Читать книгу Krähenzeit - Katrin Fölck - Страница 4
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Ein stechender Schmerz durchfuhr sie, der vom Hinterkopf kam. Er hatte bereits die ganze Zeit dort gelauert und dumpf auf sich aufmerksam gemacht. Doch erst jetzt bemerkte sie ihn.
Hatte sie sich gestoßen? War sie gestürzt? Forschend tastete sie mit den Fingern die Stelle ab, von wo der Schmerz kam. Dort fand sie eine Beule. Darüber befand sich eine verkrustete Stelle.
War sie überfallen worden?
Langsam setzte ihre Erinnerung Fragmente frei, die zusammengesetzt ein Ganzes bildeten: Stanley und sie hatten sich mit einigen ihrer gemeinsamen Freunde zum Essen getroffen. Das war am Mittwochabend gewesen… Donnerstag hatte sich Stanley mit einem ehemaligen Studienfreund getroffen und sie war vorm Fernseher eingeschlafen. Freitagmorgen war sie laufen gegangen, bevor sie gegen Mittag im Büro sein wollte…
Plötzlich besann sie sich. „Nein, das kann nicht sein! Das darf nicht sein!“, brachte sie entsetzt heraus, als ihr wieder einfiel, dass am Waldrand ein Auto gestanden hatte…, daneben ein Mann, der sie um Hilfe bat, nach ihrem Handy fragte und eine Wagenpanne vorgab…
„Das ist nicht wahr.“, schüttelte sie ungläubig den Kopf. „Das ist nicht passiert.“, versuchte sie sich einzureden, sich der Wahrheit zu entziehen und ihre Situation langsam begreifend. „Oh Gott, nein… ich bin entführt worden.“, stellte sie sprachlos fest.
Die Erkenntnis überkam sie so schonungslos, dass sie mit dem Gefühl von blankem Entsetzen und absoluter Hilflosigkeit zusammenbrach. Von Weinkrämpfen geschüttelt, begann sie lauthals zu schluchzen, während ihr die Tränen nur so durchs Gesicht liefen.
Bald schon bekam sie keine Luft mehr. Der Tränenfluss hatte ihre Nase verstopft. Sie suchte in den Taschen ihrer Sportjacke nach einem Taschentuch und versuchte, ihre Nase wieder freizubekommen. In der Tasche fand sie jedoch noch etwas anderes: Etwas Rundes, Hartes. Sie erkannte, dass es eine Rolle Drops war. Sie drückte einen der Bonbons aus dem Papier heraus und steckte ihn in den Mund. Ein säuerlicher Geschmack von Zitronen breitete sich in ihrem Rachen aus. Sie musste an ihren Urlaub mit Stanley denken, den sie in Italien verbrachten.
Ein Ruck ging durch ihren Körper: Nein, das würde nicht ihr letzter gemeinsamer Urlaub sein! entschied sie entschlossen und gab, einer inneren Eingebung folgend, den angelutschten Drops zurück in das Papier. Vielleicht würde sie ihn noch brauchen…
Sie musste nachdenken. Auf keinen Fall durfte sie wieder die Nerven verlieren. Das wäre in ihrer Lage überhaupt nicht förderlich.
Zögernd begann sie zu analysieren. Was wusste sie? Ihr Entführer hatte sie an diesen Ort gebracht, jedoch nicht gefesselt… Warum nicht? War das gut oder eher schlecht? Sie konnte sich frei bewegen. Doch aus welchem Grund? Was bedeutete das? Hieß das, dass er sich ohnehin sicher war, dass sie diesen Platz niemals verlassen könne? Oder war dies eine Art Spiel, in dem er sehen wollte, ob und wann sie den Ausgang fand? Doch dafür musste er sie beobachten. Tat er dies etwa? Wusste ihr Entführer in jedem Moment, was sie tat? Auch, wenn sie in der Dunkelheit nichts sah, musste das ja nicht unbedingt heißen, dass der Kidnapper sie nicht belauerte und überwachte…, schließlich gab es Kameras und Nachtsichtgeräte. Bei diesem Gedanken erschauerte sie erneut. Wie krank musste jemand sein, so etwas zu tun?!
Sie begann, laut zu rufen. „Hallo?“, „Hören Sie mich?“, „Wo bin ich?“, „Warum haben Sie mich hierher gebracht?“, „Was wollen Sie?!“, „Wollen Sie Geld?“, „Warum reden Sie nicht mit mir?!“ Sie wartete auf eine Antwort. Als diese ausblieb, schlug ihre Stimme um, war nun etwas zwischen Brüllen und Kreischen. „Hallooooo, ich bin hiiiier! Hört mich jemand?! Hallo! Bitte, ich brauche Hilfe!“
Unvermittelt bahnte sich eine weitere Tränenflut an, während sie aus vollen Leibeskräften schrie. Immer wieder, bis schließlich nur noch ein heißeres Krächzen ihre Kehle verließ und ihr die Stimme versagte.
Irgendwann war sie erschöpft vom Weinen, der Tränenstrom versiegt. Ihr Hals war rau und schmerzte. Sie griff in die Jackentasche und holte die Rolle Drops heraus. Mit Hilfe von Daumen und Zeigefinger erspürte sie die einzelnen Abschnitte und begann, sie zu zählen. Sie kam auf neun.
Ein Bonbon könnte ihre Halsschmerzen lindern… Dann hätte sie noch acht.