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Das Vorgehen in diesem Buch

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Diese Einführung bietet einen systematischen Zugang und orientiert sich an der Dreiteilung der Perspektiven auf Argumentation in die logische, dialektische und rhetorische Perspektive. Leitend für die Vorstellung und Diskussion der verschiedenen Ansätze sind drei Gesichtspunkte: Unabhängig vom Zugang, den ein bestimmter Ansatz wählt, liegt ihm eine Vorstellung davon zu Grunde, welche Funktion Argumentation hat, welche Form ein Argument hat und was die Geltung eines Arguments bestimmt. Diese drei Aspekte: Form, Funktion und Geltungsbedingungen sind grundlegend für die Diskussion. Sie führen zu folgenden Leitfragen:

Was ist nach diesem Ansatz die Form eines Arguments?

Was ist nach diesem Ansatz die Funktion von Argumentation?

Was bestimmt nach diesem Ansatz die Geltung von Argumenten?

[bad img format]Im Onlinematerial zu diesem Buch befindet sich eine umfassende Matrix, die die verschiedenen Ansätze orientiert an den drei Leitfragen einordnet.

Damit die Zusammenhänge und Differenzen der verschiedenen Perspektiven und Ansätze deutlich werden, wird ein Beispiel durch alle Kapitel geführt. Das Beispiel stammt aus dem Stück „Twelve Angry Men“ (deutsch: „Die zwölf Geschworenen“) von Reginald Rose. Es wurde 1957 von Sidney Lumet mit Henry Fonda verfilmt, 1963 folgte eine deutsche Verfilmung von Günter Gräwert. Dieses Kammerspiel dreht sich um die Juryberatung in einem Strafverfahren in den USA. Die zwölf Jurymitglieder müssen die Entscheidung treffen, ob ein 19jähriger Mann seinen Vater erstochen hat und des Mordes schuldig ist. Dem jungen Mann droht die Todesstrafe. Das Stück nimmt ausschließlich die Beratung der Jury in den Blick, eine Beratung, die überhaupt nur stattfindet, weil Juror 8 in der ersten Abstimmung für nicht schuldig plädiert und damit einen sofortigen Schuldspruch unmöglich macht. Die Beispielsequenz, mit der ich in diesem Buch arbeite, ist ein Auszug aus dem Beginn der Beratung. Sie soll hier einmal in Gänze vorgestellt werden, in den folgenden Kapiteln werde ich dann nur mit einzelnen Aspekten arbeiten. Grundlage für die Analyse des Beispiels ist die deutsche Fassung des Theaterstücks von Horst Budjuhn. Im Original werden die einzelnen Geschworenen nur mit Nummern kenntlich gemacht, für die Nutzung in diesem Buch erschien es passender, sie mit „Juror X“ und nicht mit „Nummer X“ zu benennen. Kleinere Regieanweisungen, die für die Analyse irrelevant sind, werden stillschweigend ausgelassen. Der gesamte Film (der amerikanische wie der deutsche) sei allen Argumentationsinteressierten sehr empfohlen.

JUROR 1: Also elf Stimmen für „schuldig“. In Ordnung. – „Nicht schuldig“? (Juror 8 hebt langsam die Hand.) Eine. – Klar, 11:1 für „schuldig“. Jetzt wissen wir wenigstens, woran wir sind.

JUROR 3: Seien wir doch mal vernünftig! Sie haben im Gerichtssaal gesessen und genau die gleichen Dinge gehört wie wir alle. Der Bursche ist ein gemeingefährlicher Mörder. Das haben Sie ihm doch angesehen.

JUROR 8: Er ist neunzehn Jahre alt.

JUROR 3: Alt genug, um seinen Vater zu erstechen! Zehn Zentimeter tief in die Brust!

JUROR 6: Der Fall liegt eigentlich klar, ich war eigentlich … ja, ich war vom ersten Tag an überzeugt, daß –

JUROR 3: Sie waren nicht der einzige! Der Fall ist nun wirklich bis in die letzte Einzelheit aufgeklärt. Die haben sich so viel Mühe gegeben, es uns zu beweisen. Wieder und wieder. Ja, soll ich am Ende gescheiter sein als die studierten Richter.

JUROR 8: Niemand verlangt es von Ihnen.

JUROR 10: Ja, was wollen Sie dann noch?

JUROR 8: Ich möchte nur darüber sprechen.

JUROR 7: Und was soll dabei rauskommen? Elf der Anwesenden sprechen ihn schuldig. Das ist genug gesprochen! Nicht einer hat das geringste Bedenken – bis auf Sie!

JUROR 10: Nur eine Frage.

JUROR 8: Bitte.

JUROR 10: Glauben Sie dem Jungen ein Wort?

JUROR 8: Ich weiß nicht, ob ich ihm glaube. Vielleicht glaube ich ihm nicht.

JUROR 7: Dann verstehe ich noch weniger, warum Sie für „nicht schuldig“ gestimmt haben!

JUROR 8: Elf haben ihn schuldig gesprochen. Ich kann nicht so einfach meine Hand heben und jemanden in den Tod schicken. Ich muß erst darüber sprechen.

JUROR 10: Sie hören sich wohl gerne selber reden?

JUROR 7: Na, sehen Sie! Und was ist [!] für ein Unterschied, wie lange ich dazu brauche? Ich hebe meine Hand hoch, weil ich überzeugt bin. Wir alle sind einfach überzeugt. Ich brauche dazu nicht mal fünf Minuten. –

JUROR 8: Ich brauche vielleicht eine Stunde. – Das Baseball-Match fängt ja nicht vor acht Uhr an.

JUROR 9: Ich habe nichts dagegen, daß wir eine Stunde hier bleiben.

JUROR 10: Idiot! – Entschuldigen Sie, es ist mir so rausgerutscht!

JUROR 9: Bitte, bitte, tun Sie sich keinen Zwang an.

JUROR 10: Ich nehme Sie beim Wort. Gestern abend habe ich einen guten Witz gehört …

JUROR 8: Dazu sind wir nicht hier.

JUROR 10: Gut, gut, gut, dann klären Sie mich auf, warum wir hier sind. Oder wissen Sie es selber nicht?

JUROR 8: Ich weiß nur, daß dieser Junge sein ganzes Leben herumgestoßen wurde. Er ist in einem Elendsviertel aufgewachsen, hat früh seine Mutter verloren. Damals war er neun Jahre alt. Für anderthalb Jahre hat man ihn in ein Waisenhaus gesteckt, weil sein Vater eine Gefängnisstrafe absitzen mußte. Wegen Scheckfälschung, stimmt’s? Ja, das ist kein gutes Sprungbrett fürs Leben. Wie sagten Sie noch – auf freier Wildbahn gegrast? Man hätte sich eben mehr um ihn kümmern sollen.

JUROR 3: Unsere Waisenhäuser sind okay. Wir zahlen Steuern dafür.

JUROR 8: Und wissen Sie auch, wer ihn geschlagen hat? Nicht nur sein eigener Vater, nicht unsere sogenannten Erzieher, nicht der Waisenhausvater, nein, meine Herren –

JUROR 7: Jetzt bin ich aber gespannt.

JUROR 8: Wir. – Neunzehn erbärmliche Jahre sind an diesem Jungen nicht spurlos vorübergegangen. Er ist verbittert. Und deshalb – denke ich, schulden wir ihm ein paar Worte. – Das ist alles.

JUROR 10: Ich bin gerührt. Denken Sie von mir was Sie wollen! Aber wir schulden ihm nicht so viel. – Er hat ein saubres Verfahren bekommen. Glauben Sie das ist umsonst? […] Er kann froh sein, daß wir so freigiebig waren. Stimmt’s? Wir sind doch keine Quäker! Wir haben die Tatsachen gehört – und jetzt wollen Sie uns weismachen, daß wir dem Bürschlein glauben sollen! Mir kann der nichts vormachen, nicht so viel – nicht das Schwarze unter dem Nagel glaube ich dem. Ich habe lange genug unter ihnen gelebt, ich kenne sie in- und auswendig. Die sind geborene Verbrecher, alle durch die Bank! Untermenschen!

JUROR 11: Untermenschen.

JUROR 10: Mir können Sie das glauben!

JUROR 9: Es ist möglich … aber es ist entsetzlich, so was zu glauben. Gibt es tatsächlich geborene Verbrecher? – Ist das Verbrechen denn typisch für eine bestimmte Klasse? Seit wann? Und wer, sagen Sie mir das bitte, hat schon ein Monopol auf die Wahrheit? Wer? Sie vielleicht?

JUROR 3: Papperlapapp, wir brauchen keine Sonntagspredigt!

JUROR 9: Entschuldigen Sie, aber die Ansichten dieses Herrn erscheinen mir denn doch gefährlich –

JUROR 12: Lassen Sie mich eine Sekunde nachdenken – ja, natürlich, es ist unsere Aufgabe, diesen Herrn zu überzeugen, daß wir im Recht sind und er im Unrecht. Vielleicht könnte jeder von uns ein bis zwei Minuten darauf verwenden. Wie finden Sie das?

JUROR 1: Also einmal reihum!

[…]

JUROR 1: Zwei Minuten pro Kopf. Sie sind der erste.

JUROR 2: Ja … was soll ich sagen … das ist gar nicht so leicht … ich … ja er ist sicher schuldig. Das ist doch von Anfang an klar gewesen … einen Gegenbeweis hat bisher niemand erbracht.

JUROR 8: Den braucht auch niemand zu erbringen. Die Beweislast obliegt allein dem Gericht. So steht es in unserer Verfassung. Sie brauchen nur nachzulesen.

JUROR 2: Jaja, das weiß ich schon … ich wollte auch nur sagen … na eben, der Mann ist schuldig. Es gibt doch jemand, der die Tat gesehen hat –

JUROR 3: Endlich! Sprechen wir endlich über Tatsachen! Lassen wir die persönlichen Gefühle zu Hause! Da ist ein alter Mann, der im zweiten Stock wohnt, direkt unter dem Mordzimmer. Er hat ausgesagt, es habe sich wie ein Kampf angehört, und dann habe der Junge laut gerufen: „Ich bring dich um!“ Er hat es deutlich verstanden! Eine Sekunde später fiel ein Körper zu Boden, und er lief zur Wohnungstür, sah hinaus – und was sah er? Das Bürschlein rannte die Treppe runter und aus dem Haus. Dann holte er die Polizei. Sie fanden den Vater mit einem Messer in der Brust … und der Gerichtsarzt stellte fest, daß der Tod um Mitternacht eingetreten sein muß. – Das sind Tatsachen. Tatsachen lassen sich nicht widerlegen. Der Junge ist schuldig! Daran gibt’s nicht zu rütteln. Ich bin nicht so sentimental wie ein gewisser Herr. Mir ist auch bekannt, daß der Junge erst neunzehn ist, aber das schützt ihn nicht davor, daß er für seine Tat bezahlen muß!

JUROR 7: Ganz Ihrer Meinung!

JUROR 1: Danke. Der nächste.

JUROR 4: Für mich hat nie ein Zweifel bestanden, daß die ganze Geschichte, die uns der Junge aufgetischt hat, doch reichlich fadenscheinig ist. Er behauptet, er sei zur Zeit des Verbrechens im Kino gewesen, und schon eine Stunde später hat er sich nicht mehr erinnern können, welche Filme er gesehen hatte. Ja, sogar die Namen der Stars waren ihm entfallen. Ein bißchen merkwürdig, nicht wahr?

JUROR 3: Bitte, da hören Sie es! Sie haben völlig recht.

JUROR 10: Und was ist mit der Frau auf der andern Straßenseite? Wenn ihre Aussage nichts beweist, dann können mir alle Beweise gestohlen bleiben.

JUROR 11: Ja, allerdings – die Frau hat als einzige den Mord mitangesehen.

JUROR 1: Der Reihe nach, wenn ich bitten darf.

JUROR 10: Moment, hier ist eine Frau, die im Bett liegt und nicht einschlafen kann.

JUROR 7: Wo? Der Frau kann geholfen werden!

JUROR 10: Sie erstickt fast vor Hitze. So war’s doch? Jedenfalls blickt sie aus dem Fenster und sieht gerade noch, wie das Söhnchen das Messer in seinen Vater stößt. Es ist zehn Minuten nach Mitternacht, auf die Sekunde. Der Beweis ist lückenlos. Die Frau hat den Burschen seit seiner Geburt gekannt. Sein Fenster liegt schräg gegenüber auf der andern Straßenseite, jenseits der Schienen der elektrischen Hochbahn. Und sie hat unter Eid ausgesagt, daß sie den Mord gesehen hat.

JUROR 8: Durch die Fenster eines vorbeifahrenden Hochbahnzuges.

JUROR 10: Richtig. Aber der Zug war leer und fuhr in Richtung City. Er war auch unbeleuchtet, wenn Sie sich erinnern. Und die Sachverständigen haben uns bewiesen, daß man bei Nacht durch die Fenster eines vorbeifahrenden Hochbahnzuges sehen kann, was auf der anderen Seite vorgeht. Sie haben es bewiesen!

JUROR 8: Eine Frage. Sie trauen dem Jungen nicht. Was veranlaßt Sie, der Frau zu trauen? Sie stammt doch aus demselben Milieu?

JUROR 10: Ach Sie – Sie sind ein ganz geriebener Gauner …

JUROR 1: Aber, aber, meine Herren! Immer mit der Ruhe!

JUROR 7: Lassen Sie ihn doch reden! Tief durchatmen, entspannen!

JUROR 10: Er hat die Weisheit mit Löffeln gefressen, Sie werden schon sehen –

JUROR 1: Gut, gut, wir sind doch nicht da, um uns zu streiten. Wer kommt dran?

JUROR 6: Ich weiß nicht … vorhin war ich ganz sicher, ich frage mich bloß … das Motiv ist schließlich die Hauptsache, denke ich. Wo es kein Motiv gibt, gibt’s auch keinen Fall. Oder? Das Motiv beschäftigt mich. Zum Beispiel die Aussage der Leute, die Flur an Flur mit dem Burschen wohnen … das hat mich immerhin überzeugt. Die sagten doch etwas von einer Auseinandersetzung zwischen dem Vater und dem Jungen – so gegen sieben Uhr abends. Ich kann mich auch irren.

JUROR 11: Es war acht Uhr, nicht sieben.

JUROR 8: Ja, acht Uhr abends. Die Nachbarn hörten einen Streit, aber sie konnten nicht verstehen, worum es ging. Dann wollten sie auch noch gehört haben, daß der Vater den Jungen ins Gesicht schlug, zweimal, und zuletzt sahen sie den Jungen wütend die Wohnung verlassen. Was beweist das?

JUROR 6: Genaugenommen – nichts. Ich habe ja nicht gesagt, daß es was beweist. Aber es ist nicht alles –

JUROR 8: Sie haben gesagt, daß sich ein Motiv für den Mord daraus ergeben könnte. Genau wie der Staatsanwalt. Nur, ich habe den Eindruck, daß es kein sehr stichhaltiges Motiv ist. Der Junge ist so oft in seinem Leben geprügelt worden, daß Prügel sozusagen sein tägliches Brot waren. Es überzeugt mich nicht, daß ihn plötzlich zwei Ohrfeigen so reizen sollen, daß er deswegen gleich zum Mörder wird.

JUROR 4: Es können zwei zuviel gewesen sein. Bei jedem ist das Maß einmal voll.

(Rose, 1982, S. 17–26, für die deutsche Bühne dramatisiert von Horst Budjuhn)

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