Читать книгу Fabelmacht Bundle - Kathrin Lange - Страница 11

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Das alte, umgebaute Fahrrad mit den drei Rädern sah aus, als wäre schon seit Jahren niemand mehr damit gefahren. Der Rahmen, der wohl einmal rot gewesen sein musste, war verrostet, die Reifen platt, die Schutzbleche verbeult. Und irgendjemand hatte das Lenkrad abmontiert und mitgenommen. Chocolaterie stand auf dem Metallkasten, der zwischen die beiden Hinterräder montiert worden war. Und: Livraison rapide – Schnelle Lieferung.

Mila lief das Wasser im Mund zusammen, nicht wegen dieses alten Liefergefährts, sondern wegen des Geruchs, der aus der offenen Ladentür dahinter auf den Gehweg hinausdrang. Es roch nach warmer Schokolade, nach Vanille und Zimt. Die Holzregale des kleinen Ladens waren vollgestellt mit Leckereien aller Arten. Es gab Schokoladentafeln in verschiedenen Formen und Größen, manche mit Nüssen und edlen Gewürzen und sogar einige mit Bildern von Paris darauf. In alten Weidenkörben lagen kandierte Früchte und kleine Eiffeltürme aus rosafarbenem Zuckerschaum. Die rückwärtige Wand des Geschäftes war Gläsern und Flaschen vorbehalten. Dort gab es Senf und Öle, Wein und hochprozentige Schnäpse in allen Regenbogenfarben.

Weil Isabelle den Tag über arbeiten musste – sie traf sich mit ihrem Galeristen, um eine neue Bilderserie zu besprechen –, hatte Mila beschlossen, sich Paris allein anzusehen. Nach dem Frühstück, das typisch französisch nur aus Milchkaffee und Croissant bestanden hatte, war sie aufgebrochen und hatte sich einfach treiben lassen. Sie hatte auf gut Glück die Metro genommen, war ausgestiegen, wo es ihr interessant erschien, und dann ein bisschen durch die Straßen und Gassen geschlendert, die von Menschen nur so wimmelten. Paris erschien ihr voller und lauter als Berlin, aber auch sprühender, bunter. Allein der Verkehr war der helle Wahnsinn.

Auf einem Markt hatte Mila den intensiven Duft von frischer Minze, Früchten und Fisch in sich aufgesogen und sich bei einem der Händler ein klebriges Stück Baklava gekauft, nach dessen Genuss sie sich in einem öffentlichen Brunnen die Hände waschen musste. In einer Gasse im Quartier Marais am nördlichen Ufer der Seine hatte sie einem Pianisten gelauscht, der sein bunt angemaltes Klavier einfach auf die Straße gestellt hatte und dort seine Etüden spielte.

Und jetzt stand sie hier, ganz in der Nähe des Kulturzentrums Centre Pompidou vor dieser kleinen Chocolaterie, betrachtete dieses alte Lieferdreirad und verspürte dabei zum ersten Mal an diesem Tag den Drang zu schreiben.

Sie ignorierte ihn jedoch.

Stattdessen ging sie in die öffentliche Bibliothek im Centre Pompidou, aber all die Bücher faszinierten sie aus irgendeinem Grund heute nicht so sehr wie sonst, sondern jagten ihr eher ein unbestimmtes Unbehagen ein. Also verließ sie die Bibliothek wieder, setzte sich in eine Eisdiele und genoss die Sonne auf ihrem Gesicht.

Die Ereignisse von gestern kamen ihr an diesem Ort fern vor. Hier war es leicht, sich die Erinnerungen vom Hals zu halten, einfach nicht mehr daran zu denken und alles als absurden Zufall abzutun.

Sie beobachtete eine Frau in einem eleganten Kostüm, die einen winzigen Hund hinter sich herführte. Das Tier sah aus wie eine fuchsrote Pelzkugel in Miniaturformat. Nur die Ohrspitzen, eine feuchte schwarze Nase und winzige Pfoten schauten aus dem flauschigen Fell hervor.

Eine Kellnerin brachte Mila einen Milchkaffee und ein kleines Eis, das sie bestellt hatte. Mila dankte der jungen Frau und beobachtete den Hund dabei, wie er mitten auf den Bürgersteig pinkelte.

Ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus.

Paris fühlte sich warm und sonnig an. Und sonderbar vertraut. Sie war hier geboren, wurde ihr plötzlich bewusst. Und es kam ihr mit einem Mal so vor, als würde sie hierhergehören.

Sie trank einen Schluck von dem Kaffee. Das Eis schmeckte intensiv nach Brombeeren, ein Geschmack, der auf ihrer Zunge prickelte.

Was für ein merkwürdiges Gefühl zu wissen, in ihrer Geburtsstadt zu sein und doch als Fremde zu kommen. Sie fragte sich, wie ihr Leben verlaufen wäre, wenn Helena damals in Paris geblieben wäre.

Ihre Mutter hatte die Stadt und Frankreich gleich nach Milas Geburt verlassen. Grund dafür waren die Ereignisse um ihren Vater und ihren Bruder gewesen, die kurz vorher ums Leben gekommen waren.

Das waren die nackten Fakten, die wenigen, von denen Mila wusste und die sich tatsächlich in diesen zwei Sätzen zusammenfassen ließen. Mehr hatte Helena ihr nie darüber erzählt. Mila kannte die genaueren Umstände des Todes nicht, sie hatte keine Fotos, sie wusste nicht mal, wie ihr eigener Vater und Bruder vom Wesen her gewesen waren. Und auch über Paris konnte ihre Mutter nach all den Jahren nicht sprechen.

Eine Weile lang hatte Mila Helenas Bücher gelesen, um dem Grund dafür auf die Spur zu kommen, aber die Geschichten darin waren so rätselhaft und unergründlich, dass sie das keinen einzigen Schritt weitergebracht hatte. Egal, was auch immer sie versucht hatte, dieses eine Rätsel hatte sie nie lösen können: Was war damals so Furchtbares passiert, dass Helena noch heute, siebzehn Jahre später, förmlich hysterisch wurde, wenn auch nur der Name Paris fiel?

Mila dachte daran, was sie Isabelle gestern anvertraut hatte. Der Streit mit ihrer Mutter saß ihr tief in den Knochen. Es kam ihr vor, als wäre er Wochen her, dabei waren es erst zwei Tage.

Sie war mit ein paar Freundinnen vom Shoppen nach Hause gekommen, voller guter Laune und in ausgelassener Stimmung, weil die Sommerferien angefangen hatten und ganze sechs Wochen freie Zeit vor ihr lagen. Aber dann, als sie die Tür zu ihrem Zimmer aufgemacht hatte, das schon immer ihr ganz eigenes Reich gewesen war, hatte sie ihre Mutter auf ihrem Bett sitzend vorgefunden. Und schlimmer noch. Helena hielt eines von Milas vollgeschriebenen Notizbüchern in der Hand. Schuldbewusst sah sie aus, doch da war auch ein Ausdruck in ihren Augen, den Mila nicht richtig deuten konnte. Irgendwie irre sah er aus. Wahnsinnig. Durchgeknallt. Was gab es noch für Wörter dafür?

»Dein Vater«, stieß ihre Mutter hervor. »Seit wann schreibst du über ihn?«

Der Vertrauensbruch fühlte sich so unfassbar fies an, dass Mila ihre Umhängetasche von ihrer Schulter rutschen und einfach auf den Boden fallen ließ. Mit langen Schritten marschierte sie zu ihrer Mutter hinüber. Riss ihr das Buch aus der Hand.

»Das geht dich gar nichts an!«, schrie sie.

Helena legte die Stirn in Falten. Allein diese Geste machte Mila rasend, weil sie so beherrscht wirkte.

»Wieso liest du mein Tagebuch?« Das letzte Wort überschlug sich schmerzhaft in Milas Kehle.

Immerhin hatte ihre Mutter genug Anstand, betroffen auszusehen. »Ich wusste nicht, dass es dein Tagebuch ist«, verteidigte sie sich. »Ich dachte, es ist nur ein gewöhnliches Notizbuch.«

Mila glaubte, ihren Ohren nicht zu trauen. Selbst wenn das stimmen sollte, hatte ihre Mutter trotzdem kein Recht, einfach so ihre Sachen zu lesen. Sie entriss ihr das Buch und pfefferte es in eine ihrer abschließbaren Schreibtischschubladen. »Schwachsinn!«

Helena stand auf. »Was soll das denn heißen?«

Mila ballte die Hände zu Fäusten. Irgendetwas in ihr wollte ihrer Mutter wehtun. Auch wenn sie gleichzeitig wusste, wie falsch das war. »Das soll heißen«, zischte sie, »dass dein ewiger Kontrollzwang mir so was von auf den Geist geht! Du klebst an mir wie eine Klette, nein, schlimmer noch, als wäre ich dein Eigentum.«

»Ich mache mir doch nur Sorgen um dich!«, sagte ihre Mutter.

»Und deswegen wühlst du in meinen Sachen? Ich bin siebzehn Jahre und alt genug, auf eigenen Beinen zu stehen. Ich kann auf mich selbst aufpassen.« Mila hielt inne, aber dann entschied sie sich, ihre schärfste Waffe zu benutzen. Die Worte, die ihre Mutter am meisten verletzten. »Ich bin nicht Papa«, sagte sie kalt. »Und ich bin auch nicht Antoine!«

Ihre Mutter erstarrte, als hätte sie ihr eine Ohrfeige gegeben.

»Das ist … nicht fair, Mila!«

Mila wusste, dass sie recht hatte. Ihrer Mutter in einem solchen Streit den Namen ihres toten Bruders an den Kopf zu knallen, war wirklich fies und sie hatte auch ein schlechtes Gewissen deswegen. Aber in ihrer Wut fegte sie es einfach beiseite. »Nicht fair?«, schrie sie. »Nicht fair ist, dass du mir nie erzählst, wie Papa und Antoine gestorben sind! Nicht fair ist, dass ich nicht mal weiß, wo ihr Grab ist! Hast du dir schon mal Gedanken darüber gemacht, dass das vielleicht der Grund ist, warum ich über die beiden schreibe? Weil ich nichts, rein gar nichts über sie weiß?«

Ihre Mutter hob ihr beide Hände entgegen. »Ich möchte mit dir nicht streiten. Schon gar nicht über dieses Thema, Émilie!«

»Nenn mich nicht so!«, fauchte Mila. Mittlerweile stand sie ihrer Mutter gegenüber wie eine tollwütige Straßenkatze.

»Hör zu …« Helena ließ die Hände sinken. »Lass mich ausreden! Diese Geschichten, die du schreibst, über Papa und … über diesen Jungen …«

… sind meine Geschichten, hatte Mila an dieser Stelle gedacht. Und sie haben mit dir nicht das Geringste zu tun. Sie hatte begonnen, ein paar Klamotten in einen Rucksack zu werfen, aber da hatte sie noch nicht gewusst, dass sie am nächsten Abend in Paris bei Isabelle sein würde.

Die Frau mit dem Minihund, die kurz zuvor in einer Parfümerie verschwunden war, kam wieder heraus. Der kleine Hund hüpfte an ihrem Bein in die Höhe wie ein Flummi. Sie beugte sich zu ihm hinunter, kraulte ihn hinter einem seiner Ohren. Das winzige Tier verschwand dabei fast in ihrer Hand.

Mila beschloss weiterzugehen. Sie bezahlte ihren Milchkaffee und das Eis. Auf ihrer Zunge lag noch der Geschmack von Brombeeren, als sie aufstand und ihren Streifzug durch die Stadt fortsetzte.

Irgendwann, mittlerweile war es Nachmittag, kam sie im Pariser Studentenviertel nahe dem Platz St. Michel an. Hier kaufte sie bei einem der afrikanischen Straßenhändler eine Postkarte, auf der die berühmte Abbildung des Nachtclubs Le Chat Noir abgebildet war. Sie hatte noch keine Ahnung, wem sie sie schicken würde.

Vielleicht sogar ihrer Mutter.

Was die wohl sagen würde, wenn sie wüsste, wo ihre ach so wohlbehütete Tochter genau in diesem Moment war?

Vermutlich würde sie ausflippen.

In Gedanken versunken, steckte Mila die Karte in ihre große Umhängetasche. Dann ging sie quer über die Straße zur berühmten Fontaine Saint-Michel, die sich an der Giebelwand eines Hauses befand, und betrachtete eine Weile lang die gehörnten und geflügelten Löwen rechts und links des Brunnens. Sie hatte nicht gedacht, dass das Bauwerk so monumental war.

Noch immer ließ sie der Gedanke an ihren Vater und ihren Bruder nicht los. Isabelle hatte gestern Abend, nachdem ihr Mila vom Grund des Streits erzählt hatte, vorgeschlagen, ihre Gräber ausfindig zu machen. Schließlich mussten die beiden ja in Paris begraben sein. Erst war Mila davor zurückgeschreckt, aber inzwischen fand sie Gefallen an dem Gedanken. Vielleicht würde das Gleiche passieren wie heute in der Stadt – vielleicht würde sie sich ihrem Vater und Bruder an deren Grab nahe fühlen? Zugehörig?

Sie wendete in Richtung der Rue Danton, als ihr Handy klingelte.

Es war Helena.

Das lachende Gesicht ihrer Mutter auf dem Display verursachte Mila ein schlechtes Gewissen. Vermutlich war ihre Mutter mittlerweile halb besinnungslos vor Sorge. Mit einem Seufzen wollte Mila den Anruf annehmen, doch genau in diesem Augenblick ging ihre Mailbox ran.

Und nur zwei Sekunden später kam eine Nachricht. Mila war versucht, sie nicht zu lesen, aber als sie es doch tat, verspürte sie Erleichterung. Denn die Nachricht war nicht von Helena, sondern von Isabelle.

Und die schrieb: »Unten bei Saint-Vincent gibt es einen neuen Club. Lust, tanzen zu gehen?«

Ein Lächeln breitete sich auf Milas Gesicht aus. Isabelle hatte ein Timing wie keine andere. Es war, als hätte sie geahnt, in welcher nachdenklichen Stimmung Mila zu versinken drohte. Mila rief ihren Browser auf, um die nächste Metrostation ausfindig zu machen, die sie zurück nach Montmartre bringen würde.

Nicholas stand mit dem Rücken gegen die Bar gelehnt da, trank einen Schluck von dem Whisky, den sie hier allen Ernstes mit bunten Schlieren aus Lebensmittelfarbe ausschenkten. Die Musik – eine Mischung aus Rock und Grunge – war laut und anstößig. Eine Menge Gestöhne. Pseudoerotische Texte. Die DJane sah mit ihrem eng anliegenden blutroten Kleid und den geflochtenen Zöpfen aus wie eine Mischung aus Morticia Addams und Alice im Wunderland. Und die Dekoration erinnerte an die Grabmale auf Père-Lachaise, wirkte aber trotz einer Menge Disconebel billig. Immerhin: Die Tanzfläche war gut gefüllt mit zuckenden, schwitzenden Leibern, die sich zu dem pulsierenden Beat bewegten, als hätte jemand sie unter Strom gesetzt. In der Luft lag der Geruch von verschüttetem Alkohol, Schweiß und überfordertem Deodorant.

Le Cimetière. Der Friedhof. Nicholas hatte diesen Club wegen des Namens ausgesucht. Es erschien ihm passend für das, was geschah. Und auch passend für das, was er vorhatte. Sich zu betrinken und einfach zu vergessen.

Die gestrige Nacht hatte er kaum geschlafen. Den Tag hatte er dann damit verbracht, die Schrift anzustarren, die sich quer über sein Handgelenk zog, und in den Büchern seines Vaters nach einer Rettung zu suchen. Natürlich vergeblich. Obwohl Caruels Sammlung von Werken über die Fabelmacht einen beträchtlichen Umfang hatte, fand sich in keinem der zumeist alten Werke auch nur der geringste Hinweis. Nicholas wusste das, denn er und sein Vater suchten seit Jahren fieberhaft danach.

Schließlich hatte er dem Drängen seines besten Freundes nachgegeben und sich einverstanden erklärt, etwas trinken zu gehen. Er hatte darauf bestanden, die Bar aussuchen zu dürfen, so waren sie hier in Saint-Vincent gelandet. Und wenn alles so lief, wie Nicholas sich das vorstellte, würde er heute den Beweis antreten, ob die Geschichte sich verändern ließ oder nicht.

Mit einer knappen Bewegung leerte er seinen Whisky und bestellte einen neuen, den vierten innerhalb der letzten Stunde. Der Barkeeper, ein lang aufgeschossener, dürrer Kerl, dem die Haut wie Pergamentpapier über den Schädel gespannt war, warf ihm einen gleichgültigen Blick zu. Er füllte ein Glas zu zwei Dritteln mit dem goldfarbenen Drink, aber als er zu den kleinen Fläschchen mit Farbe griff, wehrte Nicholas ab. »Lass das Zeug weg!«

Der Barkeeper nickte, dann lächelte er, offenbar sehr einverstanden mit dieser Entscheidung. Nicholas nahm dem Mann das Glas ab, trank es zur Hälfte aus. Das Zeug schmeckte auch ohne Farbe nicht besser. Aber immerhin betäubte es den Schmerz an seinem Handgelenk. Er starrte auf die blaue Schrift, die gerade kaum zu erkennen war.

»Meinst du nicht, dass du inzwischen genug hast?« Luc, der die ganze Zeit neben ihm gestanden und die Menge beobachtet hatte, musste seinen Mund dicht an sein Ohr bringen, damit er ihn verstand.

Nicholas schüttelte den Kopf.

Luc deutete auf den Tresen mit dem Whiskyglas. »Du willst dir beweisen, dass du die Geschichte im Griff hast und nicht sie dich.«

Nicholas zuckte mit den Schultern.

Luc verdrehte die Augen. »Komm mir nicht so! Ich kenne dich! Und ich kaufe dir deine gespielte Gleichgültigkeit nicht ab!« Er sah aus, als hätte er Nicholas am liebsten geschüttelt. Im flackernden Discolicht wirkte die Bewegung, mit der er sich die Stirn rieb, wie die eines Roboters.

Er tat Nicholas leid. Schließlich meinte er es ja nur gut. Es musste Luc quälen, dass er seinem besten Freund nicht helfen konnte. Nicholas beobachtete ihn dabei, wie er mit den Fingerspitzen einen nervösen Rhythmus auf dem Bartresen trommelte, dann von seinem Whisky trank, sich mit der Zunge über die Lippen fuhr und noch einen Schluck nahm. Luc war noch nie gut darin gewesen, seine Emotionen zu verbergen, jedenfalls nicht vor Nicholas.

Ein Mädchen in kurzem schwarzem Kleid lehnte an der anderen Seite des Tresens. Zum wiederholten Mal schaute sie nun schon in Nicholas’ Richtung. Er ließ ein paar Haarsträhnen in seine Augen fallen und das Mädchen lächelte, als sie es sah. Ihre Zähne leuchteten in dem flackernden Schwarzlicht.

Mehr oder weniger mechanisch erwiderte er ihr Lächeln.

Das Mädchen bewegte ihr Kinn einen Zentimeter nach oben und dann von ihm weg. Ein eindeutiges, wenn auch unbewusstes Signal an ihn.

Komm doch rüber!

Er rührte sich nicht. Er war nicht der Typ, der Frauen abschleppte, egal, wie mies drauf er sein mochte. Alkohol – ja. Aber Verzweiflungssex? Er musste an Mila denken. Verdammt, sein Drink war schon wieder leer. Als die Kleine ihn das nächste Mal anlächelte – fragend diesmal –, lächelte er nicht zurück.

»Ich geh mal kurz pinkeln.« Luc deutete in Richtung Toiletten und als er weg war, wurde die Lücke, die er hinterließ, augenblicklich von einem Typen besetzt, in dessen Augen Koks und Irrsinn um die Vorherrschaft stritten.

Er schien den Barkeeper gut zu kennen. »Hey, François«, schrie er gegen den Lärm an. »Seit ihr den Schuppen umbenannt habt, ist die Musik Dreck.« Er deutete auf das leere Glas in Nicholas’ Hand. »Und der Alk auch.«

Nicholas horchte auf. »Umbenannt?«, mischte er sich ein.

Der Kokser musterte ihn von Kopf bis Fuß, dann grinste er ihn ziemlich anzüglich an.

Nicholas ignorierte es. »Umbenannt?«, wiederholte er. In seinem Hinterkopf läutete eine Alarmglocke. »Wie hieß der Laden denn früher?«

Der Kokser schien seine plötzliche Anspannung zu spüren. »Hey, mach dich locker! Du bist hetero, das habe ich schon kapiert.«

Nicholas ignorierte auch das. Er wandte sich fragend an den Barkeeper. Der griff wortlos nach einem silbernen Spender, der hinter ihm auf der Arbeitsfläche stand, zog eine der dünnen dunkelroten Servietten heraus und schob sie Nicholas herüber. Dann widmete er sich wieder seiner Arbeit.

Nicholas nahm das billige Stück Papier, drehte es um. Er wurde blass, als er den alten Namen des Clubs las.

Luna.

Die Serviette rutschte beinahe durch seine Finger und in diesem Moment kam Luc von der Toilette zurück. Er wirkte erschrocken. Er brachte seinen Mund dicht an Nicholas’ Ohr. »Ich glaube, ich habe eben Mila an der Garderobe gesehen.«

Nicholas kam nicht dazu, die Information zu verarbeiten, denn in diesem Augenblick fühlte er eine Hand auf seinem Arm. Sicher, dass es Mila war, die hinter ihm stand, fuhr er herum.

Aber es war das Mädchen in Schwarz, mit dem er eben Blickkontakt gehabt hatte. »Hallo!«, sagte sie mit einer Stimme, in der alles Mögliche mitschwang.

Nicholas starrte auf die Serviette in seiner Hand.

Luna.

So hieß die Bar in seiner Geschichte. Und Mila war hier. Genau wie er es geschrieben hatte.

Er spürte, wie Mutlosigkeit sich in ihm breitmachte. Als er gestern diesen Typen in Milas Nähe gesehen hatte, diesen Eric, der in der Geschichte nicht vorkam, hatte er Lucs Hoffnung geteilt, dass auch andere Dinge anders laufen konnten. Darum war er hier in diesen Club gekommen, von dem er glaubte, dass es ein völlig anderer war. Um sich selbst zu beweisen, dass alles vielleicht doch nicht so schlimm kommen würde.

Bedächtig legte er die Serviette auf den Tresen.

Noch hatte er die Chance, ein Zusammentreffen mit Mila in einer Bar namens Luna abzuwenden.

Er zwang sich, dem Mädchen ein eindeutiges Lächeln zu schenken. »Hallo«, sagte er. »Ziemlich heiß hier drinnen.«

Er kannte die Wirkung seiner tiefen Stimme und tatsächlich, sie verfehlte ihr Ziel auch diesmal nicht. »Willst du etwas trinken?«, fragte das Mädchen.

»Ich glaube, ich würde lieber von hier verschwinden.« Nicholas’ Blick huschte durch den Raum auf der Suche nach Mila. Noch schien sie an der Garderobe zu sein.

Luc riss ihn am Ärmel. »Was soll das werden? Was ist mit Mila?«

»Hör auf, ihren Namen zu sagen!«, zischte Nicholas.

»Wer ist Mila?«, erkundigte sich das Mädchen in Schwarz.

»Ich versuche nur, dir zu helfen«, beschwerte sich Luc.

Da schwankte Nicholas, weil das blaue Mal an seiner Hand aufglühte. Etwas ergriff Besitz von ihm. Er langte über die Bar und packte das Messer, mit dem der Barkeeper Limetten zerteilte. Kurz hielt er inne, lauschte auf das Finstere in seinem Inneren, doch dann, mit einer fließenden Bewegung, drehte er das Messer so, dass sein Griff auf Luc wies.

Der fasste instinktiv danach und umklammerte ihn. »Spinnst du?«, murmelte er, aber Nicholas hatte bereits das Messer losgelassen. Er drängte sich an Luc heran, so dicht, dass die Klinge seine Bauchmuskeln berührte.

Luc wollte zurückweichen, doch es war zu voll. Er rempelte den Kokser an und erntete einen bösen Blick von ihm. »Nicholas«, ächzte er und ließ das Messer sinken. »Ich … was soll das, verdammt?!«

»Du kannst mir nicht helfen«, sagte Nicholas. »Und Mila auch nicht.« Er machte eine Pause, weil ihm bewusst wurde, dass er gerade genau das tat, was die Geschichte von ihm verlangte. Ihm wurde schlecht. »Obwohl?«, fügte er hinzu. »Mila doch. Wenn du hier und jetzt zustößt.« Er klang völlig ruhig dabei, auch wenn ihm vor Grauen die Haare im Genick zu Berge standen.

Das Mädchen in Schwarz stieß einen Schrei aus.

Er knirschte mit den Zähnen.

»Schluss jetzt!« Der Barkeeper war plötzlich da und entwand Luc mit einem geübten Griff das Messer. »Noch so ein Ding und ich lass euch rauswerfen!«

Mehrere Sekunden verstrichen, bis Nicholas sich wieder bewegen konnte. »Schon gut«, murmelte er.

Und in diesem Augenblick erschien Mila in der Tür des Clubs. Sie trug wie das Mädchen am Tresen ein Minikleid, aber ihres war nicht schwarz, sondern flammend rot. Ihre widerspenstigen blonden Locken hatte sie mit mehreren Kämmen am Hinterkopf gebändigt. Einige hatten sich befreit und kringelten sich in ihrem Nacken und rechts und links ihrer Ohren.

Nicholas sah zu, wie sie ihren Blick über die Menge schweifen ließ. Und kurz bevor sie ihn entdeckte, wandte er sich in seiner Not mit einem Ruck zu dem Mädchen in Schwarz um, packte ihr Gesicht und küsste sie.

Mila war völlig unfähig, sich zu bewegen. Sie hatte Nicholas erkannt, obwohl er sich alle Mühe gab, sein Gesicht vor ihr zu verbergen. Die Art und Weise, wie er dieses Mädchen küsste, fühlte sich an wie eine kalte Hand, die sich um ihre Kehle legte und zudrückte. Sein Blick war ihrem nur einen Sekundenbruchteil lang begegnet, aber er hatte ausgereicht, um Mila komplett den Boden unter den Füßen wegzuziehen.

Ihr Herzschlag beschleunigte sich. Und verlangsamte sich dann so sehr, dass sie glaubte, keine Luft mehr zu bekommen.

Isabelle wedelte vor ihrer Nase herum. »He! Hast du ein Gespenst gesehen?«, schrie sie gegen die laute Musik an.

Mila riss sich von Nicholas und dem Mädchen los. »Was? Nein. Natürlich nicht.«

Aber Isabelle hatte längst bemerkt, wohin sie gestarrt hatte. Ihre Miene verfinsterte sich, als sie Nicholas beim Knutschen zusah. »Kennst du den Typen?«

Nein!

Fast hätte Mila das laut gesagt. Doch stimmte es auch? Die Wahrheit war, dass sie Nicholas gestern zum ersten Mal in ihrem Leben begegnet war. Aber trotzdem kannte sie ihn irgendwie schon seit vielen Jahren.

Weil sie über ihn geschrieben hatte.

Sie biss sich auf die Lippe, um das nicht laut auszusprechen. Isabelle hätte sie für völlig bekloppt erklärt. »Nicht wirklich«, schrie sie. Die Musik setzte kurz aus und die Menge auf der Tanzfläche kam zum Stillstand. »Ich glaube, ich bin ihm gestern am Bahnhof begegnet«, fügte sie etwas leiser hinzu. Sie dachte an Eric und ihr gestohlenes Portemonnaie. »Er hat einem Taschendieb die Sachen wieder abgenommen, die der mir gestohlen hatte.«

»Hat er das? Wie ritterlich.« Isabelle betrachtete Nicholas mit neuem Interesse, aber dann rümpfte sie abfällig die Nase. Die Musik setzte wieder ein, in unverminderter Lautstärke. »Na ja«, brüllte sie. »Aber so, wie er die Tusse abknutscht, kommt er für weitere Betrachtungen wohl nicht infrage.«

Stimmt, dachte Mila. Aber weniger, weil er das andere Mädchen so heftig küsst, als vielmehr deswegen, weil er Eric das Handgelenk gebrochen hat.

Mit einem kalten Gefühl im Magen sah sie zu, wie Nicholas seine Hand auf die Schulter des Mädchens in Schwarz legte und ihr irgendwas ins Ohr sagte. Das Mädchen schaute erst verdutzt, dann freudig überrascht. Nicholas griff nach ihrer Hand und gemeinsam drängten sie sich in Richtung Ausgang durch die Menge.

Mila verdrehte die Augen.

Nicholas gab sich alle Mühe, ihr so weit wie möglich auszuweichen, aber so groß war der Club nicht und sie stand noch immer bei der Tür. Als die beiden in ihre Nähe kamen, blieb das Mädchen in Schwarz stehen. Nicholas wollte sie mit sich fortziehen, aber sie wehrte ihn ab. »Was glotzt du so?«, zischte sie Mila an.

Mila versuchte, Nicholas’ Blick zu erhaschen. Vergeblich.

»Er hat überhaupt kein Interesse an dir«, entfuhr es ihr.

Ihre Worte ließen Nicholas zusammenzucken und sie selbst auch.

Warum hatte sie das gesagt? Sie war sich irgendwie sicher, dass dem so war, auch wenn Nicholas sich alle Mühe gab, einen anderen Eindruck zu erwecken. Er hob seinen Blick, sah sie an, und das steigerte noch die Irritation, die sie empfand. Warum nur wusste sie so genau, dass er nichts von dem Mädchen wollte?

Die Antwort auf diese Frage kam ihr augenblicklich in den Sinn.

Weil der Nicholas in ihrem Notizbuch so gehandelt hätte.

Doch von dem Notizbuch wusste er nichts. Er zog das Mädchen wieder an sich. »Ignorier sie«, rief er gegen die Musik an. »Sie ist nur irgendein Mädel und glaubt, es hätte was zu bedeuten, dass ich ihr gestern Nachmittag den Arsch gerettet habe.«

Mila zuckte zurück. Die kalten Worte fühlten sich an wie Schläge. Und sie klangen alles andere als gespielt. Das hier ist die Wirklichkeit, dachte sie. So ist er in echt. Hier war er wieder, der Beweis, dass dieser Junge nichts mit ihren schwärmerischen Träumereien zu tun hatte. Bis auf sein Aussehen.

Und seinen Namen.

Das Mädchen an Nicholas’ Hals lachte. Es klang gehässig. »Wie es aussieht, hat er kein Interesse an dir!« Sie nahm sein Gesicht in beide Hände und küsste ihn auf den Mund. Kurz versteifte sich Nicholas, aber dann erwiderte er den Kuss. Mehrere Sekunden lang starrte Mila ihn und das Mädchen an, bis Nicholas sich endlich von ihr losmachte.

»Komm!« Isabelle hakte sich bei ihr ein und wollte sie davonzerren. »Der ist es echt nicht wert!«

Natürlich hatte sie recht damit. Aber dennoch konnte Mila das hier nicht einfach so auf sich beruhen lassen. Bevor sie wusste, was sie tat, fasste sie nach Nicholas’ Unterarm und hielt ihn fest.

Für eine Sekunde war sie sicher, dass er schroff und abwehrend reagieren würde. Stattdessen stand er da, mit gesenktem Kopf, leicht schwankend, als versuche er zu ergründen, was nun geschehen würde.

»Du spürst es auch, nicht wahr?« Mila flüsterte nur. Mit der lauten Musik im Hintergrund konnte er sie nicht hören, aber sie hatte das Gefühl, dass er sie sehr genau verstand. Er wusste um die Verbindung, die sie beide hatten. Irgendwie wusste er es. Da war sie sich ganz sicher.

Nach einer gefühlten Ewigkeit hob er den Blick und suchte ihre Augen. Und dann packte er sie, beugte sich vor und presste seine Lippen auf ihre. Sein Kuss hatte etwas Atemloses, Verzweifeltes und er überrumpelte Mila komplett.

Als sie sich wieder gefangen hatte, stieß sie ihn, so fest sie konnte, von sich. »Hast du sie noch alle?«

Er schüttelte den Kopf. »Du wirst dich in mich verlieben, wenn du dich nicht von mir fernhältst.« Seine Worte klangen so atemlos, wie der Kuss es gewesen war. »Es tut mir so leid!« Kurz straffte er sich, dann nahm er erneut das Mädchen im schwarzen Minikleid an der Hand und zog sie mit sich.

Das irritierte Grinsen seiner Begleiterin drehte Mila den Magen um. Sie sah zu, wie Nicholas ihr den Arm um die Schultern legte, und sie starrte den beiden auch noch nach, als sie zur Garderobe gingen.

Isabelle an ihrer Seite stieß ein übertriebenes Würgen aus. »Was ist das denn für ein Scheißkerl?«, schrie sie ihr ins Ohr.

Mila verstand nicht, was gerade passiert war. Sie war erschrocken und wütend über Nicholas’ übergriffiges Verhalten. Aber gleichzeitig keimte ein Gefühl in ihr auf, das sie überhaupt nicht zu deuten wusste. Du wirst dich in mich verlieben, hatte er gesagt.

Schwachsinn!

Sie hatte gesehen, dass alles an ihm, seine gesamte Haltung, die Spannung in seinen Schultern, seine Wahrnehmung direkt auf sie ausgerichtet gewesen waren. Wie eine Kompassnadel auf den Nordpol. Sie ballte die Fäuste. Vermutlich machte es ihm einfach Spaß mitzuerleben, was für eine Wirkung er auf Mädchen hatte.

Sie schaute noch einmal zur Garderobe, wo sich Nicholas seinen Mantel überzog. Das Mädchen in Schwarz sagte etwas zu ihm und er lachte auf. Er sah sehr gut aus, wenn er lachte. Tja, Fassaden konnten täuschen.

Gerade, als Mila sich das fast eingeredet hatte, zeigte das Mädchen auf seinen Arm. Mila war zu weit weg, um zu hören, was sie sagte. Dafür aber beobachtete sie Nicholas’ Reaktion. Er zog in einer erschrockenen, hastigen Bewegung den Hemdärmel bis über die Fingerspitzen nach unten. Zu spät.

Mila hatte gesehen, was er zu verbergen versuchte. Auf einmal fühlte sie sich, als hätte ihr jemand einen Eimer Wasser über den Kopf gegossen.

Unter Nicholas’ Hemdmanschette hatte etwas hervorgeschimmert.

Blau war es gewesen.

So blau wie das Leuchten ihrer Schrift, als sie die Geschichte über Eric geschrieben hatte.

»Oh, Mann!«, ächzte Isabelle. »Diese Dinger bringen mich noch um!« Sie hielt an, zerrte ihren linken High Heel vom Fuß und rieb sich die schmerzenden Zehen.

Mila blieb ebenfalls stehen. Die von unzähligen Scheinwerfern angestrahlte weiße Basilika Sacré-Cœur ragte vor ihr auf. Rechts ging es zu der großen Freitreppe vor dem Kirchenportal, die an sonnigen Tagen bei Touristen als Fotomotiv so beliebt war. Die Nacht war lau und sternenklar und dementsprechend viele Pärchen schlenderten durch die engen und romantischen Gassen von Montmartre.

Nachdem Nicholas mit dem Mädchen in Schwarz abgezogen war, hatten Mila und Isabelle es nur kurz in dem Club ausgehalten. Bald darauf hatten sie ihn ebenfalls verlassen und waren eine Weile lang umhergelaufen. Mila musste dringend den Kopf freikriegen. Die unerwartete Begegnung mit Nicholas und sein sonderbares Verhalten hatten sie tief erschüttert. Und viel mehr noch die Erkenntnis, dass sie sich das blaue Leuchten ihrer Schrift in Isabelles Wohnung offenbar nicht eingebildet hatte und dass Nicholas irgendwie damit zusammenhing.

Im ersten Moment hatte sie den Impuls verspürt, ihm nachzulaufen und eine Erklärung von ihm zu verlangen. Aber Isabelle hatte sie zurückgehalten. »Spinnst du?«, hatte sie Mila angefaucht und als Mila ihm dennoch auf die Straße hinterhergeeilt war, war von Nicholas natürlich keine Spur mehr zu sehen gewesen.

Klar. Wenn sie die Autorin dieser Geschichte hier gewesen wäre, hätte sie es ganz genau so geschrieben.

Jetzt richtete Mila den Blick auf die angestrahlte Kirche. Die fast weiße Fassade sah in der dunklen Nacht regelrecht unwirklich aus. Erschöpft blies Mila die Wangen auf.

Isabelle streifte sich ihren Schuh wieder über. »Also!«, sagte sie. »Jetzt erzähl schon: Was war das eben da drinnen? Du hast dich benommen, als wolltest du ihm sofort an die Wäsche.«

Mila presste die Lippen aufeinander. Seite an Seite mit Isabelle trat sie an die oberste Stufe der Freitreppe. Der Ausblick war überwältigend. Paris lag zu ihren Füßen und funkelte in der Dunkelheit genauso wie der klare Sternenhimmel über ihnen. Das Licht von Tausenden Straßenlaternen ließ die typischen metallgrauen Dächer schimmern.

»Mila!«, mahnte Isabelle. »Ich will wissen, was das für ein Kerl war! Was ging da ab zwischen euch? Du hast ihn angestarrt, als würdest du gleich anfangen zu sabbern!«

»Ich habe ihn nicht angestarrt!«, protestierte sie lahm.

Isabelle schien das nicht mal einer Antwort würdig zu sein. Sie schaute sie nur an.

»Okay. Schon okay. Keine Ahnung«, murmelte Mila darum. »Aber ich habe nicht gesabbert.« Sie wollte etwas hinzufügen, irgendeine Erklärung, zuckte dann jedoch mit den Schultern, weil sie nicht wusste, was sie Isabelle erzählen sollte.

Er ist aus meinen Geschichten einfach so rausspaziert?

Meine Schrift hat in demselben Blau aufgeleuchtet wie etwas auf seinem Arm?

Ich fühle ihn wie einen Splitter in meinem Herzen?

Sie spürte ein irres Lachen in ihrer Kehle aufsteigen. Was passierte hier nur?

Isabelle zog die Unterlippe zwischen die Zähne und kaute darauf herum. »Ich kenne solche Typen! Wetten, der lässt das Mädel eiskalt fallen, wenn er seinen Spaß mit ihr gehabt hat?«

Mila richtete den Blick in die Ferne, wo das Centre Pompidou lag und so bunt leuchtete wie die Gebäude auf Isabelles Bildern. Den Eiffelturm konnte man von hier aus nicht erkennen. Er befand sich weiter rechts, verdeckt durch den Hügel und die Bäume. Was eigentlich auch egal war, Mila hätte in diesem Moment sowieso keinen Blick für ihn gehabt. Die Welt verschwamm, weil ihr völlig grundlos Tränen in die Augen schossen. Wütend auf sich selbst wischte sie sich über die Lider.

Verdammt, was war das denn nun schon wieder?

Isabelle legte ihr eine Hand an die Wange und zwang sie so, sie anzuschauen. »Warum hat dich dieser Kerl so beeindruckt, Mila?«

Mila lauschte in sich hinein, bevor sie antwortete. »Ehrlich? Ich weiß es nicht. Ich …«

»Du wirst dich in mich verlieben, wenn du dich nicht von mir fernhältst?« Isabelle imitierte Nicholas’ dunkle Stimme. »Also echt, Mila! Der hat doch zu viel Twilight geguckt! Vermutlich denkt er, dass so was die Mädchen anmacht. Bei dem Mädel in Schwarz scheint es ja funktioniert zu haben.« Sie machte eine abfällige Handbewegung. »Tja, so etwas nennt man Liebe auf den ersten Blick. Vergiss ihn, Mila!«

Mila schwieg. Sie wollte Isabelle sagen, dass sie Nicholas nicht vergessen konnte, aus dem einfachen Grund, weil sie seit Jahren über ihn schrieb und es sich so anfühlte, als würden sie sich ewig kennen. Und dann wiederum war ihr bewusst, dass der Junge in ihren Notizbüchern völlig anders war als der echte Nicholas. Wieder hörte sie Erics Handgelenk brechen. Wieder spürte sie Nicholas’ Lippen auf ihren, hart und fordernd, ohne jede Rücksicht.

»Das geht nicht«, hörte sie sich sagen.

»Warum nicht?« Die Lichter der Stadt strahlten Isabelles Haare von hinten an und ließen sie schimmern.

Mila zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Irgendwie ist da eine Verbindung zwischen uns …«

»Der schweigsame, düstere Unbekannte.« Isabelle stieß ein Lachen aus, dann hakte sie sich bei ihr unter. »Süße, ich bin vier Jahre älter als du. Glaub einer alten Freundin, wenn sie dir sagt, dass jedes Mädel die Finger von diesem Kerl lassen sollte.« Sie machte eine Pause. »Liebe auf den ersten Blick gibt es nicht«, erklärte sie dann kategorisch.

Nicholas stand in den Schatten einiger Bäume und starrte Mila an.

Das Mädchen im schwarzen Minikleid war zur Furie geworden, als er ihr auf die Frage, wer Mila war, keine befriedigende Antwort geben konnte. »Wer bin ich?«, hatte sie ihn angegiftet. »Die Idiotin, die dir hilft, die Kleine im roten Kleid eifersüchtig zu machen?« Sie hatte ihm sogar eine Ohrfeige gegeben, bevor sie davongerauscht war. Der Abdruck ihrer Finger war noch auf seiner Wange zu spüren und er wusste, er hatte ihn sich verdient.

Vorsichtig schob er seinen Hemdsärmel hoch. Die Schrift schien in der Dunkelheit doppelt grell. Eilig wandte er sich ab und zog die Manschette nach unten, damit Mila nicht auf das Licht aufmerksam wurde. Der Schriftzug war jetzt ganz eindeutig zu erkennen.

Mila und Nicholas, zog es sich auf der Innenseite seines Handgelenks entlang. In seiner eigenen Handschrift.

Er schluckte gegen ein Würgen an und wandte sich wieder um.

Milas Freundin sprach gerade. Isabelle hieß sie, wenn er das richtig verstanden hatte. »Vergiss ihn, Mila!«, sagte sie und als Mila antwortete, klang ihre Stimme ganz deutlich durch die Nacht.

»Das geht nicht.«

»Warum nicht?«

»Keine Ahnung. Irgendwie ist da eine Verbindung zwischen uns …«

Plötzlich fiel Nicholas das Atmen schwer. Hinter ihm befand sich ein schmiedeeisernes Geländer, dessen Metallstreben nicht mehr ganz in Ordnung waren. Eine war geborsten und verbogen. Wie eine schartige Klinge ragte sie in die Höhe.

In seiner Geschichte stand er ebenfalls hier in den Schatten, aber da war kein scharfes Eisenteil.

Jetzt schaute er auf seine Handfläche, zögerte. Dann schloss er die Hand um das schartige Stück Metall und drückte zu, bis das Blut an seinem Handgelenk hinablief. Bis das blaue Feuer an seinem Arm aufflackerte und ein weiteres Wort entstand.

Tod.

»Hier bist du!« Luc war da, er hatte ihn nicht kommen hören. »Ich habe die ganze Zeit nach dir ges…« Er unterbrach sich, als er das Blut bemerkte. »He, was machst du denn?« Er packte Nicholas’ Hand, zog sie von dem Eisenteil weg.

Nicholas ächzte unter Schmerzen und es war die Flammenschrift, die ihn quälte, nicht die Verletzung.

»In der Geschichte verletze ich mich nicht«, sagte er.

Luc verstand, worum es ging. Er legte ihm eine Hand unter den Ellenbogen. »Du bist leichenblass.«

Nicholas schob den Hemdsärmel erneut hoch, sodass sein Freund die Schrift lesen konnte. »Sie wächst.«

Luc starrte erschrocken darauf. »Das wird …«

»Meine Geschichte.« Milas Name. Seiner. Und das Wort Tod. Der einzige Text, den er jemals geschrieben hatte, in dem alle drei Worte vorkamen, war diese eine, elende Geschichte.

»Tut das weh?«, fragte Luc, während Mila und ihre Freundin Seite an Seite davongingen.

Nicholas keuchte auf.

»Es tut weh, oder?«, fragte Luc. Sein Blick wanderte forschend von Nicholas’ Arm zu seinem Gesicht und wieder zurück zu seinem Arm.

Nicholas schaute den beiden Mädchen hinterher, dann senkte er resigniert den Kopf.

»Wie die Hölle«, murmelte er.

Fabelmacht Bundle

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