Читать книгу Fabelmacht Bundle - Kathrin Lange - Страница 14
ОглавлениеAuf dem Gare de l’Est war es genauso laut und so chaotisch wie vor ein paar Tagen, als Mila in Paris angekommen war. Die Züge fuhren mit kreischenden Bremsen ein, die Lautsprecherdurchsagen plärrten ihre Informationen heraus, Menschen redeten, lachten und stritten miteinander.
An einem der feuerwehrrot lackierten Snackautomaten stand ein Geiger und spielte mit seligem Lächeln im Gesicht gegen den Lärm an. Mila kannte das Stück nicht, aber es klang schön.
Friedlich.
Etwas abseits blieb sie stehen und versuchte, sich an der Musik festzuhalten, die ein Gegengewicht bildete zu all den Dingen, die in ihrem Kopf kreisten.
Das Grab von ihrem Vater und Bruder. Von uns genommen durch großes Unglück. Dieser Maréchal und die Typen, die mit einer Waffe unter dem Arm hinter ihr her waren. Ob die Männer in den Lederjacken Maréchal etwas angetan hatten? Dann Nicholas … Warum war er auf dem Friedhof gewesen? Und nicht zuletzt: Was zum Teufel hatte es mit dieser geheimnisvollen Fabelmacht auf sich, von der der Buchhändler geredet hatte?
Eine sehr, sehr alte Gabe, hatte er sie genannt.
Erschöpft rieb sie sich die Augen.
Am liebsten wäre sie zu Isabelle nach Hause gefahren und hätte sich bei ihr verkrochen. Aber immerhin hatten die beiden Verfolger sie auf dem Friedhof gefunden. Es bestand also durchaus die Möglichkeit, dass sie sie auch bei Isabelle finden würden. Und da Mila nicht wusste, ob sie ihre Freundin in Gefahr bringen würde, hatte sie keine andere Lösung gewusst, als hierherzukommen in der Hoffnung, Eric zu treffen.
Ihm kannst du vertrauen, hatte Maréchal gesagt.
Ihr Blick wanderte hinauf zu den kitschigen Kinoplakaten über ihrem Kopf und sie musste an ihren ersten Tag in Paris denken. Dort drüben, vor dem Obststand, hatte sie Nicholas das erste Mal auf sich zukommen sehen.
Nicholas. Ob sie ihm mit ihrem Schlag ins Gesicht sehr wehgetan hatte? Es hatte sich angefühlt, als hätte sie ihm die Nase gebrochen.
Maréchal hatte gesagt, der Kerl mit der Waffe gehörte zu einem Villain Caruel. Gehörte Nicholas auch zu ihnen?
So viele Fragen und sie hatte keine Ahnung, wo sie Antworten herbekommen sollte.
Bevor sie darüber weiter nachdenken konnte, erhielt sie einen schmerzhaften Stoß gegen die Beine und stolperte erschrocken ein Stück zur Seite. Aber es war nur ein Kinderwagen, der sie gerammt hatte. Eine Frau, die mindestens hundertzwanzig Kilo wog, schob ihn vor sich her wie einen Rammbock, mit dem sie die Menschenmenge zerteilte. »Pass doch auf!«, zischte sie.
»Du mich auch«, erwiderte Mila. Urplötzlich überkam sie Mutlosigkeit. Wie sollte sie in diesem Gewimmel Eric finden? Es war eine idiotische Idee gewesen hierherzukommen.
Der Geigenspieler setzte sein Instrument ab, bückte sich zu der Sporttasche, die er neben seinen Füßen stehen hatte, und trank einen Schluck aus einer Wasserflasche. Als er sich wieder aufrichtete, zwinkerte er Mila zu und begann, ein neues Lied zu spielen. Er hatte lange blonde Haare, die er offen trug, und einen D’Artagnan-Bart.
»Ich liebe dich«, sagte plötzlich eine vertraute Stimme hinter Mila.
»Eric!« Sie fuhr herum und dabei erst wurde ihr bewusst, was er gesagt hatte. »Hä?«, fragte sie.
Er grinste breit. Dann deutete er auf den Geigenspieler. »Ich liebe dich. So heißt das Lied. Von Beethoven.«
»Ah«, machte sie und kam sich dämlich vor. Sie wusste nicht, ob sie erleichtert sein sollte, dass sie ihn gefunden hatte, oder erschrocken, weil er viel zu dicht bei ihr stand. Sag irgendwas!, ermahnte sie sich. Sie suchte nach einem Gips an seiner Hand, aber da war keiner. »Ich dachte, er hätte dir den Arm gebrochen«, murmelte sie.
Eric drehte das Handgelenk im Kreis, als könne er selbst es nicht glauben, dass es nicht der Fall war. »Ja. Das war sonderbar.«
»Was?« Etwas spannte sich in Mila an.
»Zuerst hat es sich wirklich so angefühlt, als wäre es gebrochen. Aber dann ist der Schmerz plötzlich weggegangen. Wahrscheinlich hat dieser Mistkerl ganz genau gewusst, wie weit er gehen kann, um nichts ernsthaft kaputt zu machen.«
Dieser Mistkerl …
Mila verspürte ein ganz leichtes Schwindelgefühl bei dem, was Eric ihr eben gesagt hatte. »Wieso kennst du dich mit klassischer Musik aus?«, fragte sie, um etwas Zeit zu gewinnen und ihre Gedanken zu sortieren.
Er grinste. »Du meinst, Schmalspurganoven ist so was verboten?«
Mila war peinlich berührt, weil er ihre Meinung über ihn so schonungslos ausgesprochen hatte, und das ärgerte sie. Immerhin war er derjenige gewesen, der sie neulich bestohlen hatte. Warum fühlte sie sich dann so zerknirscht dabei, wie er sie ansah?
Er zuckte mit den Schultern. »Ist natürlich nur eine weitere Masche von mir, um naive, kleine Touristinnen auszunehmen.« Er wirkte heute irgendwie anders als gestern. Entspannter. Und er hatte seine Jeans gewechselt.
Mila schluckte.
Der Geigenspieler spielte.
»Wegen neulich.« Eric zögerte. »Es tut mir leid, dass ich dich beklaut habe.«
Sie sah in seine hellbraunen Augen und absurderweise verwandelte sich ihre Zerknirschtheit nun auch noch in Schuldgefühl. »Ich …«
Er reckte den Zeigefinger vor ihrer Nase in die Höhe. »Nein! Bitte lass mich ausreden.« Mit der flachen Hand strich er sich die Haare aus der Stirn. Erneut dachte Mila daran, wie sein Knochen geknackt hatte. Dann erinnerte sie sich, was sie geschrieben hatte.
Dass der Bruch wie durch Zauberhand heilte …
Eine sehr, sehr alte Gabe, flüsterte Maréchals Stimme in ihrem Hinterkopf. Und: Ich könnte zum Beispiel dafür sorgen, dass du jetzt eben keine Jeans anhast …
War es möglich, dass sie dafür gesorgt hatte, dass Erics Hand wieder gesund war?
Das war doch völliger Schwachsinn!
Sie sah, wie er sich vorbeugte. »Offenbar scheinst du einen positiven Einfluss auf mich zu haben. Jedenfalls hab ich eine echte Gelegenheit ziehen lassen.«
Milas Magen verknotete sich. »Was meinst du damit?«
»Kurz nachdem ihr weg wart, du und dieser unheimliche Irre … Ich habe bei den Schließfächern dahinten gestanden und hatte schon ein neues Opfer ausgesucht. Eine Frau mit roten Haaren, sie …«
»Wie bitte?« Mila schrie fast.
Eric schien erstaunt über ihre Verblüffung. »Eine Frau«, wiederholte er. »Lange feuerrote Haare, Louis-Vuitton-Tasche. Und ich habe sie laufen lassen. Blöd, oder? Sie hätte sich so was von gelohnt.«
Eine Frau mit roten Haaren. Die Schließfächer.
Eine sehr, sehr alte Gabe, die wir besitzen, solange wir uns hier in Paris aufhalten.
Milas Knie begannen zu zittern.
»Was hast du? Du bist plötzlich ganz blass.« Eric machte Anstalten, nach ihrem Ellenbogen zu greifen, aber sie hätte seine Berührung nur schwer ertragen.
Sie riss ihren Arm weg. »Fass mich nicht an!«
Beschwichtigend hob er beide Hände und als das nichts nützte, wich er auch noch ein Stück rückwärts. »Schon gut! Ich habe nicht vor, dich noch mal zu beklauen.« Sein Blick ließ sie nicht los. »Du glaubst mir nicht. Klar. Warum solltest du auch? Aber das hier ist keine neue Masche, ehrlich. Ich …«
Mila hörte ihm kaum zu. Wie sollte sie ihm erklären, was der Grund für ihre Bestürzung war? Wie sollte sie in Worte fassen, was gerade in ihrem Kopf herumging? Dass sie ihn möglicherweise mit ihrer Geschichte dazu gebracht hatte, die Frau gestern ziehen zu lassen?
Plötzlich war ihr schwindelig.
Ihr Blick fiel auf zwei Männer, die durch die Menschenmenge gingen und sich dabei suchend umsahen. Einer von ihnen war groß, breitschultrig und trug einen schwarzen Anzug; der andere Jeans und ein Sakko. Trotzdem erinnerte die Art, wie die beiden sich näherten, Mila an die Kerle auf dem Friedhof. Und mit einem Schlag war alles wieder da, was sie eben dort erlebt hatte. Sie hatte keine Ahnung, ob diese beiden hier es auch auf sie abgesehen hatten oder vollkommen harmlos waren, aber sie würde es auf keinen Fall drauf ankommen lassen.
Eric war herumgefahren, als er gesehen hatte, wie sie zusammengezuckt war. Und als auch er die beiden Kerle auf sich zukommen sah, fackelte er nicht lange. Bevor Mila sich räuspern konnte, packte er schon ihre Hand. »Komm!« Er zog sie mit sich, quer durch die Menschenmenge hindurch. Geschickt wich er den Leuten aus, schlängelte sich an einem Pärchen vorbei, das vor einem Blumenladen stand und diskutierte. Ein Mann mit einem Gepäcktrolley fuhr ihm beinahe in die Seite und er stützte sich auf den hoch aufgestapelten Koffern ab.
Mila warf einen Blick zurück.
Sie hatte sich nicht getäuscht! Die beiden Typen beschleunigten ganz eindeutig ihre Schritte. Der Schwarzgekleidete schubste eine Frau aus dem Weg und schenkte ihr nicht einmal einen Blick, als sie mit einem empörten Aufschrei zu Boden ging.
Sein Blick war vollkommen auf Mila konzentriert.
Eric zerrte sie weiter und in vollem Lauf steuerten sie auf die Durchgänge zu, hinter denen es zu den Gleisen ging.
»Wohin wollen wir?«, keuchte Mila. Sie hatte sich von ihm losgemacht und rannte nun neben ihm her.
Statt eine Antwort zu geben, bog er auf einen der Bahnsteige ein. Als Mila erneut einen Blick zurückwarf, musste sie feststellen, dass die Typen schon ein ganzes Stück näher gekommen waren. Ob sie auch Waffen hatten?
»Scheiße!«, wisperte sie, weil der Typ mit dem Sakko wie als Antwort auf ihre Frage im Laufen unter seine Achsel griff.
Eric warf ihr einen kurzen Seitenblick zu. »Die kriegen uns nicht, versprochen!«
Mittlerweile waren sie aus dem überdachten Teil des Bahnsteigs hinaus ins Freie gelangt. Ein Regendach, das auf geschwungenen und reich verzierten Metallstützen ruhte, überspannte den Bahnsteig. Zwei Polizisten standen herum und beobachteten die Passanten.
Eric steuerte direkt auf sie zu. »Entschuldigung!« Seine Stimme klang plötzlich sehr viel höher als noch eben. Kindlicher, erkannte Mila, und gleich darauf dachte sie: Schauspieler!
In ziemlich echt wirkender Panik deutete Eric auf ihre beiden Verfolger. »Die da wollen uns …« Er brach ab, überließ es den Beamten, sich auszudenken, was die beiden wollten.
Die Blicke der Polizisten zuckten zu den Männern, die augenblicklich stehen blieben. »Was haben sie gemacht?«
Mila rang um Atem, sie musste dafür nicht im Geringsten schauspielern. »Der eine«, japste sie, »er hat mich begrapscht, und jetzt …« Ihre Stimme kippte weg. Ihr Herz jagte.
Eric warf ihr einen anerkennenden Blick zu.
Keine Zeit, ihm zu erklären, dass ihre Angst nicht gespielt war.
»In Ordnung«, sagte der eine Polizist. »Beruhige dich. Wir kümmern uns darum.« Und zusammen mit seinem Kollegen steuerte er auf die beiden Verfolger zu, die sich nicht ganz sicher waren, ob sie bleiben oder abhauen sollten.
»Und jetzt?«, wisperte Mila Eric zu.
Ohne Umschweife schnappte er sich wieder ihre Hand, zog sie mit sich. Eine mehr als mannshohe Bretterwand begrenzte den Bahnsteig am Ende. Eine Baustelle. Mila konnte das obere Ende eines Krans über den Zaun hinwegragen sehen. Das hier war eine Sackgasse! Sie wollte stehen bleiben, aber Eric zerrte sie einfach weiter. »Vertrau mir!«
Kurz bevor sie den Bretterzaun erreicht hatten, ließ er Milas Hand los. Dann sprang er. Sein rechter Fuß landete auf einem Mülleimer, sein linker stieß sich von der Bretterwand ab. In der Luft vollführte er eine völlig unmöglich aussehende Drehung.
Und in der nächsten Sekunde hockte er über Milas Kopf auf dem Regendach. Flach warf er sich auf den Bauch, reichte Mila die Hand herunter. »Komm! Schnell!«
Sie fasste zu und bevor sie protestieren und ihm sagen konnte, dass sie viel zu schwer für ihn war, hatte er sie schon zu sich hochgezogen.
Einfach so.
Sie fiel ebenfalls auf den Bauch. Ganz dicht neben ihm blieb sie liegen. Ihr Herz drohte zu zerspringen. »Wie hast du das …«
»Still!«, zischte er und drückte sie noch flacher auf das Dach. Mit dem Kinn deutete er auf eine Lücke zwischen den Brettern des Zauns. »Die werden denken, dass wir da durch sind.«
Mila hielt den Atem an.
Nach einem kurzen Gespräch, in dem der Mann in Schwarz die Polizisten offenbar überzeugte, dass sie nichts Böses im Schilde führten, ließen die Polizisten ihre Verfolger laufen. Keine drei Meter von Mila und Eric entfernt blieben die beiden Männer stehen.
»Glaubst du, sie sind da durch?«, fragte der Jeanstyp.
Der Kerl in Schwarz stieß ein Brummen aus, das sehr dunkel klang. »Wohin sollten sie sonst sein? Los, hinterher! Caruel will sie tot sehen.«
Tot sehen … Die Worte dröhnten in Milas Ohren. Und sie waren einfach viel zu ungeheuerlich, als dass sie sie wirklich fassen konnte.
Sie biss sich in die Faust, damit ihr kein Laut entfuhr. Erics Gesicht war ganz dicht vor ihr, sie sah seine hellbraunen Augen, den fragenden Ausdruck darin. Warm strich ihr sein Atem über die Wange und sie konnte den schwachen Geruch wahrnehmen, der darin lag. Pfefferminz und Kaffee.
Unter ihnen quälten sich ihre Verfolger durch das Loch im Zaun, einer von ihnen fluchte dabei leise vor sich hin. Dann waren Schritte auf der anderen Seite zu hören. Kies, dachte Mila wie betäubt. Sie laufen über Kies.
Gleich darauf war es still.
Die Erleichterung fühlte sich an wie eine Umarmung.
»Okay.« Eric wartete noch einen Augenblick, dann stützte er sich auf beide Hände und sprang in die Hocke. Noch immer war er ganz dicht bei Mila. Sie fühlte sich von dem fragenden Blick in seinen Augen wie festgehalten. »Offenbar hab ich mich in nicht nur einer Sache in dir getäuscht«, sagte er.
Mila war zu zittrig, um zu antworten.
»Meinte der ernsthaft dich? Was zum Teufel hast du getan, dass solche Typen hinter dir her sind?«
Das Adrenalin jagte durch ihren Körper, machte sie fahrig und euphorisch zugleich. Sie fühlte sich so lebendig wie noch nie zuvor in ihrem Leben und gleichzeitig war sie sich ihrer eigenen Sterblichkeit noch nie so bewusst gewesen.
»Ich habe nicht die geringste Ahnung.«
Er reichte ihr die Hand, um ihr aufzuhelfen, aber sie ignorierte sie. Sie rappelte sich aus eigener Kraft auf, weitaus weniger elegant als er.
Er runzelte die Stirn. Eine ganze Weile lang stand er einfach nur da, betrachtete Mila und versuchte, aus ihr schlau zu werden. Doch dann fing er sich. »Dann finden wir es raus«, sagte er und verschwand vom Dach.
Einfach so.
Mila starrte zu ihm in die Tiefe. Für einen Moment hatte sie gefürchtet, er wäre brutal gestürzt, aber er war katzengleich auf den Beinen gelandet.
Er lachte, dann wies er auf den Mülleimer. »Du kannst entweder auf demselben Weg runterkommen, wie ich hoch bin. Oder du lässt dich von der Kante hängen und ich fange dich auf.«
Mila schüttelte den Kopf. Noch immer stand sie unter Schock. Sie ging zum Rand des Daches und dort in die Hocke. Die Mülltonne war aus dieser Perspektive mindestens einen halben Kilometer entfernt, aber ums Verrecken hätte Mila nicht zugegeben, dass ihr mulmig war. Es reichte schon, dass Eric sie auf das Dach gezogen hatte wie eine Puppe.
Kurz taxierte sie den Abstand zur Tonne, dann vergewisserte sie sich, dass ihre Verfolger nicht zurückkamen, und sprang. Für ihre Begriffe war der Aufprall ziemlich hart und vermutlich auch nicht besonders elegant. Sie musste sich an der Bretterwand abstützen und dabei schürfte sie sich die Handfläche ein wenig auf. Aber als sie von der Mülltonne auf die Erde hüpfte, nickte Eric anerkennend. »Talentiert.«
Sie biss sich auf die Innenseite ihrer Wange. Dann wies sie zur Dachkante. »Du hast mich da einfach so hochgezogen!«
Er grinste.
Wie schon neulich fiel ihr auf, wie sehnig seine Unterarme aussahen. »Wieso bist du so stark?«
»Wenn du öfter mal nur an einem oder zwei Fingern über einem Abgrund hängst, dann kommt das von ganz allein.«
Mila sah ihn plötzlich mit ganz neuen Augen. »Du bist Parkourläufer!« Einer ihrer Klassenkameraden in Berlin gehörte zu einer Gruppe Jugendlicher, die regelmäßig auf einer verlassenen Baustelle das Parkourlaufen trainierte. Mila war ein paarmal mit den Jungs dort gewesen und hatte ihnen zugesehen, wie sie über Hindernisse rannten und sprangen, aber noch nie hatte sie jemanden getroffen, der sich so wendig und scheinbar mühelos bewegen konnte wie Eric.
Sein Grinsen erlosch. »Parkourläufer sind Weicheier.« Es schien, als wollte er noch etwas hinzufügen, aber stattdessen fragte er: »Was jetzt?«
Darüber hatte Mila noch gar nicht nachgedacht. Sie starrte auf die Schürfwunde an ihrer Hand. Verunsichert grub sie die Fingernägel aller fünf Finger in ihre Stirn.
Eric schien zu ahnen, was in ihr vorging. »Wenn du nicht weißt, wo du hinsollst, gehen wir erst mal zu mir. Da bist du vor diesen Typen sicher.«
Mila ließ die Hand sinken. Das Adrenalin ebbte langsam ab und hinterließ ein Gefühl von Taubheit in ihrem gesamten Körper.
Eric kannst du vertrauen …
Auf einmal fiel ihr ein, was sie vorhin, als Maréchal das zu ihr gesagt hatte, so irritiert hatte. Sie hatte dem alten Buchhändler gegenüber kein Wort von Eric gesagt.
Plötzlich war sie nur noch müde.
Wann war der Moment gewesen, in dem sich ihr Leben in einen Spionageroman verwandelt hatte?
»Wo wohnst du?«, fragte sie, weil ihr nicht einfiel, was sie sonst tun sollte.
Er verzog angewidert das Gesicht. »Wohnen tue ich in einem vierzig Quadratmeter großen Schuhkarton in einem Vorort von Paris. Aber zu Hause bin ich in einem alten Abbruchhaus gar nicht so weit von hier.«
Der Hinterhof war klein. Die Häuser standen so eng, dass es zwischen ihnen dämmerig wirkte. Milas Blick schweifte über mit Graffiti besprühte Wände, zugenagelte Fenster, Türen, die ursprünglich einmal grün gewesen sein mussten. Unrat und zertrümmerte Möbel lagen auf einem großen Haufen in einer Ecke. Es roch vergammelt. Eine Ratte hockte auf einer aufgeplatzten Mülltüte und starrte Mila an, als wollte sie sagen: Was hat dich denn hierher verschlagen? Dann sprang sie zu Boden und huschte an der Mauer des gegenüberliegenden Hauses davon.
Mila hatte eine Gänsehaut.
Eric, der das Tier auch gesehen hatte, grinste sie an. »Die tun nichts, solange sie genügend zu fressen finden.«
Mila verzog das Gesicht. »Wie beruhigend.« Sie fühlte sich wie auf Droge, unruhig. Zappelig. Und gleichzeitig so müde, als sei sie seit Tagen wach.
Kein Wunder, dachte sie. In den letzten Stunden war mehr passiert, als gewöhnlich in ein ganzes Leben passte. Und offenbar auch sehr viel mehr, als ihrer bisherigen Meinung nach zwischen Himmel und Erde gepasst hätte.
Nachdem sie den Gare de l’Est verlassen hatten, hatte Eric sie in der Rue Bellot in eine schmale Seitengasse und durch einen noch schmaleren Durchlass in diesen Hinterhof geführt. Mila fühlte sich wie in eine andere Welt geraten. Plötzlich war das Paris, das sie bisher kennengelernt hatte, das Paris der Kirchen und Sehenswürdigkeiten und der gut gelaunten Touristen und der geschäftigen Franzosen, weit weg.
»Hey!« Eric sah ihr ins Gesicht. »Versuch, dich zu entspannen. Wir haben diese Typen abgehängt, okay? Die tun dir nichts mehr.«
Mila hielt dem Blick seiner hellbraunen Augen einige Sekunden lang stand. Dann nickte sie. »Okay.« Sie holte tief Luft. »Okay«, wiederholte sie.
Eric wies zu einem der Fenster im ersten Stock hinauf. Es war das einzige, das nicht mit Brettern vernagelt war. »Da geht es rein.« Er trat zurück, um einen kurzen Anlauf zu nehmen. Dann lief er los – auf die Mauer zu, die im rechten Winkel zu dem Fenster stand. Ganz ähnlich wie vorhin auf dem Bahnsteig lief er zwei Schritte die Mauer hoch, wirbelte in der Luft herum und stand im nächsten Moment in der Fensteröffnung.
»Und du bist doch Parkourläufer!«, sagte Mila.
Von seinem erhöhten Posten blickte Eric auf sie herab. »Ich sag doch: Parkourläufer sind Weicheier. Warte hier.« Er verschwand und gleich darauf wurde im Erdgeschoss die Haustür geöffnet. »Willkommen in meinem bescheidenen Heim!«
Sie trat an ihm vorbei und blieb staunend stehen.
Obwohl das Haus von außen aussah wie eine Ruine, war es noch vollständig eingerichtet. Sie stand in einer Art herrschaftlicher Empfangshalle mit Fliesen in blau-weißem Schachbrettmuster, einer geschwungenen Freitreppe, die ins Obergeschoss führte, einem großen Kamin samt Ölgemälde einer traurig aussehenden Frau in weißem Kleid darüber und einer Sitzgruppe aus antiken Möbeln, deren Polster von einer grünen Moosschicht überzogen war. Ein alter Flügel befand sich rechts vom Kamin, sein Deckel war aufgeklappt und Noten standen auf ihm, als sei derjenige, der hier früher gespielt hatte, nur für ein paar Minuten aus dem Raum gegangen. Die Tasten des Flügels waren nicht mehr vollständig. Es fehlten ungefähr die Hälfte und auch die Saiten im Inneren des Instruments schienen teilweise gerissen zu sein.
Der Anblick wirkte trostlos und Mila überlief eine Gänsehaut.
»Beeindruckend, nicht wahr?« Eric war von hinten dicht an sie herangetreten und hatte ihr die Worte ins Ohr geflüstert.
Mila zuckte zusammen. »Gott!«, entschlüpfte es ihr.
»Tut mir leid.« Plötzlich wirkte er verlegen. Oder nein: Gehemmt traf es eher. »Komm«, sagte er. »Oben ist es ein bisschen gemütlicher als hier.« Er wartete nicht darauf, ob sie ihm folgte, sondern lief die Freitreppe hinauf in den vierten Stock.
Eilig rannte Mila hinter ihm her.
Oben war die Atmosphäre nicht viel anders als unten. Der Fußboden war von einem verblichenen Läufer bedeckt, auf dem Staub und Mäusekot lagen. Auch hier hingen Gemälde an den Wänden, die meisten waren so nachgedunkelt, dass die Gesichter darauf fast wie die von Geistern wirkten, die einen aus einer unheimlichen Finsternis heraus anstarrten. Auf einem kleinen Tischchen stand eine Vase. Die Blumen darin waren vermutlich schon vor Jahren zu Staub zerfallen.
»Warum steht dieses Haus leer?«, fragte Mila. »Ich dachte, in Paris ist Wohnraum knapp und teuer?«
»Die letzte Besitzerin ist vor Jahren gestorben und seitdem streiten sich die Erben darum, was damit passieren soll.« Eric folgte einer Gangbiegung. »Mir soll’s recht sein.« Schwungvoll stieß er eine Tür auf, die in eine weiträumige und mit verstaubten, antiken Möbeln versehene Zimmerflucht führte. »Immer herein«, sagte er.
Während sich Mila in der Suite umsah, machte sich Eric daran, einen Tee zu kochen. Mila betrachtete das riesige Bett, das den Raum dominierte und das mit seinen gedrechselten Pfosten und der zerschlissenen Tagesdecke aussah wie aus einem Märchen. In einer Ecke des Zimmers lag eine silberne Isomatte und darauf ein blauer Schlafsack, offenbar Erics Nachtlager.
Mila ging durch eine Tür neben dem Bett und stand in einem Badezimmer aus den 40er-Jahren des letzten Jahrhunderts. Der Fußboden war aus hellem Marmor. Er wies zahllose Sprünge auf. Die Badewanne stand frei und hatte eiserne Löwenklauen. Auf einer kleinen Ablage befanden sich unleserliche Schachteln, die vermutlich früher einmal Seife und Kosmetika enthalten hatten. Jetzt sahen sie aus wie beigefarbene Zähne in einem fauligen Mund.
Der Spiegel über dem Waschbecken war zur Hälfte blind, aber Mila konnte sich trotzdem darin sehen. Ihr Blick hatte etwas Wildes, fand sie. Irgendwie irre. Ihre Haare waren wirr, ihre Wangen viel zu blass, sodass die Sommersprossen darauf wirkten wie blutige kleine Nadelstiche. Probehalber drehte sie den messingfarbenen Wasserhahn auf. In der Wand ertönte ein lautes, stöhnendes Geräusch, ein rötlicher Wasserstrahl ergoss sich in das Becken, wurde aber gleich darauf klar.
Mila schöpfte sich zwei Hände voll Wasser ins Gesicht.
Danach sah sie ein bisschen weniger blass aus. Weil die Handtücher auf der Stange wenig vertrauenerweckend wirkten, wischte sie sich mit dem Ärmel trocken. Die Schürfwunde an ihrer Hand brannte, aber sie blutete nicht.
»Warum gibt es hier noch Wasser und Strom?«, rief Mila durch die offen stehende Tür.
Eric, der mit einem Billigwasserkocher hantierte und gerade Wasser in eine bauchige Teekanne goss, zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Vermutlich haben sie einfach vergessen, es abzustellen. Ich bin auch noch nicht lange hier.« Er trug die Kanne und zwei dazu passende Tassen aus hauchfeinem Porzellan zu einem kleinen Tischchen neben dem Bett. »So. Und jetzt will ich alles ganz genau wissen. Was waren das für Typen? Und warum waren die hinter dir her?«
Mila verließ das Badezimmer. Vorsichtig ließ sie sich auf die Kante des Bettes fallen und krampfte die Hände in die alte Tagesdecke. Eine kleine Staubwolke stieg in die Luft, kitzelte sie an den Handrücken. »Ich sag doch, ich hab keine Ahnung.«
Eric runzelte die Stirn. »Der Mann hat davon gesprochen, dass jemand dich tot sehen will.«
Die Vorstellung war noch immer zu überwältigend für Mila. »Ja. Ein Villain Caruel.«
»Caruel? Wer ist das? Klingt wie aus einem Film.« Eric goss Tee in die beiden Tassen. Der aromatische Geruch von Gewürzen erfüllte die Luft. Zimt und Nelken, dachte Mila.
Sie schüttelte den Kopf, dass ihre Locken ihr in die Augen flogen. »Kein Film. Und kein schlechter Scherz, fürchte ich.«
Obwohl es ihr so vorkam. Konnte es nicht einfach sein, dass all das hier ein unglaublich aufwendiger Dreh mit versteckter Kamera war? Wohl kaum, schließlich dauerte so was nicht tagelang.
Eine sehr, sehr alte Gabe, die wir beide besitzen, wisperte eine Stimme in ihrem Hinterkopf. Diesmal war es nicht die von Maréchal, sondern die von Nicholas.
Die Fabelmacht.
Das blaue Leuchten an Nicholas’ Arm. Und das ihrer Schrift, als sie über Eric geschrieben hatte.
Allein an all das zu denken, fühlte sich so surreal an, dass sie sich fragte, wann sie in eine ihrer eigenen Geschichten geraten war. Sie erinnerte sich an Maréchals Bild von den verschiedenen Universen, die wie die Seiten eines Buches eng nebeneinanderlagen. Er hatte es kaum ausgeführt, weil ihnen die Angreifer dazwischengekommen waren, aber jetzt konnte sie sich selbst eine Vorstellung machen. Hatte er damit gemeint, dass sie vor Kurzem das eine Universum verlassen hatte, nur um in ein Nachbaruniversum zu wechseln? Sozusagen von einer Seite auf die andere gehüpft wie Alice im Wunderland in das Kaninchenloch? Und konnte wirklich so etwas Harmloses wie das … Schreiben dafür sorgen?
Mit leicht zitternden Händen nahm sie die Tasse, die Eric ihr reichte. Da sie nicht weitersprach, zog er sich einen Stuhl heran und setzte sich so, dass er ihr direkt ins Gesicht sehen konnte. »Okay, was immer es ist: Nichts ist so schlimm, wie es im ersten Augenblick scheint. Wir kommen mit der Sache klar, egal, was es ist!«
Wir, hatte er gesagt.
Diese schlichte Tatsache trieb Mila Tränen in die Augen. Hastig wischte sie sie fort.
»Herrje!« Eric nahm ihr rasch die Tasse ab und stellte sie weg. Dabei fiel sein Blick auf die Schürfwunde an ihrem Daumenballen. »Du hast dich verletzt.«
Sie rieb sich die Stelle. »Nur ein bisschen aufgeschürft. Vorhin, als ich von dem Dach runter bin.« Plötzlich hatte sie das starke Bedürfnis, sich Eric anzuvertrauen. Sie musste einfach mit irgendjemandem über alles reden, was passiert war, sonst würde der Druck, der sich in ihrem Innersten aufzustauen begann, sie über kurz oder lang explodieren lassen. Aber wie sollte sie es in Worte fassen? Sie begriff es ja selbst nicht, was gerade geschah.
Vertrau Eric!, hörte sie Maréchal sagen. Der Eric doch nicht kennen konnte, oder?
»Kann ich dir etwas zeigen?«, fragte sie.
Eric nickte.
Sie stand auf und nahm ihr Notizbuch und einen Bleistift aus ihrer Umhängetasche. Mit beidem kehrte sie zum Bett zurück, ließ sich wieder darauf nieder. Dann jedoch zögerte sie. Was genau hatte sie eigentlich vor? Sie war nicht sicher. Aber sie musste es jetzt einfach ausprobieren. Sie musste herausfinden, ob sie sich in Isabelles Wohnung das blaue Leuchten nur eingebildet hatte. Ob all die Dinge, die in den letzten Tagen passiert waren, nur aus Zufall geschahen oder ob ein geheimnisvoller Plan dahintersteckte. Vielleicht musste sie auch einfach herausfinden, ob sie verrückt war oder nicht.
Eric beugte sich gespannt vor und das gab ihr den nötigen Mut. Sie rief sich ins Gedächtnis, was Maréchal zu ihr gesagt hatte.
Neben unserem Universum existieren unendlich viele weitere. Ein jedes unterscheidet sich von dem daneben nur durch Kleinigkeiten. Zum Beispiel dadurch, dass du heute Morgen keine Jeans angezogen hast, sondern ein Kleid.
Langsam begann sie zu schreiben.
Sie begann mit ihren eigenen Klamotten, beschrieb die ausgeblichene Jeans, die hellgrauen Ballerinas, ihre Lieblingsschuhe. Das schlichte weiße Shirt, für das sie sich heute Morgen entschieden hatte. Und dann schrieb sie, dass dieses Shirt seine Farbe wechselte. Auf dem Papier machte sie aus Weiß Schwarz.
Eine Sekunde verstrich.
Dann eine weitere.
Ihr Bleistift huschte über das Papier, aber nichts geschah. Logisch! Sie war vermutlich verrückt geworden, als sie das Gerede des Buchhändlers angehört hat. Die Wirklichkeit ist das, was unser Verstand daraus macht. Und gerade als sie das dachte, flammte erst die Bleistiftspitze und dann das Geschriebene auf. Wort um Wort, Satz um Satz wurde von blauem Feuer erfasst. Eric ächzte leise, sagte aber keinen Ton, bis das Leuchten auf dem Papier verblasste.
Mila saß ganz still da. Dann blinzelte sie einmal.
Und ihr Shirt war tiefschwarz.
Eric keuchte. »Wie geht das?«, stieß er hervor.