Читать книгу Argumentation - Kati Hannken-Illjes - Страница 21

3.3 Die Diskurstheorie Habermas’ und sein Blick auf Argumentation

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Einer der einflussreichsten Beiträge zur modernen Argumentationstheorie kommt von Jürgen Habermas, formuliert in den Arbeiten der Theorie des kommunikativen Handelns in den 70er und 80er Jahren des 20. Jahrhunderts. Verschiedene Autoren, so z.B. Alexy für die Rechtswissenschaft und Kopperschmidt für die Argumentationstheorie, haben die Habermas’sche Theorie weitergeführt, Goodnight hat sich in seinen Arbeiten zu spheres of argument stark auf Habermas bezogen (vgl. Kapitel 4.2.1) und in jüngeren Debatten um die Verbindung von Argumentation und Publikum (vgl. Tindale, 2015) spielt der Ansatz eine große Rolle. Darüber hinaus ist die Theorie kommunikativen Handelns und kommunikativer RationalitätRationalität insgesamt sehr breit rezipiert worden, wenn auch nicht immer als Argumentationstheorie. Habermas hat zentrale Begriffe geprägt und grundlegende Überlegungen für die Funktion von Argumentation angestellt. Diese hat er explizit in eine Nachbarschaft zur Informellen Logik gestellt, die sich zu derselben Zeit entwickelte. Damit hat er den lebhaften Diskurs über Argumentation Ende der 70er und Anfang der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts insbesondere in der Linguistik und Rhetorik mit angefacht und mitbestimmt.

Argumentation ist nach Habermas dann notwendig, wenn kommunikatives Handeln unterbrochen und ein GeltungsanspruchGeltungsanspruch strittig wird. Kommunikatives HandelnKommunikatives Handeln ist die Form von Kommunikation, in der nichts strittig wird, was für die meisten Fälle von alltäglicher Kommunikation zutrifft. Während wir kommunikativ handeln, erheben wir parallel auch verschiedene Geltungsansprüche: d.h. eine Sprecherin macht nicht nur eine Äußerung, sondern sie äußert zugleich, dass sie bereit ist, die Geltung dieser Äußerung herzustellen, sollte die Geltung bezweifelt werden. Dieses Anzweifeln der Geltung wird in der Regel beschrieben als: „ein GeltungsanspruchGeltungsanspruch wird strittig“. Wenn ein GeltungsanspruchGeltungsanspruch strittig wird, wird das kommunikative Handeln unterbrochen und der Sprecher muss den GeltungsanspruchGeltungsanspruch durch Argumente einlösen. Die Phase, die das kommunikative Handeln dafür unterbricht, bezeichnet Habermas als DiskursDiskursin der Theorie des kommunikativen Handelns. Daher wird bei der Einlösung von Geltungsansprüchen durch Argumente auch von einer diskursiven Einlösungdiskursive Einlösung gesprochen. Während wir kommunizieren – kommunikativ handeln –, erheben wir demnach implizit mit jeder Äußerung den Anspruch, dass die Äußerung gilt. Wenn also ein Geschworener sagt: „der Junge ist schuldig“, macht er damit nicht nur eine Aussage über die Welt, sondern auch eine Aussage über die Aussage: diese Aussage gilt.

GeltungsanspruchGeltungsanspruch: „Ein GeltungsanspruchGeltungsanspruch ist äquivalent der Behauptung, daß die Bedingungen für die Gültigkeit einer Äußerung erfüllt sind.“ (Habermas, 1995a, S. 65, Hervorhebung im Original)

Argumentation ist demnach ein Mittel, wenn GeltungsansprücheGeltungsanspruch bestritten werden. Im Beispiel der zwölf Geschworenen ist nun fast das gesamte Gespräch dadurch geprägt, dass ein GeltungsanspruchGeltungsanspruch strittig geworden ist.

JUROR 1: Also elf Stimmen für „schuldig“. In Ordnung. – „Nicht schuldig“? (Juror 8 hebt langsam die Hand.) Eine. – Klar, 11:1 für „schuldig“. Jetzt wissen wir wenigstens, woran wir sind.

Ausgangspunkt ist die Abstimmung darüber, ob der Junge schuldig ist, seinen Vater ermordet zu haben. Wäre die Abstimmung 12:0 ausgegangen, wäre das kommunikative Handeln nicht unterbrochen worden, die Geschworenen hätten ihre Entscheidung mitgeteilt und der Strafprozess wäre abgeschlossen worden. Die Meldung von Juror 8 bei „nicht schuldig“ markiert aber den GeltungsanspruchGeltungsanspruch, der der Aussage „der Junge ist schuldig“ unterliegt, als strittig. Dies ist der Punkt, an dem das kommunikative Handeln durch die Problematisierung eines GeltungsanspruchsGeltungsanspruch zum Diskurs wird: Gegenstand der folgenden Kommunikation ist nun die Geltung von Aussagen, nicht der Austausch von Informationen über die Welt. Da man sich Argumentation hier als Unterbrechung von kommunikativem Handeln vorstellen kann, haben einige Autoren Argumentation in Anschluss an Habermas auch als Metakommunikation bezeichnet (vgl. Völzing, 1979).

Ausgehend von der SprechakttheorieSprechakttheorie unterscheidet Habermas Sprechakte, denen je unterschiedliche Geltungsansprüche zugeordnet sind. Habermas unterscheidet vier Arten von Geltungsansprüchen:

Verständlichkeit:

dieser GeltungsanspruchGeltungsanspruch wird mit jeder Äußerung erhoben. Sollte er bestritten werden, kann er nicht durch Argumentation bearbeitet werden, sondern dadurch, dass das Gegenüber zur Erläuterung aufgefordert wird.

Wahrheit:

Wahrheitdieser GeltungsanspruchGeltungsanspruch bezieht sich auf die WahrheitWahrheit der Äußerung, also ob der propositionale Gehalt als richtig oder nicht richtig einzustufen ist. Dieser Geltungsanspruch muss argumentativ eingelöst werden.

Richtigkeit:

dieser GeltungsanspruchGeltungsanspruch bezieht sich auf die Richtigkeit des Handelns, das mit der Äußerung vollzogen oder auf das referiert wird. Dieser Geltungsanspruch muss argumentativ eingelöst werden.

Wahrhaftigkeit:

dieser GeltungsanspruchGeltungsanspruch bezieht sich auf die Grundannahme innerhalb von Kommunikation, dass das Gegenüber aufrichtig ist. Dieser Geltungsanspruch kann nur performativ eingelöst werden. D.h. er muss vollzogen werden und sich in der kommunikativen Praxis zeigen.

Argumentation ist also ein Mittel, um strittig gewordene Geltungsansprüche der WahrheitWahrheit und der Richtigkeit einzulösen. Dies nennt man die diskursive Einlösbarkeit von Geltungsansprüchen. Die Unterscheidung von Geltungsansprüchen der WahrheitWahrheit und der Richtigkeit ist von vielen Autorinnen als grundlegende Unterscheidung verschiedener Formen der Argumentation aufgenommen worden. Argumentation ist aus Sicht von Habermas ein besonderes Mittel, da sich die Teilnehmerinnen im Diskurs außerhalb des kommunikativen Handelns stellen.

Diskurs: „Unter dem Stichwort ‚Diskurs‘ führte ich die durch Argumentation gekennzeichnete Form der Kommunikation ein, in der problematisch gewordene Geltungsansprüche zum Thema gemacht und auf ihre Berechtigung hin untersucht werden“ (Habermas, 1984, S. 130).

In der „Theorie des kommunikativen Handelns“ (1995a) nennt Habermas noch einen weiteren GeltungsanspruchGeltungsanspruch, den der Angemessenheit von Wertstandards. Der prototypische Fall der Einlösung dieses GeltungsanspruchsGeltungsanspruch ist die ästhetische KritikKritikin der Theorie des kommunikativen Handelns (S. 41). Auch Werturteile können reflektiert und begründet werden, jedoch nicht mit dem Ziel eines KonsensKonsenses, der als Basis für weiteres kommunikatives HandelnKommunikatives Handeln dient. Diese Form der Geltungsansprüche ist, so Habermas, nicht diskursiv einlösbar, allerdings durch Argumentation bearbeitbar. Es handelt sich dann nicht um Argumentation innerhalb eines Diskurses, sondern im Rahmen von „KritikKritikin der Theorie des kommunikativen Handelns“.

Bis hierher könnte man fragen, warum die Argumentationstheorie Habermas’ der dialektischen Perspektive zugeordnet wird. In der Tat ist die Annahme, dass die StrittigkeitStrittigkeit oder die Markierung von DissensDissens eine Unterbrechung in der laufenden Interaktion bedeutet, weit verbreitet und so auch in rhetorisch einzuordnenden Ansätzen zu finden (vgl. z.B. das Sequenzmodell des Argumentierens bei Spranz-Fogasy, Kapitel 5.4.2). Zudem ordnet Habermas selbst seinen Ansatz in Bezug auf die Trias Prozess, Prozedur, Produkt als Prozessansatz ein. Allerdings fasst er Prozess als „eine unwahrscheinliche, weil idealen Bedingungen hinreichend angenäherte Form der Kommunikation“ (1995a, S. 47). Diese Beschreibung der Prozessperspektive wird von den meisten Autorinnen nicht geteilt. Dialektisch wird das Modell durch zwei Bestandteile, die noch nicht eingeführt wurden: zum einen die Ideale SprechsituationIdeale Sprechsituation und zum anderen die KonsensorientierungKonsensorientierung. Oben wurde gesagt, dass Argumentierende sich im Diskurs außerhalb des kommunikativen Handelns stellen. Dies drückt aus, dass nach Habermas innerhalb von Diskursen spezifische Situationsbedingungen gegeben sind, nämlich die der Idealen Sprechsituation. Die Bedingungen der Idealen Sprechsituation geben Verfahrensregeln vor, die eher deskriptiv als präskriptiv zu verstehen sind. Es handelt sich um Regeln, von denen alle Teilnehmerinnen in einem Diskurs annehmen, dass sie gelten, wohl wissend, dass sie nicht (vollständig) befolgt werden können. Durch diese kontrafaktische Annahme haben die Regeln aber dennoch eine normative Wirkung innerhalb des Diskurses.

Allgemein lassen sich die Bedingungen der Idealen Sprechsituation unter der Überschrift „Herrschaftsfreiheit“ fassen. Der Diskurs wird durch keinen anderen Faktor bestimmt als den „zwanglosen Zwang des besseren Arguments“ (Habermas, 1981, S. 194). In einem Aufsatz zur Diskursethik nennt Habermas drei Diskursregeln, die Alexy ausgehend von Habermas’ Theorie entwickelt hat. Diese scheint Habermas als exemplarisch zu sehen.

 (3.1) „ Jedes sprach- und handlungsfähige Subjekt darf an Diskursen teilnehmen.

 (3.2) Jeder darf jede Behauptung problematisieren.Jeder darf jede Behauptung in den Diskurs einführen.Jeder darf seine Einstellungen, Wünsche und Bedürfnisse äußern.

 (3.3) Kein Sprecher darf durch innerhalb oder außerhalb des Diskurses herrschenden Zwang daran gehindert werden, seine in (3.1) und (3.2) festgelegten Rechte wahrzunehmen“ (Habermas, 1983, S. 99).

Bei diesen Regeln handelt es sich in erster Linie um Beteiligungsregeln. Habermas beschreibt sie als Regeln auf der Prozessebene, da sie aber den Diskurs normieren, lassen sie sich eher dem dialektischen Ansatz zuordnen. Zugleich sind es keine anzustrebenden Bedingungen, die Habermas hier formuliert, sondern gegebene Normen, die jede Argumentation bestimmen, auch wenn die Praxis von ihnen abweichen kann. Es handelt sich, so Habermas, „bei den Diskursregeln nicht einfach um Konventionen (…), sondern um unausweichliche Präsuppositionen“ (1983, S. 100). Die Bedingungen der Idealen Sprechsituation müssen nach Habermas kontrafaktisch angenommen werden.

Die Funktion von Argumentation ist es im Modell von Habermas, die StrittigkeitStrittigkeit des GeltungsanspruchesGeltungsanspruch in der Art zu bearbeiten, dass wieder der Übergang in das kommunikative Handeln möglich ist. Als Ziel des Diskurses benennt Habermas den KonsensKonsens, d.h. Argumentation hat bei ihm immer eine KonsensorientierungKonsensorientierung. Dieser KonsensKonsens wird auch als erreichbar beschrieben, allerdings unter den spezifischen Bedingungen der Idealen Sprechsituation.

Die Theorie Habermas’ ist vielfach kritisiert worden, insbesondere in der Argumentationswissenschaft. Ein Kritikpunkt ist, dass sie Argumentation als immer auf KonsensKonsens ausgerichtet sieht. Einige Autoren (vgl. z.B. Völzing, 1979) haben darauf hingewiesen, dass Argumentation auch genutzt werden kann, um einen DissensDissens zu verschärfen, oder dass eine Argumentation beendet werden kann mit dem Wissen, dass man keine Einigkeit erreichen wird. Die KonsensorientierungKonsensorientierung wird also als idealisierend gesehen und damit als ungeeignet für die Beschreibung und Analyse authentischer Argumentation. Allerdings geht es Habermas mit seiner Theorie nicht darum, jede Form von Argumentation zu erläutern. So ist das Ziel zum Beispiel nicht, Argumentation in Alltagsgesprächen analysierbar zu machen (auch wenn der Ansatz von Habermas hier durchaus interessante Einblicke geben mag). Es geht vielmehr darum, dass der Austausch von Gründen die privilegierte Form ist, um im öffentlichen Diskurs KonsensKonsens zu erreichen. Und die Teilnehmerinnen im öffentlichen Diskurs gehen nach Habermas in den Diskurs mit dem Ziel KonsensKonsens – Verständigung – zu erreichen. Allerdings ist diese Annahme kontrafaktisch. Wäre das Ziel nicht die Herstellung von Verständigung, würden die Teilnehmerinnen gar nicht in den Diskurs eintreten. Sie tun es mit dem Wissen, dass ein KonsensKonsens unwahrscheinlich ist. Das Gleiche gilt für die Ideale SprechsituationIdeale Sprechsituation. Auch hier ist die Kritik geäußert worden, dass diese Situation etwas als Grundlage einfordert, das nicht möglich ist: herrschaftsfreier Diskurs. Aber auch das ist als kontrafaktische Annahme zu lesen. Zwar sind die Bedingungen der Idealen Sprechsituation faktisch (meist) nicht gegeben, wir können aber innerhalb von Argumentation gar nicht anders, als sie als Bedingungen anzunehmen. Argumentation ist bei Habermas also nicht einfach eine kommunikative Form neben anderen, sondern sie ist in einer demokratischen, offenen Gesellschaft das privilegierte Mittel, um zu Entscheidungen zu führen und diese zu legitimieren. Dass diese Theorie innerhalb der Argumentationswissenschaft nicht noch eine höhere Wirkmächtigkeit entfaltet hat, mag daran liegen, dass die Argumentation in den Habermas’schen Arbeiten eher angerissen als argumentationstheoretisch weiterentwickelt wurde. Das ist wiederum nachzuvollziehen, ist die Argumentationstheorie für Habermas doch ein Instrument zur Entwicklung seiner Gesellschaftstheorie. Sein Ansinnen ist nicht das eines Argumentationswissenschaftlers, sondern eines Sozialwissenschaftlers.

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