Читать книгу Ein Jahr mit einem Narzissten - Katrin Roth - Страница 6
Die neue Beziehung
ОглавлениеDiese sich danach einstellende Leere des Alleinseins plagte mich von Tag zu Tag und wurde über die nächsten Wochen und Monate fast unerträglich. Ich empfand ein unbefriedigendes Gefühl der Einsamkeit und Unzufriedenheit in mir, welches ich mir nicht erklären konnte. Eigentlich hätte ich doch glücklich und zufrieden sein müssen. Mir ging es gut, ich hatte meine Kinder und einen neuen Job, der mich auf neue Art und Weise herausforderte. Dieser Job war mein rettender Absprung gewesen, da er mir die nötige finanzielle Unabhängigkeit brachte, die mir endlich den Umzug in meine erste eigene Wohnung ermöglichte, weg von meinen Eltern. Der Umzug in die Großstadt würde mir viele neue Möglichkeiten eröffnen.
Von der Hilfe meiner Eltern, die unsere erste Anlaufstelle nach der Trennung meines Mannes und unserem Rückzug von Neuseeland nach Deutschland gewesen waren, konnte ich mich nun auch endlich lösen.
Trotz der Freude verspürte ich zur gleichen Zeit eine riesengroße Angst. Ich war noch nie zuvor als Alleinerziehende komplett auf mich selbst gestellt gewesen, in einer Stadt, die ich nicht kannte und in einem Land, in welchem ich seit gut neun Jahren nicht mehr gelebt hatte. Meine Mutter war der Überzeugung, dass ich das alleine sowieso nicht schaffen würde und es sicherer für mich und meine Kinder sei, bei ihnen zu bleiben. Vielen Dank für die aufmunternden und ermutigenden Worte, dachte ich sauer. Ich hatte oft das Gefühl, dass meine Mutter alles nur pessimistisch und negativ sehen konnte, was mich sehr verärgerte. Man muss auch mal was wagen, sonst kommt man im Leben ja gar nicht voran!, versuchet ich mich selbst zu ermutigen. Das Leben bei meinen Eltern war extrem anstrengend und belastend geworden - für alle Betroffenen. Dort zu bleiben war absolut keine Option gewesen.
Dieses Gefühl, dass ich zur Selbstständigkeit unfähig bin, welches mir meine Eltern schon seit meiner Jugend vermittelten, machte mich wütend. Mein automatischer Trotz, den ich über die Jahre entwickelt hatte, setzte sofort ein. Ich würde mir selbst und allen anderen, die an mir und meiner Fähigkeit mein Leben alleine meistern zu können zweifelten, beweisen, dass ich es alleine doch schaffen würde - und zwar erfolgreich!
Meine erste Arbeitsstelle hier in Deutschland im Krankenhaus, musste ich wegen eines Burn Outs aufgeben. Die Ärztin riet mir damals, im Rahmen der Diagnose, erst einmal zu mir selbst zu kommen und mich deshalb auch von Männern fernzuhalten, um jeglichen Stress zu vermeiden.
»Tun Sie nichts, was Sie nervlich zu sehr belasten könnte«, riet sie mir besorgt.
Meine kurze berufliche Pause hatte mir zwar etwas Kraft und Erholung gebracht, war aber mit diesem unerwarteten Arbeitsangebot als Lehrkraft in der Erwachsenenbildung schnell zu Ende gegangen. In gewisser Weise war ich froh darüber gewesen, weil ich es jeden Tag alleine zu Hause mit meinen Kindern nicht aushielt. Ich war unausgelastet und vermisste den sozialen Kontakt zu anderen Menschen. Endlich konnte ich auch wieder als Lehrerin arbeiten, denn als solche war ich immerhin qualifiziert. Nur, dass ich nun keine Kinder, sondern Erwachsene unterrichtete.
Ungeachtet des Rates der Ärztin war ich ein paar Abenteuer mit Männern eingegangen. Die Sex-Freundschaften hatten mir einen kurzen Kick gegeben und etwas Abwechslung in mein Leben gebracht, aber sie erfüllten mich nicht. Mir fehlten die dauerhafte Zuwendung und Nähe. Ich fühlte mich einsam und sehnte mich nach einer festen Beziehung.
Als ich eines Tages meine E-Mails sortierte, stolperte ich über einen alten Kontakt, den ich über die Internetseite gefunden hatte, über welche ich auch meinen letzten Ex-Partner kennengelernt hatte.
Mit diesem Kontakt hatte ich ein paar Mal kurz geschrieben und versucht ein Date zu arrangieren. Da es damals bei uns beiden zeitlich nie gepasst hatte, war der Kontakt irgendwann eingeschlafen. Sein Profil und die darin aufgelisteten Interessen reizten mich immer noch. Er schien auch dominanter Natur zu sein und suchte eine devote Frau. Nachdem ich sichergestellt hatte, dass sein Profil immer noch aktiv war, schrieb ich ihn an. Wir vereinbarten ein spontanes Treffen abends nach seiner Arbeit in einem Café, welches sich um die Ecke seiner Arbeitsstelle befand. Bis zu dem Treffen gab es keinen weiteren Informationsaustausch. Nur ein Bild hatte er mir von sich geschickt, auf welchem man ihn entspannt auf einem Sofa sitzen sah. Sieht ganz attraktiv und sympathisch aus, dachte ich bei der Betrachtung des Bildes. Aber, erst einmal abwarten wie er real so drauf ist, entschloss ich mich dann. Ich würde ihn einfach ganz ungezwungen treffen und dann entscheiden, ob tiefergehendes Interesse besteht oder nicht. Bei zu viel Geschreibe mit einer fremden Person kann schnell ein falsches Bild entstehen und die Erwartungen können sich so hochschrauben, dass man bei der realen Begegnung am Ende enttäuscht ist. Zudem werden persönliche Informationen teils überspitzt oder so zurechtgebogen, dass nicht mal die Hälfte davon auf die reale Person zutrifft. Deswegen war mir mittlerweile ein schnelles privates Treffen lieber, als langes Schreiben.
Ich wartete vor der Tür des Cafés auf ihn. Obwohl es sehr kalt war, trug ich einen kurzen Rock, Strapse, meine Lieblingsbluse und Pumps. Durch meinen Ex-Partner und all das, was ich durch ihn über Devotion gelernt hatte - wie sich eine devote Frau zu kleiden und zu präsentieren hat - wusste ich, dass er ein solches Auftreten wahrscheinlich zu schätzen wissen würde und vielleicht sogar erwartete. Ich wollte ihm gefallen und ihn auch ein wenig scharfmachen.
Ein sehr großer stattlicher, mit einer braunen Schirmmütze und Schal winterlich gekleideter, Mann kam auf mich zu.
»Entschuldige die Verspätung«, brachte er etwas gestresst hervor. Ich lächelte ihn an: »Kein Problem.«
Er öffnete mir die Tür und wir betraten zusammen das Café. Im ersten Augenblick machte er einen eher zurückhaltenden Eindruck auf mich.
»Was möchtest du trinken?«, fragte er, wobei er auf mich herabsah. Durch seine Größe strahlte er eine unheimliche Präsenz aus. Mir fiel auf, dass seine Körperhaltung sehr gerade und standhaft war. Sein Kinn hielt er etwas höher, wodurch er einen leicht arroganten Eindruck auf mich machte.
Er bestellte zwei Cappuccino für uns.
In dem Café schien er sich gut auszukennen und wies mir den Weg an. Am Ende des langen Raumes führte eine Treppe zu einer Sitzecke im ersten Stock. Dort fanden wir einen ruhigen Platz. Während er seine Jacke ablegte musterte ich ihn mit unauffälligen Blicken und bemerkte, dass seine Figur nicht ganz so sportlich war, wie auf dem Bild, welches er mir geschickt hatte. Aha, dachte ich anmaßend, wieder mal die irreführende Nummer des nicht aktuellen Bildes. Es lag auch auf der Hand, dass er nicht der Mann war, dessen Oberkörper man auf seinem Profilbild hatte sehen können. Die Anatomie stimmte überhaupt nicht.
Wir setzten uns an einen kleinen runden Tisch. Er nahm gegenüber von mir Platz und faltete sachlich seine Hände. Mir fiel auf, dass diese sehr gepflegt waren.
Nun, da ich ihn etwas besser auf Augenhöhe betrachten konnte, war ich unentschieden, ob ich ihn attraktiv fand oder nicht. Sehr sympathisch sah er schon aus, mit seinem perfekt getrimmten Dreitagebart, welcher die kurz rasierten Haare auf seinem Kopf komplimentierte und seinen großen freundlichen Augen, die Vertrauenswürdigkeit und Wärme ausstrahlten. Wäre er mir auf der Straße begegnet, hätte ich ihm allerdings aufgrund seines Aussehens eher weniger Beachtung geschenkt. Aufgefallen wäre er mir vorrangig wegen seiner beachtlichen Körpergröße.
An unser genaues Gespräch kann ich mich nicht mehr erinnern, nur an Eindrücke, Gefühle und Brocken von Informationen. In unserem Austausch über Privates kam heraus, dass die Altersangabe, die in seinem Profil stand, nicht seinem wirklichen Alter entsprach. Es bestand ein Unterschied von fünf Jahren, die er sich jünger gemacht hatte. Seine Erklärung für die falsche Angabe lautete, dass er Angst habe, Patienten könnten ihn über sein Profil auf dieser unkonventionellen Webseite wiedererkennen. Verständlich, dachte ich, wobei man sich in dem Falle fragen könnte: »Was suchen die Patienten auf der Webseite?«. Ich konnte seine Erklärung nachvollziehen. Ich würde auch nicht wollen, dass mich einer meiner Arbeitskollegen oder gar Schüler auf dieser Webseite erkennt. Das wäre mir mehr als unangenehm und peinlich gewesen!
Das Schlüsselwort ›Patient‹ löste meine nächste Frage aus: »Was machst du eigentlich beruflich?« Seine Antwort kam etwas zögernd. Er sagte, er sei Arzt, aber die Sorte Arzt, vor der die meisten Menschen Angst hätten. Das könnte jeder Arzt sein!, lachte ich in mich hinein. Meine erste Annahme war Zahnarzt. Vor dem hätte ich am meisten Angst, überlegte ich, fand aber, dass er irgendwie nicht wie ein Zahnarzt aussah. Dann erklärte er, dass er die ›Verrückten‹ heile. Jetzt war mein Interesse geweckt. Psychologie hatte mich schon immer sehr interessiert und mit Aspekten davon, vor allem was die Entwicklung und das Lernverhalten von Kindern betraf, hatte ich mich bereits in meinem Studium intensiv beschäftigt.
»Sehr interessant!«, bemerkte ich.
Im weiteren Gespräch stellte sich heraus, dass er einen meiner Berufe, nämlich die Fotografie, als Hobby teilte. Wir schienen also, zumindest was die Interessen betraf, einiges gemeinsam zu haben. Das ist ja schon mal keine schlechte Basis für eine potentielle Partnerschaft, lautete mein Fazit.
Plötzlich fiel mir auf, dass er einen Ring trug. Ich versuchte mich daran zu erinnern, was genau in seinem Profil gestanden hatte. Ich war mir sicher, dass in seinem Status ›Single‹ angegeben war. Vielleicht noch eine falsche Angabe? Ich zeigte auf den Ring: »Du bist verheiratet?«.
»Nein, ich war verheiratet, aber bin schon seit ein paar Jahren geschieden. Ich trage den Ring schon länger, sozusagen alibimäßig«, erklärte er. Ein Stein fiel mir vom Herzen. Auf einen verheirateten Mann hätte ich mich niemals eingelassen.
»Warum alibimäßig?«, wollte ich sofort wissen.
Er machte eine Andeutung, dass er sich vor möglichen Annäherungsversuchen von weiblichen Patienten schützen wolle. Seine Erklärung hörte sich plausibel an. Ich trage immerhin gelegentlich auch einen Ring an meinem rechten Ringfinger, überlegte ich.
Ich fragte ihn, wie es mit Ex-Beziehungen bei ihm aussah.
»Ich hatte ein paar. Manche dauerten nur wenige Wochen und andere einige Monate bis Jahre«, erklärte er knapp. Normalerweise hätte ich mir nach solch einer Aussage ernsthafte Gedanken machen müssen, ob dieser Mensch überhaupt beziehungsfähig ist, aber ich wusste ja, dass er schon eine sehr lange Ehe hinter sich gebracht hatte.
»Was suchst du denn jetzt genau?«, fragte ich und erklärte, dass ich persönlich eher eine feste Beziehung anstrebte, wenn es denn passte.
»Ich möchte auch eine feste Beziehung, Liebschaften sind mir zu oberflächlich«, antwortete er. Seine Antwort erfreute mich. Wir schienen zumindest schon einmal dasselbe Ziel zu verfolgen.
Das Thema Sex, Dominanz und Devotion war nur kurz zur Sprache gekommen. Alles war eher sachlich und distanziert besprochen worden. Ich erzählte ihm von meiner Ehe und dass mein Sexleben während dieses Lebensabschnittes so gut wie abgeebbt war und offenbarte ihm, dass ich lange Zeit überhaupt nicht gewusst hatte, was ich denn genau wollte und brauchte.
»Und jetzt weißt du es?«, fragte er gespannt.
»Ja, ganz sicher. Devot war ich schon immer, nur war mir eben nicht bewusst, dass man das so nennt«, erklärte ich selbstbewusst und etwas stolz. Ich erwähnte meine letzte Beziehung und wie ich dadurch gelernt hatte, dass mich Dominanz zwar unheimlich anturnt, aber dass ich diesen Quatsch mit irgendwelchen Regeln nicht noch einmal mitmachen würde. Wir waren uns beide einig, dass wahre Dominanz keine Regeln brauchte.
»Ich finde so etwas auch völlig unangebracht«, bekräftigte er. »Das sind immer diese ›Möchtegern-Doms‹«, fuhr er sachlich fort. Bei ihm gäbe es keine in Worte gefassten Regeln, da eine wirklich devote Frau ihm das, was er brauchte, aus Liebe heraus freiwillig geben würde, konkretisierte er. Diese neue Definition der Devotion hörte sich für mich wunderschön und romantisch an. So sollte es doch eigentlich in jeder Beziehung sein, dachte ich, dass der Partner aus Liebe und Wohlwollen heraus bereit ist zu geben.
Er sprach von einem Beziehungsmodell, welches auf vollstem Vertrauen und bedingungsloser Hingabe basiert. Seine Erläuterungen deckten sich mit meiner Vorstellung einer glücklichen und erfüllten Beziehung. Ich hatte nicht nur das Gefühl, dass er mich verstand, sondern auch, dass er wirklich ein Mann war, der mir genau das geben konnte, wonach ich schon mein ganzes Leben lang gesucht hatte. Dies erfreute mich.Die Art und Weise, wie er redete war die ganze Zeit über sehr ruhig, sachlich und gelassen gewesen. Solch ein Verhalten war ich nicht gewohnt von Männern. Die meisten schienen oft so unentspannt, redeten viel zu viel und dann auch ausschließlich nur über sich selbst. Ich merkte, wie sich seine Ruhe auf mich übertrug, was ich als sehr angenehm empfand und verlor langsam meine innere Nervosität und Aufgeregtheit. Diesmal war ich diejenige gewesen, die wie ein Wasserfall sprach. Du redest dich schon wieder um Kopf und Kragen!, warnte ich mich.
Beim ersten Treffen redete ich oft zu viel, um meinen inneren Drang mich selbst zu erklären - ja rechtfertigen zu müssen - zu befriedigen. Was er jetzt wohl über mich denkt?, fragte ich mich nervös. Ein leicht mulmiges Gefühl stieg in mir auf. Nachdem ich nun wusste, was er beruflich machte, fühlte ich mich durchschaut. Wahrscheinlich hatte er mich bereits komplett analysiert.
»Keine Angst, ich analysiere nicht gleich jeden und bleibe erst einmal neutral«, versicherte er mir.
Was für ein Quatsch – jeder macht sich automatisch ein Bild von seinem Gegenüber. Das kann man doch nicht einfach abschalten, dachte ich skeptisch. Schnell beruhigte mich jedoch der Gedanken, dass er auch nur ein Mensch ist und sicherlich ebenso seine Schwächen und Fehler hatte wie jeder.
Unser Gespräch war, meiner Ansicht nach, alles in allem sehr angenehm, zugleich aber auch recht unspektakulär verlaufen.
Als wir nach knapp über zwei Stunden auseinandergingen, hätte ich nicht sagen können, dass er mich total umgehauen hatte.
Es folgten ein paar Tage Funkstille. Dann erhielt ich unerwartet eine Nachricht von ihm: »Sehen wir uns nochmal?« Hätte er sich nicht gemeldet, wäre von meiner Seite her wahrscheinlich nichts mehr gekommen. Ich hatte nicht das große Bedürfnis empfunden, ihn unbedingt wiedersehen zu müssen. Das Gefühl ihm gegenüber war eher gleichgültiger und neutraler Natur gewesen. Trotzdem freute ich mich über seine Nachricht und fühlte mich geschmeichelt, da offensichtlich Interesse seinerseits bestand, weshalb meine Antwort »Ja gerne!« lautete.
Unser zweites Date war zeitlich sehr begrenzt gewesen. Er hatte sich eine Stunde über Mittag zwischen seinen Arbeitsterminen freihalten können.
Es war ein schöner Frühlingstag, an dem wir uns wiedersahen. Kalt war es noch, aber die Sonne schien und die Temperatur war zumindest etwas gestiegen, weshalb wir beschlossen einen kleinen Spaziergang zu machen - beide mit einem ›To Go‹ Kaffee in der Hand. Noch eine Gemeinsamkeit, wie wir feststellten – wir waren beide leidenschaftliche Kaffeetrinker.
Er schien dieses Mal fröhlicher gestimmt und nicht ganz so müde wie bei unserem ersten Treffen. Am Anfang unseres Spazierganges bemerkte er beiläufig, dass er noch nie zuvor solch eine Art von Date gehabt hatte.
»Wie meinst du das?«, fragte ich interessiert. Bei seinen vorherigen Dates war es wohl immer recht schnell zur Sache gegangen, berichtete er mir.
»Im Café hast du sehr sexy ausgesehen. Am liebsten hätte ich dich dort auf der Stelle genommen«, grinste er mich an. Seine Worte verblüfften mich. Innerlich freute ich mich über das Kompliment und merkte, wie meine Wangen heiß wurden. Während unseres Café-Dates hatte er keine Komplimente oder Bemerkungen hinsichtlich meines Aussehens gemacht. Die Vorstellung von ihm genommen zu werden, erregte mich etwas. Mein früheres Ich hätte niemals solche Unterhaltungen geführt. Meinem früheren Ich wäre es viel zu peinlich gewesen, auch nur das Wort Sex auszusprechen. Aber mittlerweile, vor allem nach meiner letzten Beziehung, war fast jede Scham von mir gewichen und ich hatte keine Hemmungen mehr über intime Details zu reden. Sex hat doch sowieso jeder, warum also nicht offen darüber sprechen?
»Ich hätte dir im Café unter dem Tisch einen geblasen«, führte ich diese Fantasie fort.
»Oh ja – das hätte mir gut gefallen. Ich hätte dir schön in den Mund abgespritzt!« Sein Grinsen wurde immer breiter. Seine plötzliche Direktheit überraschte mich positiv. Im Café hatte er so sachlich und spießig korrekt gewirkt.
Unser immer langsam werdender Spaziergang kam zum endgültigen Stillstand. Mit seiner rechten Hand fuhr er an meinen Nacken, zog mich ruckartig an sich und küsste mich. Es war ein inniger fordernder Kuss. Nicht der beste, den ich je gehabt hatte - ich mochte eher langsamere, innige und leidenschaftliche Küsse – aber gut genug. Manchmal frage ich mich, ob man von der Art und Weise, wie jemand küsst, auf dessen Persönlichkeit schließen kann. Die Kategorisierung könnte dann etwa so aussehen: Langsam und innig – vielleicht ein romantischer, eher weich und zart besaiteter Charakter; schnell und fordernd – ein selbstbewusst- und stark auftretender Charakter. Wer weiß, dachte ich, den Gedanken beiseiteschiebend.
Ab dem zweiten Date schrieben wir uns regelmäßig jeden Tag. Ich hatte auf einmal ein ganz anderes Bild von ihm. Seine Art und Offenheit reizten mich sehr und der Umgang mit ihm war mir schnell vertraut geworden. Er war anders als die meisten Männer, denen ich bis jetzt begegnet war – nicht so verklemmt und aufgesetzt.
Die Meinung, dass man sich Zeit lassen sollte, wenn man jemanden gerade erst kennengelernt hat, vertrete ich nicht. Was ist denn falsch daran einer Person sofort persönliche Fragen zu stellen, wenn sie mich sehr interessiert? Und was ist falsch daran viel Zeit mit der Person verbringen zu wollen? Nur so lernt man sich doch überhaupt kennen.
»Ich möchte gerne alles über dich wissen«, teilte ich ihm neugierig, aber zugleich etwas verlegen, mit.
»Frag einfach. Wenn ich etwas nicht beantworten möchte, werde ich es dir schon sagen«, ermutigte er mich. Dass er nicht gerne über seine Kindheit und Jugend sprach, lernte ich schnell. Alle anderen Fragen beantwortete er sofort und seine Einstellungen und Ansichten schienen immer perfekt mit meinen übereinzustimmen.
Wir hatten unser Kennenlernen in ein Spiel verwandelt. Ich mochte dieses Spiel und er ließ sich gerne darauf ein. Jeder durfte insgesamt drei Fragen pro Tag an den anderen stellen. Wir schrieben uns überwiegend per Handy. Ich hatte mich in der Vergangenheit oft zu schnell auf Männer eingelassen, obwohl ich gar nichts über sie wusste. Das wollte ich nun ändern.
»Was spendet dir Trost?«, lautete eine meiner ersten Fragen.
»Trost spendet mir im Moment leider niemand. Alle in meiner Umgebung sind nicht stark und verständnisvoll genug, aber es kommen auch wieder bessere Zeiten«, erklärte er. Seine Antwort hatte etwas Trauriges und klang in gewisser Weise bemitleidenswert. Genau diesen Eindruck hatte er mir auch bei unserem ersten Treffen im Café vermittelt.
Nun kam seine Frage: »Wie devot bist du und was gefällt dir daran devot zu sein?« Gute Frage, überlegte ich. »Ich ordne mich meinem Partner gerne unter und erteile ungerne Befehle. Mir ist es wichtig meinem Partner zu gefallen und ihn zufriedenzustellen. Gerade beim Sex mag ich es, wenn mein Partner dominant ist – das macht mich an. Was mir daran gefällt? Dass ich mich fallen lassen kann. Devotion bedeutet für mich Freiheit - so kann ich mich fallen lassen. Ich hoffe, dass macht Sinn?«, erklärte ich kurz.
»Sehr gut!« Meine Antwort schien ihn zu erfreuen.
»Und was ist deine tiefste devot-masochistische Fantasie?« Bei der Frage kam ich etwas ins Schwitzen. Sollte ich dies ehrlich beantworten? »Vergewaltigt zu werden, aber von einem geilen Typen«, schrieb ich nach langem Zögern und hoffte, dass er mich nach dieser Antwort nicht für völlig verrückt erklären würde.
»Ist das ein Traum oder reale Fantasie, also, ein aktueller Wunsch?«, hakte er nach.
»Es war ursprünglich ein Traum, aber der hat sich mittlerweile zu einem Wunsch entwickelt«, gestand ich.
Das hört sich irgendwie falsch und brutal an, dachte ich beschämt. Wobei – Wünsche und Träume sind so ein Thema. Was in der Fantasie passiert und was man dann in der Realität umsetzt, sieht oftmals ganz anders aus. In der Realität fühlt sich alles anders an und spielt sich meist abweichend von den eigenen Vorstellungen ab.
»Ein schönes Spiel. Ich bin gespannt, was du mir die nächsten Tage noch so alles von dir verraten wirst«, schrieb er und fuhr fort, »Ich hätte dich jetzt gerne bei mir. Ich stelle mir gerade vor, was ich mit dir machen würde, wenn du, auch mit deinen Kindern, mir gehören würdest. Wie ich den Tag für dich planen würde und was ich mit dir täglich anstellen würde.«
»Freut mich zu hören, dass du dir darüber Gedanken machst!«, antwortete ich mit leichten Schmetterlingsgefühlen im Bauch. Endlich ein Mann, der sich konkret seine Zukunft zusammen mit mir und meinen Kindern vorstellen konnte. Nicht so eine Romanze, die langsam vor sich hinvegetierte, nach dem Motto »Lassen wir es einfach mal laufen und gucken, was sich daraus entwickelt« und am Ende verläuft sich alles, weil sich beide Parteien der Beziehung nicht verpflichtet genug fühlen.
Die oberflächliche und unverbindliche Einstellung vieler, vor allem was das Thema Partnerschaft anging, nervte mich gewaltig! Mir war dabei bewusst, dass ich ihn gerade erst kennengelernt hatte, aber man hat ja oft automatisch diverse Vorstellungen und Erwartungen, was die Zukunft mit einem neuen Partner anbelangt.
»Erzähl mir mehr von deinen Vorstellungen«, bat ich ihn.
Ich befand mich gerade auf der Arbeit. Meine Schüler schrieben einen Test und ich war kurz vor dem Einschlafen vor Langeweile. Ein junger Mann spielte direkt vor dem Fenster wunderschöne, leichte und fließende Musik auf einem Klavier, welches er mitten auf der Fußgängerzone aufgebaut hatte. Die bittersüße Melodie ließ meine Gedanken wandern, wobei ich in romantischen Vorstellungen versank. Ich dachte an ihn.
Meine Vorfreude auf das Arbeitsende und unser baldiges Treffen war groß. Sie verlieh mir neue Kraft und Motivation, die letzten Stunden auch noch durchzuhalten.
Unsere Treffen machten meinen gewöhnlichen Alltagstrott und mein Leben auf eine spannende Art und Weise wieder lebendig. Wir hatten uns schon einige Male unter der Woche, meist zwischen oder nach unserer Arbeit, getroffen.
»Ich wünschte, es wäre schon halb sieben«, schrieb ich ihm.
»Ja, das will ich von dir hören. Ich freue mich auch schon sehr auf dich! Meine Gedanken zu dem, was du gefragt hattest: Ich sehe dich nackt bei mir zu Hause, wenn die Kleinen im Kindergarten oder in der Schule sind. Du kümmerst dich darum, dass es mir gut geht und danach kommt dann dein Alltag für dich.«
»Die Vorstellung gefällt mir sehr!«, freute ich mich.
Ich träumte schon immer von einem Partner, der nur mich wollte. Dessen sexuelle Bedürfnisse und Fantasien nur ich erfüllen konnte. Eine erotische und leidenschaftliche Beziehung, in der wir beide eins sein würden. »Deine Wünsche würde ich dir liebend gerne erfüllen und dich eventuell zwischendurch auf deiner Arbeit besuchen«, schrieb ich.
»Und mir Essen bringen«, führte er meinen Satz fort, »Und ich brauche meinen Mittagsfick. Oder wenn ich dich bei meinen Telefonkonferenzen dabeihabe, will ich deinen Mund an meinem Schwanz«, veranschaulichte er mir seine erotischen Vorstellungen.
»Es freut mich wirklich sehr, dass du dir zumindest vorstellen kannst, mit der Situation und meinen Kindern klarzukommen.«
»Klar! Ich bin Realist und kein Möchtegern Dom-Sad-Kerl«, bekundete er. »Außerdem mag ich deine Kleinen. Sie gehören zu dir und deinem Leben. Ich will dich entspannt und ich will dich ganz für mich, wenn deine Süßen nicht im Mittelpunkt stehen.«
Seine Worte hörten sich perfekt und glaubwürdig an. Dass ich Kinder habe, kann ich nun mal nicht ändern. Die meisten Männer kamen damit nicht klar. Liebschaften waren okay, aber feste Beziehungen – niemals! Alleinerziehende zu sein ist wirklich in jeglicher Hinsicht eine Herausforderung. Das musste ich leider immer wieder feststellen.
»Ich will dich, verstehst du? Ich will, dass du nur mir gehörst!«
Bedeutet das, dass er so schnell eine feste Beziehung möchte?, wunderte ich mich, aber traute mich nicht direkt nachzufragen.
Das erste Mal, als er uns besuchte, war er mit einem Blumenstrauß gekommen und führte uns zum Mittagessen aus. Solch eine Art von Aufmerksamkeit kannte ich gar nicht. Ich freute mich sehr über seine Bemühung mich zu beeindrucken. Auch bei meinen Kindern hatte er einen guten Eindruck hinterlassen. Für einen Augenblick fühlte sich alles wie eine richtige kleine, glückliche und harmonische Familie an. Eigenwillig übernahm er die vorbildliche Vaterrolle und kümmerte sich darum, dass es uns allen gut ging. Meine Kinder benahmen sich zum Glück gut. Nur meine Jüngste stellte wie immer ihre Forderungen. Ich machte mir Sorgen, dass ihr leicht aufmüpfiges Benehmen vielleicht seine Entscheidung, eine feste Beziehung mit mir eingehen zu wollen, ändern könnte.
»Benimm dich«, bat ich sie und fühlte mich dabei etwas angespannt.
»Die Kleine ist ja eine richtige Diva«, bemerkte er grinsend, »das gefällt mir. Sie wird später im Leben weit kommen!«
»Mein Ziel ist es eigentlich nicht, sie zu einer kleinen Diva zu erziehen«, widersprach ich sofort. Ich mochte solch ein aufmüpfiges Benehmen nicht.
Bei unserem ersten Date hatte er mir erzählt, dass er Kinder sehr liebe und sich schon immer welche gewünscht hatte - am liebsten Mädchen. Er und seine damalige Frau hatten wohl sehr lange probiert ein Kind zu zeugen, allerdings ohne Erfolg. Ich empfand deswegen Mitleid mit ihm, da ich genau wusste, wie sich der unerfüllte Kinderwunsch anfühlt. Meine allererste Schwangerschaft war nach drei Monaten unerwartet in einer ›verpassten Abtreibung‹ geendet. Bei der zweiten Ultraschalluntersuchung hatte mir die Ärztin kurz und kalt mittgeteilt, dass sie keinen Herzschlag feststellen könne und war dann einfach aus dem Untersuchungsraum gestürmt. In diesem Moment war die Welt über mir zusammengebrochen und all mein Glück innerhalb von Sekunden vollkommen zerstört. Ich fiel in eine schwere Depression und zu allem Überfluss musste ich auch noch einer OP unterziehen, um den toten Fötus ausschaben zu lassen und somit mögliche Infektionen in meiner Gebärmutter zu verhindern. Aber das Allerschlimmste war, dass ich die nächsten Monate das Schwangerschaftsglück meiner Freundin hatte miterleben müssen, die zum gleichen Zeitpunkt wie ich schwanger geworden war.
Mein neuer Freund und ich hatten uns kurz vor dem Geburtstag meiner mittleren Tochter kennengelernt. An der Feier konnte er leider nicht teilnehmen, was mir auch ganz recht gewesen war, da er sonst sofort meine Eltern hätte kennenlernen müssen. Trotzdem hatte er meiner Tochter ein Geschenk gekauft. Das heißt, er hatte das Kleid bezahlt, welches ich ihr hatte schenken wollen. Diese nette Geste seinerseits rührte mich.
Meine Kinder fragten mit der Zeit immer öfter nach ihm. Ich bemerkte, dass sie es sehr genossen, endlich wieder eine männliche Bezugsperson in ihrem Leben zu haben, auch wenn diese nicht tagtäglich präsent war. Sie fragten immer wieder, wann er denn zu Besuch kommen würde und immer häufiger, ob wir nicht mehr zusammen unternehmen könnten. Da wir aber beide in Vollzeit berufstätig waren, schien es fast unmöglich, etwas gemeinsame Zeit zu finden. Die Trennungsphasen kompensierten wir, indem meine Kinder und ich ihm regelmäßig Bilder und Videos von uns schickten und er uns Bilder von sich. »Eure Bilder heitern mich immer auf«, schrieb er jedes Mal erfreut.
Trotz der Entfernung und der unterschiedlichen Tätigkeiten entstand durch diese Art von Informationsaustausch ein Gefühl der Verbundenheit und es gewährte mir zudem einen kleinen Einblick in sein Leben und seinen Alltag. Ansonsten war ich mit ihm tagsüber in regelmäßigem Kontakt und abends telefonierten oder skypten wir meisten. Noch nie zuvor hatte ich einen Partner gehabt, der sich trotz seines Alltagsstresses so oft und viel bei mir gemeldet hatte. Dies gab mir die Bestätigung, dass ich einen festen Platz in seinem Leben eingenommen hatte.
Wie macht er das eigentlich, während er mit seinen Patienten arbeitet?, wunderte ich mich allerdings oft.