Читать книгу Fabelmacht Bundle - Kathrin Lange - Страница 16

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Der Keller war nicht besonders groß, aber er bestand aus mehreren Räumen, die allesamt mit Sperrmüll vollgestopft waren. Das Adrenalin rauschte noch immer durch Milas Adern und die Gedanken in ihrem Kopf waren ein einziges, wirres Knäuel. Das unverhoffte Wiedersehen mit Nicholas hatte sie ziemlich durcheinandergebracht, fast mehr, stellte sie gerade fest, als es die Erkenntnis tat, dass sie eine geheimnisvolle magische Fähigkeit besaß, und sogar mehr als die Tatsache, dass auf sie geschossen worden war. Alles drei zusammen allerdings war zu groß für ihren Verstand. Sobald sie versuchte, auch nur eines davon zu fassen zu bekommen und intensiver darüber nachzudenken, entglitt es ihr, weil sich etwas anderes in den Vordergrund drängte. Um ihre innere Unruhe zu bekämpfen, begann sie, in dem größten der Räume auf und ab zu tigern. Von der einen Wand bis zur gegenüberliegenden waren es nur wenige Schritte.

Sieben hin.

Sieben zurück.

Während sie lief, untersuchte Eric die Tür daraufhin, ob sie wirklich verschlossen war. Nicholas hingegen stand einfach da und wartete. Seine Miene wirkte völlig undurchdringlich.

Schließlich blieb Mila mit einem Ruck stehen. »Okay, du bist also auch ein Fabelmächtiger«, sagte sie ihm auf den Kopf zu.

Er schaute erstaunt und sie wusste nicht, was ihn so überraschte. Dass sie den Begriff kannte?

»Ja«, antwortete er. Mehr nicht.

»Und diese Typen sind hinter mir her, weil …?«

Er zögerte. Schien zu überlegen. Dann zuckte er nur mit den Schultern.

Eric hatte mittlerweile das intakte Schloss akzeptiert und einen Blick durch das völlig verdreckte, kleine Fenster geworfen, das auf einen Lichtschacht hinauszuweisen schien.

»Dieser Serge«, mischte er sich ein. »Ist das derselbe Typ, der vorhin schon auf dem Bahnhof hinter Mila her war? Schwarzer Anzug? Groß, Muskeln wie aufgepumpt?«

»Das klingt nach ihm, ja.« Nicholas lehnte sich mit dem Rücken an die Wand und ließ sich langsam daran herunterrutschen. »Aber vermutlich war er nicht allein unterwegs.«

»Nein. So ein Typ in Jeans und Sakko war bei ihm.«

»Michel mit Sicherheit. Er war derjenige, der auf Mila geschossen hat.« Nicholas stellte ein Bein auf und legte seinen rechten Unterarm auf das Knie. Sehr sorgfältig zupfte er dabei den Ärmel seines Mantels über sein Handgelenk.

Mila wurde bewusst, dass sie seit einer geraumen Weile schon auf ein mit altem Kram vollgestopftes Kellerregal starrte. Mit Gewalt schüttelte sie die Benommenheit ab. »Wir dachten, wir hätten sie am Bahnhof abgehängt. Wie haben sie uns hier gefunden?«

»Sie müssen uns gefolgt sein«, vermutete Eric.

Nicholas wandte den Kopf und musterte ihn. »Nein. Sie wussten, dass ihr hier sein werdet.«

»Unmöglich!« Eric warf einen weiteren, völlig überflüssigen Blick durch das Fenster. Mit einer Schulter lehnte er sich an die gegenüberliegende Wand.

Nicholas spielte mit dem Saum seines Ärmels. »Serge und seine Leute wissen leider sehr viel mehr, als ihr euch vorstellen könnt. Glaub mir: Sie könnten euch weitaus länger verfolgen, als du jemals wegrennen könntest.« Er überlegte und fügte hinzu: »Auch wenn du vermutlich ziemlich gut im Wegrennen bist bei deinem Job.«

Ein Schatten flog über Erics Gesicht. Kurz dachte Mila, er würde auf Nicholas’ Beleidigung anspringen, aber dann tat er es doch nicht. Er stieß einfach nur Luft durch die Nase. »Wer ist also dieser … Villard Caruel? Und warum will er Mila töten?«

»Villain«, korrigierte Nicholas. »Er heißt Villain. Klingt, als hätte ich ihm den Namen gegeben, oder? Ist aber nicht so.«

Villain, übersetzte Mila im Stillen für sich ins Deutsche, war das französische Wort für Bösewicht.

»Warum, Nicholas?«, hakte sie nach und dabei hatte sie das Gefühl, dass für einen Sekundenbruchteil seine Maske ins Rutschen kam.

»Ich fürchte, das ist meine Schuld«, murmelte er.

Eric schnaubte. Dann wandte er sich an Mila. »Also, wenn du mich fragst, dann ist das alles hier nur ein Trick. Vielleicht spielt er irgendein fieses Spiel mit dir.« Er funkelte Nicholas an. »Was beweist uns, dass wir dir trauen können?«

Nicholas zupfte seine Hemdmanschette unter dem Ärmel hervor. »Nichts. Abgesehen vielleicht von der kleinen Tatsache, dass ich Mila eben das Leben gerettet habe.«

Mila blieb die Luft weg bei der Erinnerung daran. »Danke dafür, übrigens«, sagte sie leise.

Nicholas grinste sie an. »Ich hab gehört, nichts macht einen schneller zum Helden, als sich in eine Schussbahn zu werfen. Vorausgesetzt, man bleibt dabei am Leben.«

Der Schmerz, den die Flammenschrift verursachte, war fies und Milas Gegenwart verwirrte ihn so unfassbar, dass er nicht anders konnte, als sich in Ironie und Sarkasmus zu flüchten. So fühlte es sich also an, wenn man jemanden über alles liebte?

Es kam ihm eher vor wie eine Krankheit, die ihn angeflogen hatte. Herzjagen und ein flaues Gefühl im Magen, dazu etwas, das genauso gut auch Fieber sein konnte.

Zu Risiken und Nebenwirkungen …, dachte er spöttisch, nur um sich gleich zur Ordnung zu rufen. Albernheit half ihm nicht weiter.

Weil er sich für eine Weile besinnen musste, war er froh, als Eric und Mila sich in einen anderen Raum der weitläufigen Kelleranlage zurückgezogen hatten. Weniger froh war er allerdings, dass sie offenbar miteinander diskutierten, ob sie ihm vertrauen sollten oder nicht.

Eigentlich hätte Mila sich der Geschichte zufolge gerade genauso fühlen müssen wie er, aber ganz offenbar tat sie es nicht. Er dachte daran, wie sie ihn auf der Terrasse angegiftet hatte.

Hast du keine Angst mehr, dass ich mich in dich schockverliebe, hatte sie ihn gefragt.

Es war gewesen, als hätte sie ihm eine Ohrfeige gegeben. Dabei hätte er doch eigentlich froh darüber sein sollen. Immerhin bewies es, dass seine Geschichte nicht solche Macht über sie hatte wie befürchtet.

Er seufzte leise.

Mit schief gelegtem Kopf lauschte er dann dem leisen Gemurmel der beiden und als das Flammenmal erneut ein Stück wuchs, schob er den Mantelärmel zurück und sah zu, wie es sich millimeterweise in Richtung Ellenbogen brannte. Wie aus den wenigen Worten ein Satz wurde.

Der Tod ging über seine Mitternachtsaugen hinweg, stand dort jetzt.

Nicholas presste die Lippen aufeinander. Klar. Die Flammenschrift wuchs, wenn er etwas anderes tat, als die Geschichte vorsah. Er hätte in diesem Moment mit Mila in einem Baum im Parc des Buttes-Chaumont hocken und sich vor Serge und seinen Männer verstecken müssen. Die ihn dort aber natürlich gefunden hätten, wenn Villain dafür gesorgt hatte, dass sie die ganze Geschichte kannten. Und danach sah es aus, denn sonst wären sie nicht auf das Abbruchhaus gekommen.

Nicholas hatte daraufhin ausprobiert, ob er die Geschichte mit einem anderen Versteck verändern konnte – und tatsächlich war es ihm gelungen. Als dann der brennende Schmerz gekommen war und ihm Gewissheit verschafft hatte, dass die Geschichte sich wehrte, war seine Erleichterung ungeheuer gewesen.

Aber er wusste nicht, wie lange er das noch würde durchhalten können. Die Schmerzattacken hinderten ihn daran, klar zu denken – und das war ein Problem. Zu viel stand auf dem Spiel und zu wichtig war es, dass er die Übersicht behielt.

Er lächelte bei dem Gedanken, wie Serge und Michel die nächsten Stunden damit verbringen würden, jeden einzelnen Baum in dem Park abzusuchen.

Die Flammenschrift wuchs ein weiteres Stück seinen Arm hinauf und um sich wenigstens für einen Augenblick von den Schmerzen abzulenken, nahm er sein Notizbuch aus der Manteltasche und zog ein Foto zwischen den Seiten hervor.

Behutsam faltete er es auseinander.

Es zeigte eine Frau und einen kleinen Jungen, die Hand in Hand einen Hügel hinabliefen und dabei aus vollem Hals lachten. Das Foto war bei Nacht aufgenommen worden und aus so einem ungewöhnlichen Winkel, dass der Vollmond hinter den beiden riesig wirkte. Auf den ersten Blick sah es aus, als würden die beiden quer über das Gesicht des Mondes laufen.

Der Junge auf dem Bild war Nicholas. Die Frau seine Mutter.

Nicholas ließ es in den Schoß sinken, lehnte den Kopf gegen die Wand und schloss die Augen.

Er sah friedlich aus. Zum ersten Mal, seit sie ihn auf dem Bahnhof getroffen hatte, hatte sich über seine Gesichtszüge ein halbwegs entspannter Ausdruck gelegt und wieder wurde Mila klar, wie gut er aussah. Seine schmalen, ebenmäßigen Züge, die gerade Nase und die hohen Wangenknochen hatte sie mehr als einmal beschrieben. Mit einem engen Gefühl in der Kehle stand sie nun in der Kellertür, blickte auf ihn hinunter und dachte daran, wie oft er sie in ihren Geschichten in den Arm genommen hatte. Wie oft er sie sanft auf die Stirn – und auch auf den Mund – geküsst hatte. Und wie intensiv sie stets dabei gefühlt hatte. Mit den Fingerspitzen fasste sie an ihre Lippen, weil sie seine Berührung auch jetzt dort zu spüren glaubte.

Sie kannte ihn so gut.

Sie räusperte sich leise und da zuckte er zusammen, schob hastig etwas in sein Notizbuch.

»Ist das hohe Gericht zu einem Urteil gekommen?«

Und schon schob sich wieder die Maske über sein Gesicht. Wieso nur abermals der sarkastische Unterton? Ihr Nicholas war lustig, manchmal auch spöttisch, aber nie so bitter und sarkastisch. Auch wenn er dem Jungen aus ihren Geschichten äußerlich so unglaublich stark glich: Das hier war nicht ihr Nicholas. Natürlich nicht!

»Für den Moment macht Eric mit«, sagte sie, um seine Frage zu beantworten. Sie raffte ihre Haare im Nacken zu einem losen Pferdeschwanz. »Ich hab ihn gebeten, dass ich kurz allein mit dir sprechen kann.«

Eric war natürlich dagegen gewesen, aber sie hatte das Gefühl gehabt, dass sie mehr von Nicholas erfahren würde, wenn er nicht dabei war. Abgesehen davon brauchte sie keinen der beiden als Beschützer.

Jedenfalls nicht, solange keine Pistole auf sie gerichtet war.

Nicholas blickte zur Tür, als erwarte er, Eric hinter ihr auftauchen zu sehen. Der allerdings hielt sich an sein Versprechen, nebenan zu bleiben, damit Mila in Ruhe mit Nicholas sprechen konnte.

Weil sie plötzlich nicht mehr wusste, was sie sagen sollte, wies sie auf das Notizbuch. Als Einstieg zu einem Gespräch war das ebenso gut wie alles andere. »Du schreibst?« Es fühlte sich komisch an, ihn so weit zu überragen, und so ging sie neben ihm in die Hocke.

»Nein«, sagte er.

Es bedeutete: Ich will nicht mit dir darüber reden.

Unangenehme, tiefe Stille machte sich zwischen ihnen breit. Etwas wollte Mila dazu bringen, Nicholas zu berühren, wieder diesen Ausdruck von Wärme zum Vorschein zu bringen, mit dem er sie jetzt schon ein paarmal angesehen hatte, wenn er glaubte, sie bemerke es nicht. Sie kämpfte dagegen an.

»Ich wusste bis heute nichts davon, dass ich …« Sie zögerte. »… so schreiben kann.«

Er wandte ihr den Kopf zu. Zwischen seinen Brauen stand eine tiefe Falte. Mila konnte sich in seinen dunkelblauen Augen spiegeln. »Du hast behauptet, dass du all das hier geschrieben hast. Dass wir hier sind. Dass sie uns in diesem Keller nicht finden werden.« Sie dachte daran, wie er auf der Dachterrasse ganz plötzlich gewusst zu haben schien, was passieren würde. Wie er sie genau im richtigen Moment zur Seite gestoßen hatte. Ein Frösteln überlief sie. »Dir war klar, dass dieser Schuss fallen würde, nicht wahr? Darum hast du mich davor bewahren können.«

Er deutete ein Nicken an, ganz schwach nur, sodass sie nicht sicher war, ob sie es wirklich gesehen hatte. Seine Schweigsamkeit machte sie ganz kribbelig. Am liebsten hätte sie ihn gepackt und geschüttelt.

Mit den Fingerspitzen tippte sie sich gegen die Schläfe. »Ich möchte all das verstehen. Hilf mir dabei!«

»Dass wir hier in diesem Keller sind, habe ich nicht geschrieben«, sagte er. Die Falte zwischen seinen Brauen vertiefte sich kurz. Sie sah, wie er an seinen rechten Unterarm fasste, dorthin, wo sie das blaue Leuchten gesehen hatte. Ohne recht zu wissen, was sie tat, schob sie seinen Ärmel ein Stück hoch. Nicholas zog die Luft durch die Zähne bei ihrer Berührung, aber er hielt still, sodass sie die Schrift erkennen konnte, die auf seiner Haut flammte.

Der Tod ging über …

Mehr konnte sie nicht erkennen, denn er hielt sie davon ab, den Ärmel höherzustreifen.

»Was ist das?«, murmelte sie.

Seine Lippen teilten sich. Er wollte ihr eine Antwort geben, das sah sie ihm an. Aber dann überlegte er es sich doch anders.

»Nichts, was dir Sorgen machen müsste«, sagte er, und weil das ein Spruch war, wie er ihn in ihren Geschichten so häufig sagte, entfuhr ihr ein wütender Ausruf.

»In echt bist du genauso ein Macho wie …« Hastig brach sie ab. Die Vorstellung, ihm zu sagen, dass sie auch über ihn geschrieben hatte, war gerade zu viel für sie.

Sein Blick war ganz ruhig und geradeaus in ihr Gesicht gerichtet. »In echt«, wiederholte er.

Weil sie sich vorkam, als könne er sie gerade bis in die tiefsten Winkel ihrer Seele durchschauen, deutete sie auf die kleine Platzwunde, die er an der Lippe hatte. »Was ist passiert?«

Er grinste. »Ich bin auf dem Friedhof mit einer Furie zusammengestoßen, die mir den Ellenbogen ins Gesicht gerammt hat.«

Mila spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss. »Ehrlich gesagt fühlte es sich mehr an, als hätte ich deine Nase getroffen.«

»Hast du. Du hast sie gebrochen.«

»Nie im Leben! Deine Nase würde anders aussehen, wenn sie gebrochen wäre.«

»Das liegt daran, dass sie jetzt nicht mehr gebrochen ist.«

»Du … du hast dir den Bruch wegerzählt, stimmt es?«

Diesmal lächelte er.

Sie wusste, dass es so war. Sie tippte sich gegen die Stelle ihrer Lippe, an der er den Cut hatte. »Warum hast du das nicht auch wegerzählt?«

»Ich hatte meine Gründe.« Er nahm sein Notizbuch und wollte es in die Tasche stecken, doch dabei fiel etwas heraus. Als er hastig danach griff, entdeckte Mila, dass es ein Foto war. Ein Kind war darauf abgebildet, es war eindeutig Nicholas im Alter von vielleicht vier oder fünf Jahren. Und eine dunkelhaarige Frau mit den gleichen ebenmäßigen Gesichtszügen, die er auch hatte.

»Das ist deine Mutter, oder?«, fragte Mila.

Er knirschte mit den Zähnen.

Sie fing seinen Blick ein, wartete.

»Sie war es«, sagte er irgendwann. »Sie ist tot.«

»Das tut mir sehr leid.« Ihre Stimme zitterte jetzt.

»Sie starb schon vor Jahren.« Er schloss die Augen. »Sie hat das Schreiben immer mit dem Einfangen von Mondlicht verglichen«, flüsterte er.

Mila wurde das Herz schwer, als sie den Schmerz in seiner Stimme hörte. Vielleicht, dachte sie, gab es Wunden, die weder die Zeit noch die Fabelmacht heilen konnten.

Nach einer Weile erhob sich Nicholas. Er steckte sein Notizbuch in die Manteltasche, trat in die Mitte des Raumes und hielt inne, als könne er hören, ob ihre Verfolger noch draußen herumschlichen.

Eric, der es in dem anderen Raum offenbar nicht mehr ausgehalten hatte, gesellte sich zu ihnen. Forschend schaute er Mila an, stellte aber keine Fragen.

»Sie sind weg!«, sagte Nicholas.

Eric schaute grimmig. »Woher willst du das wissen? Kannst du etwa auch durch Wände gucken, oder was?«

»Ich brauche nicht durch Wände zu gucken.« Der Blick, den Nicholas Eric zuwarf, ähnelte dem eines Vaters, der mit einem begriffsstutzigen Kind sprach.

Er weiß auch das, dachte Mila dumpf, weil er es geschrieben hat.

»Was denn?«, regte sich Eric über Nicholas’ Blick auf. »Ich bin eben kein … Fabelmächtiger! Ich finde das alles hier mehr als strange.«

Ich auch!, dachte Mila. Ich auch.

Nicholas zuckte mit den Schultern. »Zwingt dich ja keiner, bei uns zu bleiben!«

Eric schnaufte. »Schon klar. Als ob ich dich mit Mila allein lassen würde.«

Nicholas lachte trocken. »Wartet, bis ich gecheckt habe, ob sie wirklich weg sind.« Er entriegelte die Tür, öffnete sie und trat nach draußen.

Eric hielt Mila zurück. »Und? Bist du jetzt schlauer, was ihn betrifft?« Er hatte seine Stimme gesenkt.

Sie sah ihn resigniert an. Wenn sie das wüsste! Genau genommen waren ihre Fragen eher noch zahlreicher geworden.

»Du musst zur Polizei gehen, Mila! Sag ihnen, dass diese Typen hinter dir her sind und dass sie auf dich geschossen haben.« Mit dem Kopf deutete er in Nicholas’ Richtung. »Und dass er sie kennt.«

»Und dann?«, gab Mila zurück.

»Sie werden die Kugeln auf der Terrasse finden, was beweist, dass du die Wahrheit sagst. Sie können dich beschützen und diesen Serge und diesen Michel einbuchten.«

Ja, dachte Mila. Und die beiden Typen vom Friedhof gleich mit.

Sie überlegte, ob sie Eric davon erzählen sollte, dass ihre Verfolger mindestens zu viert waren. Was, wenn es noch mehr von ihnen gab? Auf einmal kam sie sich vor wie ein Tier auf der Flucht. So musste sich ein Fuchs fühlen, wenn die Meute hinter ihm her war und er nicht mehr wusste, wo er hinsollte …

Bevor sie Erics Vorschlag auch nur in Ansätzen durchdacht hatte, streckte Nicholas den Kopf zur Tür herein. »Gegen Caruels Leute kann die Polizei nichts ausrichten«, sagte er so gelassen, als hätte Eric das Wort an ihn gerichtet.

Eric verdrehte die Augen. »Und wieso nicht?«

Nicholas strich sich über die aufgeplatzte Lippe. »Weil Caruel auch fabelmächtig ist. Du glaubst doch nicht, dass es oben auf der Terrasse auch nur eine Spur von den Schüssen gibt.«

»Er hat die Kugeln wegerzählt?« Mila schwirrte schon wieder der Schädel. Noch immer hatte sie das Gefühl, gleich würde jemand kommen und diesen ganzen Fabelmachtkram als einen magischen Zaubertrick enthüllen.

Nicholas setzte zu einem Nicken an. »Ich würde drauf wetten. Und die Löcher im Putz, wo die Kugeln abgeprallt sind, gleich mit. Es gibt da oben keinen einzigen Hinweis mehr auf die Schüsse.«

Eric schüttelte sich. »Sag ich ja. Mehr als strange!«

Nicholas war jetzt nur noch auf Mila fokussiert. »So leid es mir tut, aber ich fürchte, wenn dich einer vor Caruels Leuten beschützen kann, dann bin ich es. – Wartet!« Erneut verschwand er.

Mila machte einen Schritt in Richtung Tür.

»Mila!« Eric berührte sie am Arm. »Du willst doch nicht ernsthaft mit ihm …«

»Was soll ich sonst tun?«, fiel sie ihm ins Wort. »Er besitzt diese Gabe, die ich auch habe. Er könnte mir Erklärungen liefern. Vielleicht brauchen wir Odette gar nicht.«

Maréchal fiel ihr ein, der allein auf dem Friedhof zurückgeblieben war. Er würde auch Antworten haben.

Eric zog sie von der Tür weg, lehnte sich hinaus und warf einen Blick nach rechts und links. »Mila, wenn Nicholas deine bevorzugte Option ist, dann ist er eine verdammt schlechte. Da, wo ich aufgewachsen bin, kennen wir Leute wie ihn. Da ist etwas in seinen Augen.«

»Ach ja?«, sagte sie hitzig.

»Ja. So sieht jemand aus, der Menschen auf dem Gewissen hat und es verdammt noch mal auch weiß.«

Sie lachte auf und trat rückwärts einen Schritt auf die Gasse hinaus. »Das meinst du doch jetzt nicht im Ernst, oder?«

Eric hatte schon den Mund zu einer Erwiderung geöffnet, aber plötzlich war Nicholas wieder da. »Ich hatte doch gesagt, ihr sollt drinnen auf mich warten!«

Mila zuckte zusammen. Sie hatte ihn nicht kommen hören, er bewegte sich fast völlig lautlos.

Er musterte sie von Kopf bis Fuß. Dann wandte er sich Eric zu. »Menschen auf dem Gewissen?«, wiederholte er. »Im Ernst, Mann?« Seine Stimme war schon wieder spöttisch, aber in seinen Augen flackerte ein Ausdruck, der Mila zeigte, dass Erics Worte ihn aus irgendeinem Grund tief getroffen hatten.

»Mila, warte!«

Nicholas’ Stimme hallte durch die Gasse bei dem alten Abbruchhaus, aber Mila hörte nicht auf ihn. Sie schritt so weit aus, dass sie beinahe rannte. Der erschrockene und zutiefst schuldbewusste Blick in Nicholas’ Augen eben hatte ihr klargemacht, dass Eric recht hatte.

Nicholas … Menschen auf dem Gewissen …

Der Ausdruck der Schuld auf seinem Gesicht war eindeutig gewesen: Er hatte offenbar tatsächlich Menschen auf dem Gewissen.

Und damit war er eben nicht ihre beste Option. Sondern Odette. Oder auch Maréchal, wenn sie ihn fand.

Mila hatte sich kurzerhand an den Jungs vorbeigedrängt und dann war sie losgelaufen. Es war ihr egal gewesen, ob einer von ihnen ihr hinterherkam. Sie hatte jetzt genug davon, dass andere Entscheidungen für sie trafen. Sie bog um eine Hausecke und rannte in die nächste Gasse, die nur unwesentlich breiter war. Jemand hatte hier ein paar Möbel auf die Straße gestellt, vielleicht damit die Müllabfuhr sie abholen konnte. Die Gasse allerdings war viel zu schmal für ein Müllauto und das alte Sofa und die Tische und Stühle schienen schon seit Monaten vor sich hin zu rotten.

Der Verkehrslärm, der zu ihr hinüberdrang, schien abgenommen zu haben. Sie hatte jedes Zeitgefühl verloren, aber in Anbetracht der Stunden, die sie im Keller zugebracht hatten, war es gut möglich, dass es auf Mitternacht zuging.

»Was hast du vor?« Nicholas hatte sie eingeholt und passte seine Geschwindigkeit der ihren an. Er hielt mühelos mit ihr mit, obwohl sie sich alle Mühe gab, ihn abzuhängen. Seine Mantelschöße flatterten beim Gehen, genau so wie sie es immer geschrieben hatte.

Sie ächzte.

Eric war ebenfalls irgendwo hinter ihr.

Zornig schüttelte sie den Kopf. »Ich suche Odette!«

»Ha! Meine Rede!« Eric beschleunigte, sodass er nun auf der anderen Seite neben ihr herlief.

Mila sah ihn wütend an. Mittlerweile geriet sie außer Atem. Sie wollte ihre Schritte trotzdem noch einmal beschleunigen. Nicholas jedoch packte sie am Arm und zwang sie, stehen zu bleiben. »Mila! Du darfst nicht zu Odette!« Er sah blass aus, extrem beunruhigt, genau so wie vorhin auf der Dachterrasse, kurz bevor der Schuss gefallen war.

»Lass sie!«, schnauzte Eric ihn an.

Im selben Moment entriss Mila Nicholas ihren Arm.

»Du darfst auf keinen Fall zu Odette!« Nicholas’ Stimme war fest, aber in seinen Augen flackerte es unheilvoll.

Mila versuchte, schlau aus ihm zu werden. Wenn er sie daran hindern wollte, zu der Obdachlosen zu gehen, konnte das eigentlich nur bedeuten, dass Odette etwas wusste, das sie seiner Meinung nach nicht erfahren sollte. Andererseits: Er wirkte wirklich besorgt. Was sie allerdings nicht erkennen konnte, war, ob ihretwegen oder weil er Caruels Plan in Gefahr sah.

»Und warum nicht?«, fauchte sie.

»Du weißt nicht genug über …«

»Genau!«, zischte sie ihn an. »Ich weiß nicht genug. Und warum? Weil du dir jedes einzelne Wort aus der Nase ziehen lässt! Rede mit mir, verdammt! Erklär mir, was eigentlich los ist, dann kann ich vielleicht Entscheidungen treffen, die in deinen Augen auch klug sind!«

Er wirkte überrascht von ihrem Ausbruch. Sie sah, wie er eine Hüfte vorschob, als müsse er sich gegen einen scharfen Wind stemmen.

Direkt vor ihnen befand sich eine Querstraße, die die verschiedensten arabischen und nordafrikanischen Geschäfte beherbergte. Mila sah dunkelhäutige Männer in Flipflops und eine Menge Frauen mit Kopftüchern auf den Bürgersteigen. Aus einem Laden dudelte arabische Musik. Sie wurde überlagert von dem Geräusch eines vorbeifahrenden Zuges. Der Gare de l’Est war ganz in der Nähe.

Mila wollte weiterlaufen, in Richtung Bahnhof, wo sie Odette beim letzten Mal getroffen hatte. Aber erneut fasste Nicholas nach ihrem Arm und hielt sie fest.

»Mila, bitte! Du wirst Odette sowieso nicht am Bahnhof finden.«

»Warum nicht?«, Sie schrie ihn jetzt fast an.

Seine Haare hingen ihm in die Augen. »Es ist alles sehr kompliziert.«

Eric drängte sich zwischen sie. »Das ist doch megascheiße! Mila will zu Odette! Und wenn du sie nicht auf der Stelle loslässt …«

Mit einem zornigen Ruck fuhr sie zu ihm herum und befreite gleichzeitig ihren Arm zum zweiten Mal aus Nicholas’ Griff. Ärger wallte in ihr hoch. Plötzlich fühlte sie sich nicht mehr wie ein Fuchs auf der Flucht, sondern wie einer, an dem schon von allen Seiten gezerrt wurde. Darum schrie sie nun auch Eric an: »Und wer erlaubt dir, mich genauso zu behandeln wie er?« Sie sah, wie er ein Stück zurückwich, darum wandte sie sich an Nicholas. »Also?«

Er fasste sich an den Arm, schloss kurz die Augen. »Wenn du zu Odette gehst, Mila«, presste er durch zusammengebissene Zähne, »dann kommt es zu einer Katastrophe.«

»Was für eine Katastrophe?«

Er schüttelte den Kopf. »Ich kann es dir nicht sagen. Nicht …«

»Bullshit!«, brummte Eric. Er zupfte an Milas Ärmel. »Komm. Wir gehen zum Bahnhof und nehmen von dort die Metro.«

Etwas ruhiger sah Mila ihn an. »Warum das?«

Er grinste. »Ich weiß, wo wir Odette finden. Oder zumindest jemanden, der uns sagen kann, wo sie ist. Aber dazu müssen wir nach Saint-Germain.«

Nicholas zuckte heftig zusammen. »Woher …?« Ihm schien bewusst zu werden, dass er sich eine Blöße gegeben hatte, und eilig biss er sich auf die Lippe.

Eric ließ sein Grinsen in einen triumphierenden Ausdruck münden. »Ich bin ihr mal gefolgt, weil ich wissen wollte, wo sie lebt. Das hab ich zwar nicht rausgefunden, aber sie ist zu einem Wohnhaus in der Rue Visconti gegangen. Der Portier hat sie, ohne zu zögern, hineingelassen. Vermutlich bekommt sie Unterstützung von einem der Bewohner dort.« Er sah Mila an. »Ich schlage also vor, dass wir dort hingehen und nach ihr fragen, wenn unser Freund hier uns schon nicht helfen will.«

Nicholas’ Nasenflügel bebten. »Mila, ich bitte dich!« Flehentlich sprach er jetzt. »Lass Odette aus dem Spiel!«

»Trau ihm nicht, Mila!«, warnte Eric. »Er ist nicht ehrlich zu dir.«

Mila hätte am liebsten geschrien. Sie brauchte eine Pause, brauchte Ruhe und Zeit, um zu überlegen, was sie als Nächstes tun wollte. Sie selbst, nicht Nicholas oder Eric.

Plötzlich musste sie an Helena denken. Die hatte auch ständig versucht, sie zu bemuttern.

»Gut«, sagte sie schließlich. »Fahren wir nach Saint-Germain.«

Exakt in diesem Moment entspannte sich Nicholas ein wenig. Seine linke Hand wanderte zu seinem Arm und auf einmal sah er aus, als habe er eine Schlacht verloren. Er senkte den Kopf und seufzte. »Also gut. Ich fahre mit euch hin. – Aber bitte, Mila!«, fügte er hinzu. »Versprich mir, dass du auf das hörst, was ich sage, wenn wir dort sind!«

»Wirst du mir dann erklären, was das alles soll?«

Nicholas presste die Fingernägel in das Fleisch seines Daumens. »Ich weiß nicht mal, ob ich es selbst verstehe«, gab er zurück.

Eric verdrehte nur die Augen.

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