nicholas trat einen Schritt auf den Leibwächter seines Vaters zu.

Da endlich reagierte Serge. »Monsieur Caruel«, sagte er. »Vielleicht sollten Sie das wirklich lieber lassen.« In seiner Miene lag noch immer Verunsicherung.

»Denk an das, was Maman passiert ist.« Nicholas brachte die Worte nur als heiseres Flüstern heraus, aber sie hatten endlich die erhoffte Wirkung.

Caruel erstarrte. Dann setzte er den Kugelschreiber wieder ab. Er drehte sich um. Falten lagen um seine Augen. Die Linien zwischen Nasenflügeln und Mundwinkeln waren so tief, als hätte er sie sich mit einem Messer ins Fleisch geschnitten. Sekundenlang stand er einfach nur da.

Dann schleuderte er den Kugelschreiber mit einem frustrierten Aufschrei gegen die Wand der Krypta.

Mila stand an einem altmodischen Himmelbett mit Vorhängen aus schwerem dunkelrotem Samt. Im ersten Moment war sie verwirrt, aber dann begriff sie, dass sie träumte.

Sie träumte, wie sie die Hand ausstreckte und den Vorhang des Bettes zur Seite schob. Ein uralter Mann lag vor ihr – lang ausgestreckt, die Hände auf der Brust gefaltet. Sie wollte sein Gesicht betrachten, aber es ging nicht. Es war verschwommen, als schaue sie durch eine Milchglasscheibe. Nur seine Augen konnte sie erkennen. Sie waren offen. Er sah sie an und blickte doch durch sie hindurch.

»Du darfst nicht um mich trauern«, sagte er. Mila wusste, dass er nicht mit ihr sprach, sondern mit jemandem, der hinter ihr stand. Sie wollte sich umdrehen, aber sie konnte sich nicht rühren.

Der alte Mann machte einen Versuch, sich aufzusetzen, doch er war zu schwach dazu. Er hustete qualvoll. Dann wisperte er etwas, das Mila nicht verstehen konnte.

Sie beugte sich zu ihm hinab, brachte ihr Ohr an seinen Mund. Ein unangenehmer Geruch ging von ihm aus, er roch nach Alter und Krankheit und nach tiefer, unendlicher Verzweiflung.

»Verzeih mir!«, wisperte er, dann folgte ein weiteres Wort. Ein Name. Vor Anstrengung, ihn zu verstehen, kniff Mila die Augen zusammen. Die andere Person war noch immer da, das spürte sie, und sie spürte auch die Trauer, die diese Person ausstrahlte.

»Verzeih mir«, wiederholte der alte Mann und endlich verstand Mila den Namen. »Héloise …«

Mit einem Keuchen wachte sie auf. Sie zitterte, obwohl es warm im Raum war.

»Na, ausgeschlafen?«

Mila blinzelte. Jetzt erst wurde ihr klar, dass die winzige Wohnung mit dem leckeren Geruch von Tomatensoße und Knoblauch gefüllt war. Und vor allem mit der Gegenwart von Isabelle.

Ihre Freundin, die in der kleinen Küche gestanden und in einem Topf gerührt hatte, stürmte heran, zog Mila in eine aufrechte Position und umarmte sie.

»Du hast den Schlüssel gefunden, fein. Wie war deine Reise? Geht es dir gut? Hast du gut geschlafen? Wie schön, dass du da bist!« Die Sätze prasselten wie Maschinengewehrsalven auf Mila nieder, aber bevor sie auch nur einen Ton rausbringen konnte, stand Isabelle schon wieder an ihrem Kochtopf, rührte darin herum und trank gleichzeitig aus einem großen Glas Wein, das auf der Küchenzeile bereitstand. »Gott, ich dachte, du wachst nie auf. Das Essen ist gleich fertig.«

Von ihrer Position auf dem Sofa aus konnte Mila durch die offen stehende Küchentür sehen und ihr wurde von Isabelles Lebendigkeit ganz schwindelig. »Ganz okay. Ja. Geht so.«

Als Isabelle sich umdrehte und verständnislos die Augenbrauen hob, lachte Mila. »Das waren, wenn ich richtig mitgekommen bin, die Antworten auf deine Fragen. Meine Reise war ganz okay. Ja, es geht mir gut. Und geschlafen hab ich geht so.« Sie wies auf die düsteren Bilder an den Wänden. »Die sind offenbar nicht gut für meinen Schönheitsschlaf.«

Isabelle stemmte die Hände in die Hüften und fing an zu lachen. »Ach, Süße, du bist wirklich einmalig!«

Mila musste mitlachen und ihr wurde bewusst, dass es das erste Mal war, seit sie in Paris war. Sie schwang ihre Beine über die Sofakante. Trotz des Traumes fühlte sie sich erholt und viel besser als vorhin. »Wie spät ist es eigentlich?«, fragte sie.

Sie schaute aus dem niedrigen Fenster. Die Sonne war bereits hinter den Dächern der Nachbarhäuser verschwunden.

»Kurz vor halb neun«, sagte Isabelle. »Essen ist gleich fertig.«

Halb neun! Das hieß, Mila hatte mehrere Stunden geschlafen! Sie trat zum Tisch und nahm sich ein Glas Wasser, das sie durstig austrank.

Isabelle sah es und rümpfte die Nase. Dann goss sie ein zweites Glas von ihrem Rotwein ein und reichte es Mila. »Hier.«

Der Wein war dunkelrot und verströmte einen intensiven Geruch nach Brombeeren und Schokolade. Vorsichtig nahm Mila einen Schluck. Er schmeckte schwer und ziemlich lecker und es fühlte sich verblüffend gut an, ihn zu trinken. Wie ein Akt der Rebellion. So, als sei ihre Flucht von zu Hause jetzt erst Wirklichkeit geworden.

Isabelle, die sie beobachtet hatte, schien zu spüren, über was sie nachdachte. »Was macht deine Mutter?«, fragte sie vorsichtig.

Mila stellte das Weinglas ab, drehte es auf dem Tisch im Kreis. »Keine Ahnung.« Sie klang aufsässig, das hörte sie selbst. Und es lag an ihrer Unlust, sich mit dem Thema zu beschäftigen. Trotzdem zog sie das Handy aus der Hosentasche und warf einen Blick darauf.

Helena hatte es offenbar aufgegeben, ihr weitere Nachrichten zu schicken. In den letzten Stunden war keine weitere mehr gekommen. Seltsamerweise ärgerte Mila das fast genauso sehr wie das vorherige Bombardement. Wollte Helena sie jetzt durch Missachtung bestrafen?

Sie schaltete das Handy aus und legte es auf den Tisch neben das Weinglas. Sie würde nicht mehr an ihre Mutter denken. Sie war in Paris und bei Isabelle. Und das wollte sie verdammt noch mal genießen.

»Soll ich dir beim Kochen helfen?«, fragte sie.

Isabelle lächelte sie an. »Du kannst schon mal das Baguette schneiden.« Sie zog sie in die Küche, zeigte ihr das Schneidebrett und wenig später waren beide in eine eingehende Unterhaltung über ein paar Leute vertieft, die sie aus dem Künstlercamp kannten.

So war es immer mit Isabelle: Auch wenn sie sich länger nicht sahen, konnten sie dort anknüpfen, wo sie stehen geblieben waren. Isabelle war vor über einem Jahr in Berlin gewesen und hatte ein paar Tage bei Mila gewohnt. Jetzt fühlte es sich so an, als hätten sie sich gerade erst verabschiedet. Mila erfuhr, dass ihre Freundin, genau wie sie selbst, gerade eine gescheiterte Beziehung hinter sich hatte. Als sie nachfragte, tat Isabelle es mit einem schnöden Achselzucken ab. »Victor war ein Freak«, behauptete sie und nahm noch einen Schluck aus ihrem Glas.

Mila dagegen hatte ihr Weinglas auf dem Tisch stehen lassen. Noch immer kreiste ihr der Kopf von der Reise und sie trank selten Alkohol.

Als das Essen schließlich fertig war, deckten sie den Tisch und während sie aßen, schien Milas Welt sich endlich wieder in vertrauten Bahnen zu bewegen.

Nur einmal, als Isabelle fragte, wie ihre Fahrt hierher gewesen war, dachte Mila an all die schrägen Dinge, die ihr seit ihrer Ankunft in Paris passiert waren. Sie zögerte, überlegte, was sie ihrer Freundin erzählen sollte. »Im Zug saß mir ein ziemlich sonderbarer Kauz gegenüber«, sagte sie schließlich.

Isabelle, die ihren leer gegessenen Teller mit einem Stück Baguette abwischte, schaute interessiert auf. Sie stand auf sonderbare Käuze, das wusste Mila.

»So ein alter Mann«, führte sie darum aus. »Ziemlich aufdringlicher Typ. Er wollte sehen, was ich schreibe.«

Isabelle schob sich das Brot in den Mund. »Und? Hast du es ihm gezeigt?«

Mila nickte.

Isabelle kaute und wartete.

»Seltsam, oder?«, meinte Mila. »Ich habe keine Ahnung, wieso ich das getan habe. Ich zeige meine Sachen sonst fast nie jemandem, aber diesmal fühlte es sich irgendwie richtig an. Meine Szene hat ihn an eine alte Liebesgeschichte erinnert. Wir haben allerdings nicht näher darüber gesprochen.«

»Paris und die Liebe …« Isabelle schob ihren Teller beiseite. »So, Herzensfreundin«, sagte sie. »Du hast gegessen, ich hab getrunken«, sie deutete auf ihr Glas Wein, »wir haben alle unsere Bekannten durchgehechelt. Zeit also, zu den wirklich wichtigen Themen zu kommen. Jetzt erzählst du Tante Isabelle mal, was genau bei dir zu Hause los ist.« Als Mila zusammenzuckte, lachte sie. »Und nichts auslassen, ja? Ich kenne dich schließlich.«

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