Читать книгу Fabelmacht Bundle - Kathrin Lange - Страница 12
ОглавлениеAm nächsten Morgen schien die Sonne hell in Milas kleine Kammer, die Isabelle für die Dauer von Milas Besuch für sie freigeräumt hatte. Mila erwachte aus einem Traum, an den sie sich nur schlecht erinnern konnte. Alles, was sie noch wusste, war, dass in diesem Traum eine dunkle Stimme gefleht hatte: »Lass mich gehen!«
Sie setzte sich im Bett auf, rieb sich den Schlaf aus den Augen und lauschte auf die Geräusche, die aus der Wohnung kamen. Der schwache Duft von Kaffee drang unter der Tür hindurch.
»Guten Morgen!«, begrüßte Isabelle sie gut gelaunt, als sie sich aus dem Bett geschwungen hatte und auf bloßen Füßen und im Schlaf-T-Shirt aus ihrem Zimmer getappt war. Der buttrige Duft frischer Croissants gesellte sich zu dem des Kaffees und ließ Mila das Wasser im Mund zusammenlaufen.
Kurzerhand setzte sie sich auf einen der Stühle an den Tisch und zog ein Bein unter ihren Po. »Lecker!« Isabelle grinste. »Na? Von einem sexy Mistkerl mit Schlafzimmeraugen und unmöglicher Frisur geträumt?« Es störte Mila, wie sie über Nicholas redete. Aber sie konnte es natürlich verstehen. »Ja, sicher«, konterte sie. Und streckte Isabelle die Zunge raus.
Ihre Freundin lachte. Dann jedoch machte sie ein schuldbewusstes Gesicht und schob Mila ihr Handy über den Tisch zu. »Es hat heute Morgen schon dreimal geklingelt. Und da du noch geschlafen hast, habe ich gedacht, ich gucke mal nach, ob es etwas Wichtiges ist.«
Mila drehte das Telefon zu sich herum. Ein Blick in die Anruferliste ließ sie aufstöhnen. Nach Isabelles Frage gestern, ob sie tanzen gehen wolle, hatte Mila an Helena denken müssen und ein schlechtes Gewissen gehabt. Also hatte sie Helena wenigstens eine Nachricht geschickt. Sie hatte ihr geschrieben, dass sie eine weitere Nacht bei ihrer Freundin verbringen würde, was ja, genau genommen, nicht gelogen war. Und daraufhin hatte Helena mit einem für sie völlig untypischen »Okay. Pass auf dich auf!« geantwortet, über das Mila sich fast gefreut hatte.
Vielleicht, so hatte sie gedacht, lernte ihre Mutter endlich, dass sie kein kleines Kind mehr war.
Allerdings hatte Helena während der Nacht offenbar beschlossen, ihren Kontrollzwang nicht länger zu unterdrücken. Alle drei Anrufe waren von ihr gekommen.
Mila seufzte.
»Na«, sagte Isabelle. »Willst du meine Meinung hören?«
Mila nahm missmutig ein Croissant und riss es in der Mitte durch.
Isabelle verstand das als Zustimmung. »Ich denke, du hast allen Grund, sauer auf sie zu sein, aber findest du nicht, du hast sie genug gestraft?« Sie hatte ihre Haare noch nicht gekämmt und wirkte zerzaust. Eine Windsbraut. Eine moderne rothaarige Hexe, dachte Mila und betrachtete eines der Bilder, die neben dem Esstisch an die Wand gelehnt standen. Es war eine von Isabelles Auftragsarbeiten, eine Ansicht der Kathedrale Notre-Dame in schreiend bunten Farben und leicht zerflossen wirkender Optik.
»Meinst du, ich soll ihr sagen, wo ich bin?«, fragte Mila.
»Keine Ahnung.« Isabelle stellte einen Fuß auf die Kante ihres Stuhles und umschlang ihr Knie mit den Armen. »Du hast mir erzählt, dass deine Mutter Schreikrämpfe kriegt, wenn jemand Paris auch nur erwähnt.«
Mila seufzte erneut. Das Croissant in ihrer Hand war noch ein bisschen warm und sehr fettig. Sie legte es auf ihren Teller und rieb sich die Finger. »Vielleicht sollte ich rausfinden, was mit meinem Vater und meinem Bruder passiert ist, bevor ich mit ihr spreche.«
»Vielleicht.« Es war deutlich, dass Isabelle das nicht wirklich meinte.
»Wenn ich sie jetzt anrufe und ihr sage, wo ich bin, flippt sie doch total aus! Aber wenn ich weiß, was mit den beiden passiert ist, kann ich vielleicht …« Mila zuckte mit den Schultern. Sie hatte keine Ahnung, was sie dann tun konnte. Aber in ihr meldete sich wieder dieser unbändige Wunsch, etwas über ihren Vater und ihren Bruder zu erfahren.
»Ihr beide redet nicht viel über eure Gefühle, oder?«, murmelte Isabelle.
Mila schüttelte den Kopf. »Ja und nein. Einerseits klammert sie extrem, ist so überbesorgt, dass man es kaum aushalten kann. Ständig will sie wissen, wie es mir geht, fragt, was ich fühle und so.«
»Irgendwie verständlich, oder?«
Ja, das war es. Immerhin hatte Helena schon ein Kind verloren.
»Klar«, antwortete Mila. »Aber auf der anderen Seite spricht sie eigentlich nie über sich selbst. Sie packt alles, was sie empfindet, immer nur in ihre Bücher.«
Rätselhafte Bücher, dachte sie. Völlig unverständliches, literarisches Zeug.
Sie spürte selbst, wie traurig ihr Lächeln war. »Ich erinnere mich daran, dass wir mal gestritten haben und ich ihr vorgeworfen habe, wie sehr sie mich an eine lebende Statue erinnert. Völlig versteinert. Das war, nachdem eine Nachbarin von uns gestorben ist, eine alte Frau, die sich ein bisschen um mich gekümmert hat. Ich war untröstlich damals und ich habe meiner Mutter vorgeworfen, dass sie gar nichts zu empfinden schien. Weißt du, was sie mir geantwortet hat?«
Isabelle schüttelte den Kopf. Sie saß jetzt ganz still. Ihr Ellenbogen lag auf ihrem Knie, ihre Pupillen waren weit und dunkel.
»Sie hat gesagt, dass sie sehr wohl traurig ist. Und als ich sie gefragt habe, warum man das dann gar nicht merkt, hat sie gesagt, es käme ihr verschwendet vor, ihre Traurigkeit zu fühlen, statt Literatur daraus zu machen.« Mila schossen Tränen in die Augen. »Kannst du dir das vorstellen? Sie ist allen Ernstes der Meinung, sie verschwendet ihre Gefühle, wenn sie sie empfindet, statt über sie zu schreiben.«
Isabelle schüttelte sachte den Kopf. »Also für mich klingt das eher, als würde sie nach einer Ausrede suchen, um keine Emotionen zuzulassen. Wer weiß, was es mit ihr gemacht hat, ihren Mann und ihr Kind zu verlieren. An so was sind schon viele zerbrochen.«
Mila seufzte tief. »Ja. Wahrscheinlich hast du recht.« Sie schob den Teller mit dem Croissant von sich, griff nach ihrem Handy, ließ es aber sofort wieder los. »Habe ich eigentlich schon Danke dafür gesagt, dass ich hier bei dir sein darf?«
»He! Wer weicht jetzt den schmerzhaften Themen aus?« Isabelle erhob sich. Sie umrundete den Tisch und zog Mila in ihre Arme. »Du kannst bleiben, so lange du willst, Süße. Das weißt du. Und wenn du möchtest, helfe ich dir rauszufinden, was mit deinem Vater und deinem Bruder passiert ist.«
Die Umarmung und das unverhoffte Hilfsangebot verursachten Mila einen Kloß im Hals. »Wie willst du das anstellen?«
»Pass auf.« Isabelle ließ sie los und schnappte sich ihr eigenes Handy, das neben ihrer Tasse lag. Sie wählte eine Nummer und als sich am anderen Ende jemand meldete, rief sie: »Victor! Ich bin’s! – Ja. Wirklich.« Sie lauschte, wie gesprochen wurde, und Mila brauchte einen Moment, bis sie zusammenbekam, mit wem ihre Freundin da redete. Victor war der Name des Typen, von dem Isabelle sich gerade erst getrennt hatte.
»Ich weiß«, sagte sie. »Ja. Aber darüber sprechen wir ein andermal.« Sie warf Mila einen ziemlich komisch aussehenden, verzweifelten Blick zu und machte eine Geste, als wolle sie sich mit einem Strick um den Hals aufhängen. Dann wurde ihre Stimme merklich heller und ungeheuer schmeichelnd.
»Hör mal, kannst du mir einen Gefallen tun? Ich sitze hier gerade mit einer Freundin zusammen, die nach Paris gekommen ist, um ein bisschen was über ihre Familie nachzuforschen. – Ich weiß, Victor, und das ist auch wirklich ein Riesengefallen, das ist mir ja klar. Aber wir kommen hier wirklich nicht weiter, wenn du uns nicht hilfst. – Ja. – Ob ich mit dir ausgehe, wenn du mir hilfst?« Sie wiederholte die Geste mit dem Strick. Diesmal ließ sie auch noch die Zunge heraushängen.
Mila war gleichzeitig belustigt und unangenehm berührt, weil sie Victor so schamlos belog und ausnutzte.
»Korrigier mich, wenn ich mich irre, aber hatten wir nicht … schon gut«, sagte Isabelle. »Also, ja. Aber du bezahlst!«
Victor ließ einen längeren Wortschwall folgen, den Isabelle irgendwann einfach unterbrach.
»Okay: Wir brauchen eine Information darüber, wo zwei Menschen gewohnt haben, die … warte …« Sie sah Mila an. »Wann sind sie genau gestorben?«
»Ganz genau weiß ich es nicht. Aber meine Mutter muss hochschwanger mit mir gewesen sein. Kurz nach meiner Geburt ist sie dann aus Paris weg.« Mila nannte Isabelle ihr genaues Geburtsdatum und Isabelle gab es an Victor weiter.
»Irgendwann um diese Zeit müssen die beiden gestorben sein. Ihre Namen lauten Jacques und Antoine Corbeil. Die Ehepartnerin war Helena Corbeil. Kannst du uns sagen, wo die Familie gewohnt hat?«
Es folgte eine Pause am anderen Ende der Leitung. Isabelle nahm das Telefon vom Ohr und hielt es mit der flachen Hand zu. »Victor ist ein Ass am Computer. Der kommt in jedes Netzwerk, ich glaube, er hat sich sogar schon einmal in eine Behörde gehackt. Vielleicht findet er raus, wo die beiden gelebt haben.«
Mila nahm sich wieder ihr Croissant und biss hinein, obwohl sie gar keinen Appetit verspürte. Anspannung ergriff sie, eine Art Kribbeln, wie Strom, der an ihre Wirbelsäule gelegt wurde. Was würde sie mit der Information anfangen, wo ihre Familie früher gelebt hatte? Sollte sie dorthin fahren und Nachbarn befragen? Die Vorstellung hatte etwas Aufregendes an sich und gleichzeitig war sie auch beängstigend. Sie dachte daran, wie hysterisch die sonst so beherrschte Helena immer reagiert hatte, wenn Mila sie nach ihrer Zeit in Paris gefragt hatte. Vielleicht gab es da etwas, das sie lieber gar nicht wissen wollte.
Sie hatte das Croissant halb aufgegessen, als Victor an den Hörer zurückkehrte und Isabelle ihr zuzwinkerte. »Ja? – Gut. Warte einen Moment, ich hole mir nur was zum Schreiben.« Sie rannte in die Küche, holte einen Notizblock aus einer Schublade und knallte ihn auf die Arbeitsplatte. Schließlich schrieb sie eine Adresse auf und riss den Zettel vom Block. »Danke, Schatz!«, flötete sie anschließend. »Melde dich, ja? Dann machen wir etwas aus.« Sie legte auf, bevor Victor noch etwas sagen konnte. »Tadaa!« Triumphierend präsentierte sie Mila den Zettel. »Wir wissen jetzt, wo sie damals gewohnt haben.«
Mila war sich noch immer nicht sicher, was sie mit dieser Information anfangen sollte. Sie stand auf, nahm Isabelle den Zettel aus der Hand und starrte auf die Adresse, die Isabelle mit ihrer kaum leserlichen Handschrift geschrieben hatte.
41 Rue Madame.
»Wo ist das?«, fragte sie.
Isabelle hatte schon auf ihrem Handy nachgeschaut. »In Notre-Dame-des-Champs, ganz in der Nähe des Jardin du Luxembourg.« Sie blies sich gegen die Stirn. »Deine Eltern scheinen ziemlich betucht gewesen zu sein. Das ist eine sauteure Wohngegend.«
Betucht? Mila dachte an ihre Dreizimmerwohnung in Berlin, die nicht wirklich nach Reichtum aussah.
Isabelle wartete, was sie nun sagen würde, und während die Sekunden verstrichen, keimte in Mila tatsächlich der Wunsch auf, sich das Haus anzusehen, in dem ihre Eltern damals gelebt hatten. Sie wusste nicht, ob sie wirklich für das gewappnet war, was da auf sie zukam, aber wenigstens würde es sie von dem ablenken, was gestern Abend in dem Club passiert war.
Isabelle grinste breit. »Also?«
Mila blickte an ihrem Schlafshirt hinab. »Ich gehe duschen. Und dann fahren wir in die Rue Madame.«
Isabelles Grinsen verwandelte sich in ein fröhliches Lachen. »Das ist mein Mädchen!«, rief sie aus.
41 Rue Madame erwies sich als eines dieser typischen dreistöckigen Pariser Stadthäuser aus hellem Sandstein und mit schmiedeeisernen Balkons vor jedem Fenster. In seinem Erdgeschoss befand sich ein kleiner Friseurladen. Die Werbeplakate im Fenster zeigten magersüchtige Frauen mit Haaren in Bordeauxrot und knalligem Violett. Direkt gegenüber lag eine Grundschule, deren Hof von einer hohen Mauer aus gelbem Backstein umgeben war. Es war gerade Pause und da in Frankreich die Sommerferien erst Anfang August begannen, war der Schulhof voll mit lärmenden Kindern. Als Mila das Gesicht der Sonne zuwandte und die Augen schloss, hörte es sich an, als sei sie in einem Freibad. Sie stellte es sich einen Moment lang vor.
Dann jedoch konnte sie es nicht mehr länger hinauszögern. Sie öffnete die Augen wieder, richtete sie auf die doppelflüglige Eingangstür aus dunklem Holz. Hinter dieser Tür hatten ihre Eltern gelebt. Und durch sie war ihr Vater vermutlich auch an jenem Tag gegangen, an dem er gestorben war. Und ihr Bruder. Sie wusste nicht einmal, wie viel älter als sie er gewesen war.
Ihre Kehle zog sich zusammen.
Sie ließ den Blick an der dreistöckigen Fassade nach oben wandern. Hinter welchem dieser Fenster hatte wohl ihre Wohnung gelegen? Vielleicht im ersten Stock, wo jetzt mehrere Blumentöpfe auf den Fensterbänken standen, oder vielleicht auch ganz oben. Mila stellte sich vor, wie ihre Mutter dort an einem Schreibtisch gesessen hatte, von dem aus man hinunter in den Schulhof schauen konnte. Ihr wurde noch elender zumute. Es fühlte sich an, als könne sie den Geist ihres Vaters hier herumschleichen spüren und er würde ihr seinen kalten Atem in den Nacken blasen. Sie umklammerte sich selbst mit beiden Armen und fröstelte.
Isabelle stand neben ihr und wartete, bis ihre Beklommenheit sich legte. Als Mila sie unsicher anschaute, lächelte sie aufmunternd.
Rechts neben der Tür war ein Klingelbrett angebracht. Eine Reihe Namen. Natürlich lautete keiner davon Corbeil.
Mila zog die Unterlippe zwischen die Zähne. Und dann, ohne weiter nachzudenken, drückte sie einfach auf eine der unteren Klingeln.
Isabelle trat ein Stück näher an sie heran. Es dauerte einige Augenblicke, dann ertönte der Türsummer. Mila stieß den rechten Türflügel auf und fand sich in einem dunklen, kühlen Flur wieder, in dem drei Stufen zu den ersten beiden Wohnungen hinaufführten. Der Boden war in schwarz-weißem Schachbett-muster ausgelegt, die Briefkästen auf der rechten Seite schienen noch aus der Zeit zu stammen, in der das Haus gebaut worden war. Sie waren dunkelgrün lackiert und reich verziert. Aus einem ragten ein ganzer Wust Prospekte und ein großer brauner Umschlag hervor.
Zögernd ging Mila die drei Stufen hoch. In der Wohnungstür rechts stand eine sehr alte, dickliche Frau und blickte ihr neugierig entgegen. »Ich dachte, Sie sind der Postbote«, sagte sie statt einer Begrüßung. Sie hatte eine Stimme, die wie Blätterrascheln klang.
»Nein.« Mila trat näher und räusperte sich unbehaglich. »Nein, tut mir leid. Mein Name ist Émilie Corbeil. Ich bin …«
»Corbeil!« Das rundliche Gesicht der Frau verdüsterte sich. »Sind Sie etwa mit Helena und Jacques Corbeil verwandt, die früher hier gelebt haben?«
Mila nickte, gleichzeitig überwältigt davon, dass es so einfach war, und erschrocken, weil die Frau plötzlich abweisend wirkte. Isabelle legte ihr eine Hand unter den Ellenbogen, als könne sie spüren, dass Milas Knie angefangen hatten zu zittern.
»Dann kannten Sie meine Eltern?« Mila versuchte, sich an den Namen auf ihrem Klingelschild zu erinnern. E. Fourier hatte dort gestanden.
Die alte Frau musterte sie von Kopf bis Fuß. »Sie müssen das Mädchen sein, das Helena zur Welt gebracht hat, kurz bevor sie Paris verlassen hat.«
Mila nickte. Noch immer wirkte Madame Fouriers Gesicht misstrauisch und verschlossen. Wenn sie Milas Eltern tatsächlich gekannt hatte, dann hatte sie definitiv keine guten Erinnerungen an sie. »Bitte!«, rief Mila. »Sie müssen mir …«
»Gar nichts muss ich! Helena und Jacques waren sonderbare Zeitgenossen. Keine Ahnung, wie sie sich eine Wohnung in diesem Stadtviertel leisten konnten. Gearbeitet haben sie zumindest beide nicht – wenn man mal davon absieht, dass sie immerzu an irgendwelchen Büchern schrieb und ständig die sonderbarsten Leute mit hierherbrachte.« Madame Fourier wies gen Decke. Sie war einen halben Kopf kleiner als Mila und in einen grauen Rock und einen rosafarbenen Strickpullover gekleidet, der ihr lose über die rundlichen Hüften fiel. Aus ihrer Wohnung drang ein atemberaubender Geruch nach Lavendel und Kampfer, der ganz hinten in der Kehle kratzte. Irgendein Vogel zwitscherte in einem der Räume mit den hohen, stuckverzierten Decken.
»Wissen Sie jemanden, der die beiden besser gekannt hat?«, fragte Mila. »Wissen Sie, wie mein Vater gestorben ist?«
Jetzt endlich wurde Madame Fouriers Miene ein bisschen weicher. Mila konnte nicht entscheiden, ob das daran lag, dass sie Mitleid mit ihr hatte, oder aber, ob sie einfach nur Gefallen an dem morbiden Thema fand. »Das hat nie jemand erfahren, Kind. Aber es war sehr seltsam, das können Sie mir glauben.« Sie zog ihren Pullover vor dem Bauch nach unten, sodass sich die rosarfarbenen Maschen dehnten. »Also, wenn Sie mich fragen, dann hat diese Frau, Ihre Mutter, nicht mehr alle Tassen im Schrank gehabt. Ich meine: Wer schreibt denn Buch um Buch über diesen schrecklichen Friedhof? Mein Maurice hat mal versucht, eines davon zu lesen. Seiner Meinung nach ist der arme Mann von seiner Frau in den Tod …« Ihr schien schlagartig bewusst zu werden, mit wem sie hier sprach, denn sie unterbrach sich mitten im Satz. Ihr Gesicht wurde vor Verlegenheit puterrot, dann wich sie in ihre Wohnung zurück. »Gehen Sie lieber!«, verlangte sie.
Mila klingelten die Ohren.
Hatte diese alte Schachtel tatsächlich behaupten wollen, Helena habe ihren Vater in den Tod getrieben?
Mila legte die flachen Hände an ihre Wangen. »Mein Bruder …« Sie konnte jetzt nur noch flüstern, aber Madame Fourier schien genug geredet zu haben.
»Gehen Sie!«, wiederholte sie. Dann schlug sie ihr die Tür vor der Nase zu und Mila stand da wie mit eiskaltem Wasser übergossen.
»So viel dazu«, murmelte Isabelle. Ihre Hand wanderte erneut unter Milas Ellenbogen.
Die Kinder auf dem Schulhof lärmten noch immer, als Mila begleitet von ihrer Freundin wieder hinaus in den Sonnenschein trat. Jetzt jedoch hörte sich das Lachen und Kreischen fern und dumpf an. Jemand schien Watte in Milas Ohren gestopft zu haben.
»Alles in Ordnung?«, hörte sie Isabelle fragen.
Mechanisch nickte sie. Und nun? Was hatte sie mit ihrer Idee hierherzukommen erreicht? Nichts, außer dass sich zu den Rätseln, die Helena ihr sowieso schon aufgegeben hatte, noch ein weiteres gesellt hatte. Ob etwas dran war, dass ihre Mutter ihren Vater in den Tod …? Nein! Das war doch nur das boshafte Gequatsche einer missgünstigen, alten Frau! Mila verbannte es aus ihren Gedanken und ließ ihren Blick über die Klingeln schweifen. Vielleicht hatten neben Madame Fourier noch andere Bewohner dieses Hauses ihre Eltern gekannt. Aber selbst wenn das der Fall war, Mila wusste, dass sie nach der Begegnung mit der ehemaligen Nachbarin weitere Gespräche über das Thema erst einmal nicht ertragen würde. Ihr sehnlichster Wunsch war, sich in irgendein kleines Lokal zu setzen, einen Milchkaffee zu trinken und ihre wirbelnden Gedanken zu beruhigen.
Und genau das taten sie auch. Sie suchten sich eine Crêperie in der Rue de Médicis mit Blick auf den Jardin du Luxembourg und ließen sich so erschöpft auf die schmiedeeisernen Stühle fallen, als hätten sie die gesamte Stadt im Laufschritt durchquert.
Milas Herz jagte noch von den Worten der alten Frau, aber nachdem sie etwas getrunken und ihre flatternden Nerven mit einem großen Stück Nusskuchen beruhigt hatte, ging es ihr langsam besser.
»Glaubst du wirklich, dass deine Mutter …«
Mila hob die Hand und brachte Isabelle damit zum Schweigen, bevor sie ihre Frage ganz ausgesprochen hatte. »Nimm es mir nicht übel«, sagte sie. »Aber ich brauch erst einmal eine Pause. Am liebsten würde ich eine Weile an etwas ganz anderes denken.«
Isabelle nickte verständnisvoll.
Milas Bilck fiel auf einen Souvenirladen gegenüber, der außer blinkenden Eiffeltürmen, Postkarten und Regenschirmen auch Poster mit den Sehenswürdigkeiten der Stadt verkaufte. »Weißt du, was?«, sagte sie. »Für den Rest des Tages werde ich einfach eine ganz normale Touristin sein.«
Maréchal stand an diesem Vormittag mit Kopfschmerzen an seinem Bücherstand. Er hatte schlecht geschlafen, und das lag vermutlich nicht nur an der Flasche Rotwein, die er gestern Abend getrunken hatte, sondern auch am Auftauchen dieses geheimnisvollen Alten im grauen Mantel.
Während er ein paar Bücher wegsortierte, die eine junge Studentin sich angesehen hatte, dachte Maréchal daran, wie er vorgestern versucht hatte, nähere Informationen aus dem Alten herauszubekommen. Warum hatte er bei dessen Anblick sofort gewusst, dass es um Nicholas und seine Geschichte ging? Was wusste der Alte selbst über alles? Und nicht zuletzt: Wer war er? Doch der alte Mann hatte keine von Maréchals Fragen beantwortet. Er war einfach davongegangen und Maréchal hatte nichts weiter tun können, als ihm verblüfft nachzuschauen.
Sein nächster Kunde heute Morgen war ein etwa vierzigjähriger Mann. Er blätterte eine Weile lang durch die Taschenbuchausgaben alter Kriminalromane von Georges Simenon, entschied sich dann allerdings für einen zerlesenen Bildband über die Katakomben. Maréchal gab ihm eines seiner Zettelchen und mit einem Lächeln im Gesicht sah er zu, wie der Mann im Weitergehen das Gedicht las, das Blatt dann zusammenfaltete und in sein Buch steckte.
Die Welt drehte sich weiter. Egal, was mit Nicholas passierte.
Als Maréchal sich nach dem Gespräch mit dem Kunden in die andere Richtung wandte, sah er ein junges Mädchen aus einer kleinen Seitengasse kommen, den Quai Saint-Michel überqueren und dann in direkt in seine Richtung steuern.
Sie war hübsch auf diese besondere Weise, die nicht von teurer Kleidung oder Schminke kam, sondern völlig natürlich wirkte. Sie hatte wirre blonde Locken und einen blassen, ebenmäßigen Teint. Die Art, wie sie daherging in ihren flachen Schuhen und mit den über den Knöcheln hochgekrempelten Beinen ihrer Jeans, hatte etwas Beschwingtes, Lebendiges.
Eine junge Frau mit roten Haaren war bei ihr und die beiden unterhielten sich angeregt, aber irgendwie ernsthaft. Maréchals Blick konnte sich nicht von dem Mädchen lösen, das ein paar Stände weiter stehen blieb und die Bücher anschaute. In seinem Kopf entstand ein Summen.
Das Mädchen, hörte er wieder den geheimnisvollen Alten sagen. Sie kommt gerade auf dem Gare de l’Est an. Und: Nicholas’ Geschichte. Sie beginnt.
Konnte es sein …?
Er sah zu, wie das Mädchen mit seinem Buchhändlerkollegen über den Preis für ein altes Buch verhandelte. Der Kollege war sichtlich angetan von ihr, das war deutlich zu erkennen. Er scherzte und flirtete, wie er das mit anderen Kundinnen sonst nur selten tat.
Trotz allen Flirtens wurden er und das Mädchen sich aber über den Preis nicht einig. Das Mädchen stellte das Buch zurück, dann machte ihre Freundin einen Scherz, über den sie alle drei lachten. Und nur wenige Sekunden später traten die beiden an Maréchals Stand.
Sein Blick und der des Mädchens begegneten sich und Maréchals Herz wurde schwer.
Sie hatte Helenas Augen.
Hellblau, mit langen, seidigen Wimpern. Fünf der Sommersprossen auf ihrer Wange bildeten die Form eines unregelmäßigen Ws, ganz ähnlich dem Sternbild der Kassiopeia.
»Guten Tag, Monsieur«, sagte sie ganz unbefangen und dann ging ihr auf, dass er sie anstarrte. »Ist irgendwas nicht in Ordnung?«, fragte sie und wischte sich reflexartig über die Wange.
Er schüttelte den Kopf. Auch ihre Stimme ähnelte der von Helena. Du liebe Zeit! »Nein«, beeilte er sich zu sagen und legte seine Hand auf sein Herz. »Nein. Tut mir leid. Ich wollte dich nicht anstarren. Du erinnerst mich nur an eine alte Freundin.«
Sie nickte lächelnd und wandte sie sich seinen Auslagen zu. Eine ganze Weile lang ließ sie den Blick einfach über die zahllosen Rücken schweifen und als sie sich dazu entschied, eines der Bücher in die Hand zu nehmen, tat sie es mit einem Ausdruck von Ehrfurcht, der sie Maréchal auf Anhieb sympathisch machte.
Der Band, für den sie sich entschieden hatte, war jener von Baudelaire, den die junge Frau mit dem Turban und den stark geschminkten Augen vorgestern wieder weggelegt hatte.
Das Mädchen schlug ihn beim Inhaltsverzeichnis auf und überflog es kurz. Dann blätterte sie bis zu einer bestimmten Stelle.
Ihre rothaarige Freundin schaute ihr über die Schulter. »Herbstende! Winter! Frühling mit schlammigem Eise?«, fragte sie.
Das Mädchen nickte. »Das war das Gedicht, mit dem dieser Eric mich vorgestern eingewickelt hat. Kurz bevor er mich beklaut hat und Nicholas gekommen ist.« Ein schmerzlicher Ausdruck huschte über ihr Gesicht und plötzlich kam sie Maréchal schutzbedürftig und zerbrechlich vor.
Nicholas.
Hatte er eine Gewissheit gebraucht? Seit dem Besuch des alten Mannes hätte ihm klar sein müssen, was passieren würde. Aber er hatte es vor sich selbst geleugnet, hatte mit seiner ganzen Kraft gehofft, dass dieser Kelch an ihm vorbeigehen würde. Unaufhörlich hatte er seitdem an Nicholas denken müssen. Und an Zoë. Vor allem aber an seine eigenen Albträume, die er seit Langem überwunden geglaubt hatte.
Er kratzte sich den Bart und sah dabei zu, wie das Mädchen den Preis des Baudelaire-Bandes las. Welchen Namen trug sie in Nicholas’ Geschichte? Mila. Er blinzelte, als sie mit einem bedauernden Ausdruck das Buch wieder wegstellte.
»Zu teuer?«, wollte er wissen. Er musste sich räuspern, bevor er sprechen konnte.
Sie nickte. Dann lächelte sie schüchtern, so, als sei es ihre Schuld. »Wollen wir weiter?«, wandte sie sich an ihre Freundin.
Die nickte. »Notre-Dame ist gleich dahinten. Nur noch über die Brücke und dann sind wir da.«
Das Mädchen wischte sich eine Locke aus dem Gesicht. »Gott sei Dank. Mir tun ganz schön die Füße weh.« Sie hakte sich bei ihrer Freundin ein, wünschte Maréchal einen schönen Tag und setzte ihren Weg fort.
Maréchal sah den beiden nach. Als das Mädchen auch beim nächsten Bücherstand stehen bleiben wollte, hörte er ihre Freundin rufen: »Himmel, Mila! Wie viele Bücher kann man denn noch betrachten?«
Und als die beiden scherzend die Petit Pont überquerten und den großen, von sauber gestutzten Rasenflächen und blühenden Blumenbeeten umgebenen Platz vor der Kathedrale betraten, stand Maréchal immer noch wie vom Donner gerührt an seinem Platz.
Mila.
Der Alte im grauen Mantel hatte also recht gehabt.
Es begann.
Zitternd griff Maréchal nach dem Baudelaire-Band und schrieb etwas auf die erste Seite. Mit einem eisigen Gefühl im Magen klemmte er das Buch unter den Arm, schloss seinen Stand ab und folgte Mila und ihrer Freundin.
Notre-Dame war der absolute Hammer. Schon in dem Augenblick, als Mila das hoch aufragende Kirchenschiff betrat, war sie von der Atmosphäre völlig verzaubert. Das Licht, das durch die oberen Fenster der Lichtgaden fiel, hatte einen überirdischen Schimmer, der die gesamte Atmosphäre in der Kirche geheimnisvoll wirken ließ.
Vorne im Chor sang eine kleine Gruppe ein altes Kirchenlied und die Stimmen der Sänger unterstrichen noch das Magische dieses Ortes.
Eine Weile lang wanderte Mila einfach umher, nahm die Stimmung in sich auf und genoss das Prickeln, das sie ihr verursachte.
Sie hatte es schon immer geliebt, in Kirchen zu sein. Warum das so war, wusste sie nicht genau, denn im Grunde war sie nicht besonders gläubig. Aber viele Kirchen hatten etwas an sich, das sie tief in ihrem Herzen berührte. Und Notre-Dame war da keine Ausnahme. Eher das Gegenteil. Nach der Aufregung über ihren Vater und Bruder und nach dem, was gestern mit Nicholas passiert war, tat es einfach gut, hier zu sein.
Vor einer Tür vorn rechts vom Chor, ganz in der Nähe der Sakristei, blieb sie stehen. Ihr Blick war davon angezogen worden, sie wusste nicht, warum. An der Tür war nichts ungewöhnlich, sah man mal davon ab, dass sie relativ niedrig war – und nicht so ganz zum Rest der Kirche zu passen schien. Sie war nicht aus Holz, sondern aus Metall gefertigt. Und kreuz und quer darüber liefen dünne Messingbänder, die einen angelaufenen Goldton hatten.
Alles in allem nur eine Tür.
Während Mila sie betrachtete, veränderte sich plötzlich das Licht in der Kirche. Die Sonne musste ein Stück weitergewandert sein, sodass ihre Strahlen jetzt durch ein anderes Fenster fielen. Plötzlich war die Kirchenkuppel erfüllt von einem intensiven blauen Schimmern.
Erschrocken sah Mila sich um. Isabelle stand in einiger Entfernung und unterhielt sich mit einem weißhaarigen Mann, in dem Mila den Buchhändler erkannte, bei dem sie eben beinahe das Baudelaire-Buch gekauft hatte. Was wollte er hier?
Sie wandte sich wieder der Metalltür zu. In ihrer Fantasie flackerte ein Bild auf. Das Bild einer unendlich langen Treppe, die sich hinter dieser Tür in die Tiefe wand, vorbei an den Schächten der Metro und tiefer noch als die uralten Gänge der berühmten Katakomben. Weit, weit hinab in das Gestein unter dieser Stadt …
Sie schüttelte den Kopf über sich selbst. Sie musste sich aus dieser merkwürdigen Stimmung befreien. So wie diese Tür aussah, befand sich dahinter wahrscheinlich eine Abstellkammer, in der Putzzeug aufbewahrt wurde.
»Marie-Claire!«, hörte sie eine Frau rufen und der Zauber verflog. Auf einmal war die Tür nur eine Tür und die Sonnenstrahlen, die durch die Fenstergaden fielen, nur Licht, dessen blaue Farbe der ihrer Schrift nicht im Geringsten ähnlich sah. »Komm sofort hierher, Marie-Claire!«
Mila drehte sich langsam um. Sie musste an ihre Geschichte über das kleine Mädchen mit den großen Augen denken, dem die Puppe am Eiffelturm kaputtgegangen war. Das Mädchen hatte auch Marie-Claire gehießen.
Ein Zufall? Andererseits, nach dem, was sie im Club erlebt hatte …
»Marie-Claire! Jetzt nimmst du dich zusammen!«, keifte die Stimme quer durchs Kirchenschiff.
Mit klopfenden Herzen folgte Mila dem Ruf und im selben Moment atmete sie erleichtert auf. Die Marie-Claire, mit der die Frau schimpfte, war mindestens zwölf oder dreizehn. Sie hatte das mürrische Gesicht eines Teenagers, der von seinen Eltern zum Besichtigen dieser Kirche genötigt worden war, und sie hielt ein Eis in der Hand, von dessen Waffel es auf die Fliesen tropfte.
Mila ließ sich auf eine der Kirchenbänke sinken. Sie kam sich dumm vor. Natürlich war das nicht die Marie-Claire aus ihrer Geschichte. Das Mädchen gab es schließlich in Wirklichkeit nicht.
»Herrgott noch mal!«, schimpfte die Frau. »Pass doch auf! Du kleckerst ja alles voll!«
Marie-Claire zuckte gleichgültig mit den Schultern.
Ärgerlich packte ihre Mutter sie am Arm und zerrte sie mit sich, dabei begegnete der Blick des Mädchens kurz dem von Mila. Sie wirkte zufrieden. Mila war sich ganz sicher, dass sie die Fliesen absichtlich vollgekleckert hatte, um endlich von hier wegzukönnen.
»Immer diese Touristen!« Isabelle trat zu ihr. Sie hatte ein Buch in der Hand, das der Buchhändler ihr offenbar gegeben hatte.
Mila deutete darauf. »Was ist das?«
Isabelle drehte es so, dass sie den Titel lesen konnte. Es war die teure Baudelaire-Ausgabe. »Er ist uns nachgekommen, weil er das Gefühl hatte, dass du es haben solltest.«
Sie reichte Mila das Buch, die nahm es, strich über den Einband. »Was wollte er dafür haben?«
»Nichts.« Isabelle wirkte verwundert, aber nicht allzu sehr. Sie gehörte zu der Sorte Mensch, der sich über eine gute Gelegenheit freute, statt sich Gedanken über den Grund dafür zu machen.
Mila schlug die erste Seite des Buches auf. Jemand hatte mit Bleistift etwas hineingeschrieben, das war ihr vorhin am Stand gar nicht aufgefallen. Mit gerunzelter Stirn las sie die paar Worte.
Weißt du, dass du die Fabelmacht besitzt?, stand dort.
Etwas streifte Mila eisig kalt. Ihr Kopf ruckte hoch. Sie hatte keine Ahnung, was die Fabelmacht war. Aber das Wort hatte einen unheimlichen Klang.
Hastig sah sie sich nach dem Buchhändler um, doch von ihm war keine Spur mehr zu sehen. Dafür hatten Marie-Claire und ihre Mutter nun den Ausgang erreicht.
»Lass mich los!«, fauchte Marie-Claire und riss ihrer Mutter ihren Arm weg.
»Jetzt reicht es!«, schnauzte die Mutter sie an.
Mila hatte Mühe, in die Realität zurückzukehren. Weißt du, dass du die Fabelmacht besitzt? Das klang wie ein Geheimcode. Eine Anspielung, die nur Eingeweihte verstanden. Warum, fragte Mila sich, war sie eigentlich so entsetzt darüber? Vielleicht hatte jemand schon vor vielen Jahren diesen merkwürdigen Ausdruck hineingeschrieben und es hatte nicht das Geringste mit ihr zu tun.
Es war die einzige logische Erklärung. Mit einem Kopfschütteln steckte sie das Buch in ihre Umhängetasche.
Isabelle starrte noch immer der Mutter und dem Teenager hinterher. »Touristen!«, wiederholte sie abfällig. Eine Schulklasse betrat die Kirche und füllte die bis eben gedämpfte Stille mit ihren hellen Stimmen.
»Genau«, stimmte Mila ihr zu. »Wie gut, dass ich nicht dazugehöre.«
Da stutzte Isabelle. Dann lachten sie beide.
»Also, ich könnte jetzt auch ein Eis vertragen«, verkündete Isabelle.
Mila grinste sie an. »Aber pass auf, dass du den Fußboden nicht vollkleckerst!«, riet sie.
Am Morgen nach dem Clubbesuch stand Nicholas in der Bibliothek seines Vaters, im Stadthaus der Familie Caruel in der Rue des Rondeaux. Die Morgensonne schien durch das Fenster auf den alten Orientteppich und den wuchtigen Schreibtisch, hinter dem sein Vater saß, ihn musterte und dabei mit dem Füllfederhalter einen Rhythmus auf die Tischplatte trommelte.
Die kleinen Putten an der Stuckdecke blickten aus ihren Akanthusranken spöttisch auf Nicholas herab, so kam es ihm zumindest vor.
Er trug ein frisches Hemd und eine saubere Jeans und der Verband, den er sich um die verletzte Hand gewickelt hatte, wies winzige rote Flecken auf.
Draußen vor dem Fenster rauschte der Pariser Berufsverkehr vorbei. Hunderte Menschen in ihren Autos und in öffentlichen Verkehrsmitteln, die keine Ahnung davon hatten, dass sich tief unter ihnen ein geheimer Tunnel befand, der das Haus der Caruels mit der Krypta unter dem Friedhof Père-Lachaise verband. Durch diesen Tunnel hatte Nicholas kurz zuvor das Haus betreten. Nachdem er gestern Abend von Sacré-Cœur aus in die Rue des Rondeaux zurückgekehrt war, war er in sein Zimmer gegangen, ohne mit seinem Vater zu sprechen. Er hatte versucht, ein bisschen Ruhe zu finden, aber als er es kurz vor dem Morgengrauen in der Enge seines Zimmers nicht mehr ausgehalten hatte, war er in die Krypta gegangen, um nachzudenken. Dort hatte Serge ihn vorhin gefunden, der Leibwächter seines Vaters. Und er hatte ihm ausgerichtet, dass Caruel ihn zu sehen wünschte.
Umgehend.
Jetzt deutete Caruel mit der Spitze seines Füllers auf Nicholas’ weiße Binde. »Was hat das zu bedeuten?«
Nicholas blickte auf seine Hände nieder. »Das stammt von gestern Nacht.«
»Und du hast einfach mal eben vergessen, wie man so was wegerzählt?«, fragte Caruel.
Nicholas schüttelte den Kopf.
»Warum hast du die Wunde dann noch? Du nutzt deine Gabe schließlich doch sonst auch für jede Banalität, obwohl ich dir schon tausendmal gesagt habe, dass sie dafür nicht da ist.«
Nicholas ballte die Faust um den Verband. Wusste sein Vater von der kleinen Marie-Claire und ihrer kaputten Puppe? Nein. Wie sollte er? Villain Caruel war fabelmächtig, doch er konnte keine Gedanken lesen. Er konnte unmöglich von dem kleinen Mädchen wissen. Was er aber sehr wohl wusste, war die Tatsache, dass Nicholas sich immer wieder über die Regeln hinwegsetzte, und zwar sowohl über jene, die Caruel aufgestellt hatte, als auch über jene, die allgemeingültig waren. Dass die Gabe nicht für Banalitäten genutzt werden sollte, war Caruels Regel. Dass die Macht nicht benutzt werden durfte, wenn ein Außenstehender es mitbekam, war hingegen ehernes Gesetz. Nur durch strengste Geheimhaltung war es über die Jahrhunderte hinweg gelungen, die Existenz der Fabelmächtigen vor dem Rest der Welt verborgen zu halten.
Mit seiner Hilfe für die kleine Marie-Claire hatte Nicholas beide Regeln gebrochen.
»Warum hast du dir die Wunde nicht selbst wegerzählt?«, fragte Caruel erneut.
Nicholas biss die Zähne zusammen. »Vielleicht vergesse ich ab und zu, dass ich dazu in der Lage bin«, gab er so gleichmütig wie möglich zurück. Aber innerlich fühlte er sich wie abgestorben. Wie würde er das jemals vergessen können? Nein. Er hatte die Wunde noch, weil sie ihn daran erinnerte, dass seine Geschichte verändert werden konnte, zumindest in den Details. Von einem Schnitt an seiner Hand hatte er niemals geschrieben.
Er verscheuchte den Anflug von Hoffnung, der ihn bei diesem Gedanken ergriff, und sah zu, wie sein Vater den Füller aufschraubte und dann mit rascher Hand etwas auf einen der teuren Briefpapierbogen der Familie kritzelte. Leuchtend blau floss die Schrift aus der Spitze der Feder auf das Blatt.
Nicholas schloss die Faust fester um den Verband. »Ich dachte, du hast verboten, unsere Gabe für Banalitäten einzusetzen«, murmelte er. Er wusste, dass er aufsässig klang, und musste wieder an die kleine Marie-Claire denken. Hätte sein Vater von ihr gewusst, hätte er Nicholas dafür bestraft. Nicholas überlegte ernsthaft, ob er ihm davon erzählen sollte. Dann hätte Caruel wenigstens etwas gehabt, das ihm half, wütend auf seinen Sohn zu sein.
Caruel setzte einen Punkt hinter das Geschriebene und schaute auf. »Ich denke, du kannst den Verband jetzt abnehmen.« Die Linie seines Unterkiefers war ein scharfer Bogen.
Nicholas wickelte langsam die Binden ab. »Du verlangst von mir, mich an deine Regeln zu halten, und tust es selbst nicht«, sagte er.
Sehr behutsam legte Caruel den Füller fort.
Nicholas trat vor und legte die blutige Binde auf die Kante von Caruels Schreibtisch. Dann betrachtete er seine Handfläche.
Die Wunde war fort.
Er atmete tief ein. »Ich hätte es vorgezogen, sie zu behalten, aber dich hat ja noch nie interessiert, was ich will.«
Er wartete darauf, dass sein Vater explodierte, wie er es gewöhnlich tat, wenn er ihn auf diese Weise provozierte. Aber die Situation war nicht gewöhnlich. Ganz im Gegenteil.
Caruel blieb ruhig. Wortlos krempelte er seinen Hemdärmel hoch. Während sich die blaue Flammenschrift bei Nicholas nur millimeterweise in Richtung Ellenbogen vorgearbeitet hatte, bedeckte sie bei seinem Vater bereits den halben Unterarm.
Nicholas schluckte. »Was hast du getan?«
Er wusste aus schmerzlicher Erfahrung, dass das Flammenmal aufleuchtete, wenn man versuchte, sich gegen die Geschichte zu wehren. Gestern Abend im Club zum Beispiel hatten die Schmerzen immer dann zugeschlagen, wenn er sich mit dem Mädchen in Schwarz befasst hatte statt mit Mila.
Offenbar hatte sein Vater bereits sehr viel größere Anstrengungen unternommen, das, was geschehen würde, zu verhindern. »Was, Vater?«, musste Nicholas die Frage ein zweites Mal stellen, weil Caruel nicht antwortete.
»Ich habe versucht, die Stadt zu verlassen.«
Nicholas senkte das Kinn. »Und es hat immer noch nicht funktioniert.« Er selbst hatte bisher viermal versucht, aus Paris fortzugehen, weil nur an diesem Ort die Fabelmacht Einfluss hatte. Jedes Mal hatte sich die blaue Flammenschrift auf seinem Arm gebildet und je weiter er fortgefahren war, umso größere Flächen seines Körpers hatte sie bedeckt und ihn mit ihrem Feuer fast in den Wahnsinn getrieben. Aber es waren nicht die Schmerzen, die ihm Angst machten. Sondern das, wozu sie ihn werden ließen. Zu einer Gefahr nicht nur für sich, sondern auch für andere. Gestern in der Bar zum Beispiel hätte er um ein Haar das Messer auf Luc gerichtet. Auf seinen besten Freund! Und wenn das wirklich passiert wäre, er hätte nicht garantieren können, dass er nicht zugestochen hätte.
»Nein«, murmelte Caruel nun. »Es geht immer noch nicht.«
Die Mutlosigkeit, die Nicholas gestern im Club schon verspürt hatte, kehrte zurück und diesmal war sie so stark, dass er sich nicht anders dagegen wehren konnte als mit schwarzem Humor. »Tja«, sagte er trocken. »Fang schon mal an, dir zu überlegen, was an mir Gutes war, damit du auf meiner Beerdigung die Grabrede halten kannst.«
»Himmel noch mal!«, schrie Caruel. In einer Geste voller Verzweiflung warf er die Arme in die Luft. »Hör auf, so verdammt lässig zu sein! Alles, was ich will, ist, dass du …« Der Atem stockte ihm. »Leben kannst.«
Nicholas schwieg.
»Du bist doch mein Sohn, mein Gott!«
Caruel fuhr wie unter einem Peitschenhieb zusammen. Wenn es überhaupt möglich war, wurde er noch ein bisschen bleicher als zuvor.
Nicholas sah, wie sich die Schrift auf dem Arm seines Vaters bis hinauf zum Ellenbogen schob. Er hatte eine ziemlich klare Vorstellung davon, wie qualvoll das sein musste. So fest, wie er konnte, biss er die Zähne zusammen und verbarg seinen Arm hinter seinem Rücken.
Aus glasigen, flackernden Augen sah Caruel ihn an. »Serge!«, rief er dann. »Serge, ich brauche Ihre Hilfe!«
Augenblicklich öffnete sich die Tür. »Ja, Monsieur Caruel?« Eifrig beflissen baute sich Serge neben Nicholas auf. Er hatte wie immer, wenn er im Dienst war, ganz in der Nähe gewartet, bis er gebraucht wurde.
Caruel atmete einmal tief durch. »Du kannst jetzt gehen«, sagte er zu Nicholas. Er ging zu seinem Schreibtisch, nahm sich ein Blatt. Als er den Füller aufschraubte und zu schreiben anfing, konnte Nicholas einen Blick darauf erhaschen.
Er las einen Namen. Serge. Und er wusste, was nun geschehen würde. »Nein, Vater!« In seiner Stimme lag Grauen. »Du musst das nicht tun! Du kannst …«
»Sei still!« Caruel schrie jetzt. »Du selbst hast dafür gesorgt, dass ich das hier tun muss. Jetzt beklag dich nicht!« Er wedelte durch die Luft, als sei Nicholas ein lästiges Insekt. »Geh und lass mich erledigen, was nötig ist. Geh!«
Fieberhaft überlegte Nicholas, was er tun konnte, um das Kommende zu verhindern. Aber als er sah, wie mit jedem Wort, das sein Vater schrieb, die Flammenschrift auf dessen Arm sich zurückzog, da war ihm klar, dass es keinen Ausweg gab.
Und die Schuldgefühle, die er die ganze Zeit schon empfand, wuchsen ins Unermessliche.