Читать книгу Ein Jahr mit einem Narzissten - Katrin Roth - Страница 9

Psychopathen

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Seit neuestem schien er ständig gestresst und übermüdet. Ich kannte den Druck der Selbstständigkeit und wusste auch, wie es ist mit Patienten zu arbeiten. Sich den ganzen Tag mit den Problemen anderer zu beschäftigen ist belastend und anstrengend. Die Arbeit auf seinem Fachgebiet konnte ich natürlich nicht konkret nachvollziehen, aber für kurze Zeit hatte ich in einem Krankenhaus gearbeitet. Dort war ich auf der Inneren-Station tätig gewesen und hatte den täglichen Umgang mit Patienten hautnah erlebt. Ich im Krankenhaus als Krankenschwester - bei der Erinnerung musste ich immer noch lachen. Damit hatte ich nun wirklich gar nichts am Hut, aber war für den Job zu der Zeit sehr dankbar gewesen.

Dank unseres tollen deutschen bürokratischen Systems wurde mein neuseeländischer Studienabschluss nicht voll anerkannt. Neben einem guten Studienabschluss hatte ich auch hervorragende Referenzen vorzuweisen, aber was zählt das schon, wenn man nicht das richtige Papier in der Hand hält? Zwangsweise musste ich also nach Alternativen suchen und in meiner Verzweiflung war mir fast jeder Job recht gewesen.

Letztendlich bin ich sehr dankbar für die Erfahrungen, die ich im Krankenhaus machen durfte. Nachdem ich etliche Leute in furchtbaren Qualen, mit schmerzhaften Krankheiten und viele Sterbende gesehen habe, weiß ich das Leben und die Gesundheit nun viel mehr zu schätzen. Wie viele Menschen freuen sich schon tagtäglich darüber, dass sie keine ernsthaften Leiden, Krankheiten oder Behinderungen haben? So gut wie niemand! Wir merken immer erst wie gut es uns ging, wenn es uns plötzlich richtig dreckig geht.

Ich glaube, im Krankenhaus ist ein kleiner Teil meiner Empathiefähigkeit gestorben. Nach der ersten Woche auf der Station fragte ich mich ernsthaft, wie ich das ganze Leid, die ekligen Anblicke und Gerüche noch länger ertragen sollte. Ich hatte eine Frau gesehen, welche am ganzen Körper mit Herpes übersäht war, einen Mann mit genitalem Pilzbefall, bei dem der weiße Pilz erst einmal abgekratzt werden musste, um darunter nur noch blutige aufgerissene Haut zu finden und einen Mann mit Speiseröhrenkrebs, der einen beißenden Gestank von Verwesung verbreitet hatte, sodass man es auf der ganzen Station roch.

Aber dann lernte ich, wie schnell ein Mensch abhärten kann. Anders geht es wohl auch nicht, sonst hätten mich ständig Bilder, Albträume und dunkle Gedanken gequält. Wahrscheinlich wäre ich dadurch in einem Sog der Verzweiflung und Traurigkeit versunken. Damals im Krankenhaus zwang ich mich meinen Ekel und die oft aufsteigende Übelkeit zu unterdrücken und musste einige Male Schwindelanfälle abwehren. Die Kranken brauchten Hilfe und meine Aufgabe war es zu helfen. Am Ende konnte ich sogar Blut und Spritzen sehen, ohne sofort ohnmächtig zu werden. Was mir mit der Zeit bewusst wurde und mir half meine Ängste und Ekel zu überkommen war zu verstehen, dass Krankheit und vor allem der Tod ein ganz natürlicher Teil unseres Lebens sind. Man muss sie einfach akzeptieren. Sie sind unabdinglich und unvermeidbar. Krankheiten sagen sehr viel über uns und unsere Lebensweise aus, deshalb sollte man lieber die Hintergründe dafür erforschen, als sich über die Krankheit zu ärgern. Ich verstand, dass dies unsere Aufgabe im Krankenhaus war und dass die Ärzte auch nur bis zu einem gewissen Grad helfen können. Sie sind leider keine Wunderheiler, so wie viele Patienten es oft annehmen oder sich erhoffen.

Aufgrund dessen, was ich tagtäglich im Krankenhaus miterlebte, merkte ich allerdings, dass es mir immer schwerer fiel, für kleinere Leiden Empathie zu empfinden. Ich wusste, dass es noch viel schlimmer ging. Ansatzweise verstand ich mit der Zeit auch, warum so viele Ärzte oft kühl und emotionslos erscheinen. Ich fragte mich bei diesen Gedanken, wie mein Freund wohl seinen Patienten gegenübertritt. Ist er eher kühl oder sehr empathisch? Als Psychologe muss man ja zwangsläufig empathisch sein, um sich in seine Patienten einfühlen zu können.

Mein Freund beendete fast jeden Abend gegen einundzwanzig Uhr seine Arbeit. Ich bewunderte stets seinen Fleiß. Während er arbeitete, waren wir in ständigem Kontakt, wobei ich mich oft fragte, wie er sich dabei auf seine Patienten konzentrieren konnte. Verständlicherweise war er nach seiner Arbeit erschöpft, weshalb er selten die Zeit und Kraft hatte, mich danach auch noch zu besuchen. Ihn in seiner Wohnung zu besuchen war keine Option, da ich wegen meiner noch jungen Kinder nicht sehr flexibel war und mir zudem nicht ständig einen Babysitter leisten konnte.

»Ich muss jetzt noch zwei gute Freunde treffen. Ich bin zwar müde und muss morgen früh raus, aber ich habe es ihnen versprochen«, schrieb er nach Feierabend. Er tat mir sehr leid.

»Warum musst du denn morgen früh raus, es ist doch Wochenende?«, stellte ich verwundert fest. Er hatte gar nicht erwähnt, dass er etwas vorhatte.

»Ich fliege zu meiner Familie. Der Flug dauert zum Glück nur zweieinhalb Stunden«, teilte er mir mit. Zu gerne nur wäre ich mitgeflogen, aber es ging ja nicht wegen meiner Kinder.

»Erholsam wird es bestimmt nicht. Wir müssen wichtige Familienangelegenheiten besprechen. Seit mein Vater verstorben ist, bin ich nun das Familienoberhaupt und muss somit die Verantwortung für alles übernehmen«, erklärte er.

»Geht es um deine Mutter?«

»Ja, und um viel Geld und viel Macht. Das ist alles nicht so einfach.«

Ich hatte zwar keine genaue Ahnung, was sich in seiner Familie abspielte, stellte mir die Situation aber ziemlich kompliziert und emotional aufreibend vor. Sein Vater war schon seit einigen Jahren tot. Er war nach einem langen Kampf gegen Krebs verstorben. Furchtbarerweise hatte nun auch seine Mutter mit Krebs zu kämpfen. Vor einem Jahr war die Diagnose Gehirntumor bestätigt worden. Gegen den Rat des Arztes hatte sie sich gegen eine Operation entschieden, da ihre Angst vor den damit verbundenen Schmerzen einfach zu groß war. Seine Familie hatte sie daraufhin dazu gedrängt, wenigstens einer Chemotherapie zuzustimmen, um den Wachstumsprozess des Tumors zu verlangsamen.

Während meiner Krankenhauszeit hatte ich einige Krebspatienten leiden sehen. Insbesondere erinnere ich mich an eine Mutter von drei Kindern. Ihre Geschichte ist mir damals sehr nahegegangen. Ihr Mann kam sie jeden Tag mit den Kindern im Krankenhaus besuchen. Sie hatte der Chemotherapie zugestimmt und alle hofften, sie würde dadurch wieder gesund. Sie steckte wochenlang in einem lieblosen Zimmer fest, in welchem sie nach einigen Wochen den Tod fand. Sie und ihre Familie, vor allem die Kinder, hatten mir unendlich leidgetan. Ich kann mir nichts Schlimmeres für Kinder vorstellen, als die eigene Mutter langsam sterben sehen zu müssen. Damals schwor ich mir, dass ich freiwillig niemals einer Chemotherapie zustimmen würde, sollte ich jemals mit Krebs diagnostiziert werden. Lieber würde ich meine restliche Lebenszeit so gut es ging mit meinen Kindern verbringen. Der eigene Lebenswille und das eigene Wohlbefinden dürfen, meiner Meinung nach, bei der Heilung nicht unterschätzt werden. Manchmal passieren Wunder. Aber sind es wirklich Wunder?

Die Geschichte seiner Familie gab mir nun sehr zu denken. Es ist immer traurig zu hören, dass sich Familien in Krisensituationen, anstatt sich zu unterstützen und gegenseitig zu ermutigen, entzweiten und zerstreiten.

»Sag deinen Geschwistern mal, dass sie sich in die Lage deiner Mutter versetzen sollen. Ihnen werden die Streiterei und das ganze unnötige Drama später noch leidtun.«

Ich fühlte mich innerlich aufgewühlt. Bevor ich schlafen ging, fragte ich ihn, ob er mir ein gutes Buch empfehlen könnte. Auf dünnem Eis: Die Psychologie des Bösen von Lydia Beneke, schlug er vor. Interessant! Solch eine Wahl hätte ich sicherlich nicht getroffen und musste gleich im Internet recherchieren. Ich stieß auf einen sehr interessanten Podcast mit der Autorin und weitere Interviews. Das Thema fesselte mich sofort. Die Hannibal Lecter Geschichten kamen mir in den Kopf und bei dem Wort ›Psychopath‹ stellte ich mir sofort Menschen vor, denen man ganz klar ansehen konnte, dass sie einfach böse und verrückt sein mussten. Durch Beneke lernte ich jedoch, dass der Großteil aller Psychopathen tatsächlich nicht auffällig, straffällig oder gar gewalttätig wird. Die meisten Psychopathen sind nicht nur hochmanipulativ, sondern können auch kein oder nur sehr wenig Empathie empfinden und leben unerkannt unter uns. Ich lernte, dass die gekonnten Manipulationen der Psychopathen, welche in keinem Fall automatisch mit höherer Intelligenz zu verwechseln sind, es schwer machten das wahre Ich dieser Menschen zu erkennen. Ihre Aggressivität lassen sie meist nur an den eigenen Kindern und Familienmitgliedern aus, welche sich nur selten trauen diese Vorfälle zu melden. Psychopathen findet man, laut Beneke, häufig in Beziehungen, welche sie natürlich auch nur für ihre eigenen Zwecke und Spiele missbrauchen. Oft ist das Ziel Geld zu bekommen oder ihre sexuellen Fantasien auszuleben. Es gibt ein Spektrum der Psychopathie - also Psychopath ist nicht gleich Psychopath. Der Anteil in einem Menschen kann verschieden hoch sein. Ich konnte mir nicht verkneifen, selbst einen Psychopathen-Test durchzuführen und war erstaunt über das Ergebnis.

Dass es mir schwerfiel in gewissen Situationen oder gewissen Personen gegenüber Gefühle zu zeigen, wusste ich. »Du bist viel zu emotional und aufopferungsvoll, um dem vollen Bild einer Psychopathin zu entsprechen«, beruhigte ich mich dann aber schnell.

Meine nächste Frage an meinen Freund lag auf der Hand: »Wie sehr ähnelst du einem Psychopathen oder hast du psychopathische Züge?«

Mir war an diesem Punkt bewusst, dass er definitiv einige davon hatte.

»Sehr«, bekundete er, »aber laut Benekes Definition ist jeder ein Psychopath. Der Unterschied zwischen uns und den Psychopathen ist, dass wir eine sehr viel höhere Hemmschwelle haben. Meine Gedanken sind extrem, aber es sind eben nur Gedanken«, beschwichtigte er.

»Welche Gedanken hast du denn zum Beispiel?«

»Manipulation, Drang nach Macht und anderen Schmerzen verursachen«, offenbarte er.

»Und konkrete Vorstellungen?«, fragte ich weiter.

»Würgen bis zur Ohnmacht oder bis zum Tod, brutale Schläge bis zur Bewusstlosigkeit«, exemplifizierte er. Okay, das waren in der Tat extreme Gedanken, aber wie er schon geschrieben hatte, es waren eben nur Gedanken. Wem passiert so etwas nicht, dass er Vorstellungen oder Gedanken hat, die moralisch nicht korrekt sind? Kein Mensch ist komplett unschuldig und perfekt. Was richtig oder falsch ist basiert sowieso immer nur auf subjektiver Empfindung und Bewertung.

Eine weitere Frage interessierte mich noch: »Inwiefern fällt es dir leicht oder schwer Emotionen zu zeigen?«

»Es fällt mir sehr leicht keine Emotionen zu zeigen, mir fällt es extrem schwer, welche zu zeigen«, lautete seine Antwort. Das konnte ich nicht glauben und fand die Antwort ziemlich überspitzt und nicht vereinbar mit dem, wie ich ihn bis jetzt erlebt hatte. Er zeigte immer sehr viel Freude, wenn wir uns sahen und auch Trauer und Mitgefühl, wenn er zum Beispiel von seiner Mutter sprach. Er stellte sich hier definitiv schlechter dar, als er in Wirklichkeit ist. Auch was meine Kinder anbelangte, verhielt er sich einfach unglaublich tolerant und verständnisvoll. Seit ich Alleinerziehende war, kam ich mir oft vor wie eine Behinderte. Welcher Mann will schon eine Frau mit Kindern von einem anderen Mann? Das ist ja viel zu kompliziert und viel zu viel Arbeit. Dabei bereichern Kinder das Leben!

In den Augen der meisten sind Kinder ein Störfaktor. Er hingegen hatte meine Kinder mit offenen Armen empfangen. Er hatte ihnen Zuwendung geschenkt. Seine Bemühungen rührten mich sehr. »Sie gehören zu dir und sind ein Teil von dir und deinem Leben. Auch wenn es mir primär um dich geht, dürfen deine Kinder nicht unter unserer Beziehung leiden und dein Leben sollte nicht aufgrund deiner Kinder eingeschränkt sein. Es macht alles ein wenig schwieriger, aber du bist dadurch nicht weniger wertvoll für mich. Egal, was aus uns wird, du bist ein toller Mensch und ich werde den Kontakt zu euch halten, denn jemanden wie dich findet man nicht allzu oft. Und solange wir uns nicht anders entscheiden, gehörst du definitiv mir. Deine Kinder werden das nicht ändern und auch kein Problem für mich sein«, bekundete er.

In meinen Augen war er einfach perfekt und liebenswürdig, so wie er war. Das Thema Psychopathie war hiermit erst einmal abgehakt.

»Ich werde dir alles geben. Ich will dir guttun und dich glücklich machen«, antwortete ich, »aber ich möchte auch meine Kinder schützen und verhindern, dass ständig Fremde in ihr Leben treten, die dann nach kurzer Zeit wieder verschwinden. Das Trennungstrauma ist sowieso schon schlimm genug für sie. Mein letzter Ex-Freund hatte sich allein mir zuliebe mit meinen Kindern abgegeben und eine richtige Show abgezogen, nur um mich zu beeindrucken.«

»Ich weiß, dass du mir so viel geben wirst wie du kannst, und zwar nicht nur im Sexuellen, sondern in jeder Hinsicht. Ich werde dich unterstützen, denn ich will ein Eigentum haben, das Freude und Kraft am Leben hat. Deinen Kindern soll es dabei auch gut gehen«, beruhigte er mich. Endlich mal ein Mann, der die Dinge locker und sachlich sah und nicht gleich nach Problemen suchte, wo eigentlich keine waren!

Ein Jahr mit einem Narzissten

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