Читать книгу Blutengel: Aaron - Kim Landers - Страница 11
6.
ОглавлениеImmer wieder sah Rebecca den brennenden Jungen vor sich, und es erfüllte sie mit Entsetzen, dass sie ihm nicht hatte helfen können. Von Selbstentzündungen hatte sie zwar gelesen, aber wäre sie nicht Zeugin dieses Geschehens geworden, hätte sie nie daran geglaubt.
Dennoch war sie niemand, der sich Übersinnlichem verschloss, allein schon wegen ihrer ungewöhnlichen Gabe. Hätte Marley auf sie gehört, wäre der Junge nicht gestorben, davon war sie überzeugt. Wäre sie doch nur hartnäckiger gewesen … Hätte, wenn und wäre! Es war geschehen und nichts konnte es mehr ändern. Sie atmete tief die kühle Luft ein und spürte, wie sich ihre Erregung legte. Sicher würde sie noch Tage oder Wochen daran denken, aber sie würde auch darüber hinwegkommen.
Erst auf dem Parkplatz wurde Rebecca bewusst, dass ihr Wagen noch auf dem Hinterhof des Supermarktes parkte. Sie stöhnte auf und sah auf ihre Uhr. Aaron hatte gesagt, er wolle sie gegen Mitternacht abholen. Bis dahin war noch eine Dreiviertelstunde Zeit, aber ins Krankenhaus wollte sie nicht zurück. Nur einen Block entfernt gab es einen Coffeeshop, der auch nachts geöffnet hatte.
Der Junge ging ihr nicht aus dem Kopf. Wer oder vielmehr was war er? Es gab keine geflügelten Wesen, nur in irgendwelchen Mythen und Legenden. Und weshalb träumte sie dann von ihnen? Menschen verarbeiteten in ihren Träumen Erlebnisse, die sie bewegten, in symbolhaften Figuren oder Szenen. Eine plausible Erklärung, die vielleicht funktioniert hätte, wenn sie nicht im hellwachen Zustand am Untersuchungstisch gestanden und diese Visionen erlebt hatte.
Kaum hatte sie den Parkplatz verlassen, vernahm sie hinter sich feste Schritte. Sie drehte sich kurz um und erkannte einen Mann in Cargo-Hose und Baumwolljacke, der in geringem Abstand hinter ihr ging, den Hut tief ins Gesicht gezogen. Sie war zwar kein ängstlicher Typ, aber irgendetwas an ihm flößte ihr Angst ein. Als sie schneller ausschritt und auch er sein Tempo erhöhte, wurden ihre Befürchtungen zur Gewissheit.
Im nächsten Moment beschloss Rebecca, doch ins Krankenhaus zurückzukehren. Bevor sie sich umdrehen konnte, versperrte ihr ein anderer, hochgewachsener Mann mit hämischem Grinsen den Weg. Selbstbewusst hob sie das Kinn und wollte an ihm vorbeigehen, als sie seine Augen sah, die rot im Halbdunkel glommen wie Zigarettenglut. Hinter sich hörte sie wieder Schritte. Der Kerl in der Cargohose. Verdammt, jetzt hatten sie sie eingekeilt.
Angst kroch ihr Rückgrat hinauf und drückte ihr die Kehle zu. Fieberhaft suchte sie nach einer Fluchtmöglichkeit. Niemand außer ihr war weit und breit zu sehen. Ein perfekter Moment für ein Verbrechen. Doch sie würde es ihnen nicht leicht machen.
Die Schritte hinter ihr waren verklungen, woraus sie folgerte, dass der andere stehen geblieben war. Sie wagte nicht, sich noch einmal umzudrehen, sondern konzentrierte sich auf ihre zittrige Hand, die sich um ihr Schlüsselbund schloss. Im gleichen Augenblick, als der Fremde sie abrupt an der Schulter packte, hieb sie ihm die gezackten Schlüssel in die Augen.
Rebecca erschrak, als das keine Wirkung zeigte, sondern der Kerl stattdessen lachte. Mit einer Drehbewegung schaffte sie es sich loszureißen, machte auf dem Absatz kehrt und schleuderte dem Kerl in der Cargo-Hose, der ihr jetzt entgegentrat, mit voller Wucht ihre Handtasche an den Kopf. Dieser brüllte vor Wut auf, während sein Kumpan laut fluchte. Sofort nutzte sie das Überraschungsmoment und rannte zum Eingang des Krankenhauses. Ihre Angst mobilisierte trotz Müdigkeit und bleischwerer Beinen ungeahnte Reserven.
Doch der Kerl in der Cargo-Hose folgte ihr und holte sie schnell ein. Sie schrie laut um Hilfe, aber niemand schien sie zu hören. Parkplatz und Vorplatz des Krankenhauses waren wie ausgestorben. Ein Wagen näherte sich und Rebecca schöpfte Hoffnung. Da traf sie etwas mit voller Wucht am Hinterkopf und brachte sie zu Fall. Kurz bevor sie auf den Boden knallte, packte sie jemand im Genick, dann versank ihr Geist in Dunkelheit.
Als Rebecca aus der Ohnmacht erwachte, vernahm sie ein Motorengeräusch. Sie öffnete vorsichtig die Lider. Sie lag auf dem Rücksitz eines Wagens, Hände und Füße gefesselt und ihr Mund mit einem Klebeband verschlossen. Sie bekam kaum Luft.
In ihrem Hinterkopf pochte es schmerzhaft wie nach einem Schlag. Träge kehrte die Erinnerung zurück. Die beiden Männer vor ihr hatten sie vor dem Krankenhaus entführt. Auf dem Beifahrersitz saß der Kerl mit Hut, der Fahrer war ihr unbekannt. Sie unterhielten sich in einer Sprache, die sie nicht verstand.
Unvermittelt musste Rebecca an Gail und Laura-Jane denken, die auch entführt worden waren. Hatten die Kerle dasselbe mit ihr vor? Sie erschauerte und überprüfte den Sitz der Fesseln. Leider waren sie so eng geschnürt, dass sie sich bei jeder noch so kleinen Bewegung tief in ihre Haut schnitten. Das brannte höllisch. Mit der Fußspitze erreichte sie den Türgriff, fuhr darunter, aber die Tür war verriegelt. Frustriert gab sie auf.
Wer waren die Kerle? Vorhin glaubte sie, ein rotes Aufblitzen in den Augen des einen gesehen zu haben. Die Flügelstümpfe des verletzten Jungen, seine Selbstentzündung, die roten Augen des Kerls, die dann wieder völlig normal wirkten, seine enorme Geschwindigkeit, mit der er ihr hinterhergerannt war, das alles konnte nicht menschlich sein.
Sie grübelte weiter. Ihre Eltern waren zwar nicht mittellos, aber auf keinen Fall reich. Wenn sie kein Geld erpressen wollten, was dann? Steckte ihr Vater vielleicht in Schwierigkeiten, von denen sie nichts wusste? Seit heute Morgen schien die Welt, die sie zu kennen geglaubt hatte, eine völlig andere zu sein. Wenn sie wenigstens verstehen könnte, worüber sich die beiden unterhielten.
Rebecca drehte den Kopf, um das Wageninnere zu betrachten, und zuckte vor Schmerz zusammen, als sie mit dem Hinterkopf gegen die Rückenlehne stieß. Wer war ihr Auftraggeber? Ein Feind ihres Vaters? Als Bestsellerautor hatte er viele Neider. Aber würden die so weit gehen? Ihr fiel niemand ein.
Ein Frösteln stieg ihren Rücken hoch. Noch nie hatte sie sich so hilflos gefühlt wie jetzt. Sie dachte an Aaron, der vergeblich vor dem Krankenhaus auf sie warten würde. Bestimmt glaubte er, sie hätte ihn versetzt. Sie kämpfte gegen die aufsteigenden Tränen. Nie würde sie den Typen gegenüber Schwäche zeigen.
Nach einer gefühlten Ewigkeit stoppte der Wagen. Die beiden Männer stiegen aus und gingen fort. Rebecca wartete nicht lange, bis der mit dem Hut zurückkehrte, die Tür aufriss und sie grob aus dem Wagen zerrte. Er packte sie völlig mühelos über seine Schulter und trug sie in ein unbewohntes Haus. Rebecca strampelte so gut es ging und schrie, aber ihre Versuche prallten an ihm ab. Er schleppte sie durch den Korridor zu einer Treppe und stieg mit ihr hinab. Im Keller war es so dunkel, dass sie nicht einmal die Hand vor Augen sehen konnte.
«Sperr sie dort ein», hörte sie eine hohe, krächzende Stimme.
Ihr Blick suchte in der Dunkelheit nach dem Sprecher, konnte aber nichts erkennen. Ihr Peiniger trat eine Tür auf und lief weiter. Jemand folgte ihnen leichten Schrittes, vermutlich der Sprecher von eben. Unsanft setzte er sie auf einen Stuhl und ging fort.
«Er möchte, dass ihr sie gut behandelt. Nimm ihr die Fesseln ab», krächzte die helle Stimme, von der Rebecca nicht wusste, ob sie einem Knaben oder einer Frau gehörte.
Ein unwilliges Knurren folgte. Für den Bruchteil einer Sekunde flammten seine Augen in der Dunkelheit auf. Er schnitt die Fesseln durch und drehte sich wieder um. Erleichtert rieb Rebecca sich die Handgelenke und zog das Klebeband vom Mund.
«Wer sind Sie und warum haben Sie mich entführt?» Keine Antwort. «Nennen Sie die Lösegeldsumme und Sie werden sie bekommen. Ich rufe meinen Vater an, er wird sie besorgen. Fünfzigtausend? Hunderttausend?»
«Halt’s Maul!», herrschte er sie an.
«Schon gut. Du wirst früh genug erfahren, was wir mit dir vorhaben. Bis dahin bleibst du hier.» Das helle Krächzen klang trügerisch sanft.
Rebeccas Mut sank. Sollte sie etwa länger in diesem dunklen, feuchten Keller ausharren?
«Versuch ja keine Mätzchen. Du kannst uns nicht entkommen», zischte ihr Peiniger und verließ als Erster den Raum.
Sie spürte die Nähe des anderen, der an der Tür eine Weile verharrte. Ein leises Rascheln und ein Luftzug streifte Rebecca. Sie glaubte, die Silhouette eines Flügels zu erkennen, und ihre Hände krallten sich um die Stuhllehnen. Dann fiel die Tür krachend hinter ihm zu und der Schlüssel drehte im Schloss.
Rebecca atmete erleichtert aus, als sie gegangen waren. Deutlich hatte sie die Feindseligkeit gefühlt. Sie musste von hier fliehen, und zwar so schnell wie möglich. Sie reckte ihre schmerzenden Beine und Arme. Durch ein schmales Kellerfenster fiel für wenige Sekunden Mondlicht, sodass sie die Umrisse von hohen, leeren Regalen erkennen konnte, einen Campingtisch in der Mitte und Fässer zu ihrer Rechten, deren Holz faulig roch. Von der Decke baumelte ein Kabel, das sicherlich für den Anschluss einer Lampe gedacht war. Licht gab es keines, aber der Gedanke, das Fenster einzuschlagen und in die Freiheit zu schlüpfen, verlieh ihr neuen Mut.
Doch der Lichtstrahl erlosch viel zu schnell. Wolken mussten sich wieder vor den Mond geschoben haben. Sie tastete sich durch eine schmale Gasse zwischen den Holzfässern zum Fenster, das ungewöhnlich hoch platziert war. Sie konnte es nur mit den Fingerspitzen am unteren Rand berühren. Sie musste den Stuhl holen.
Da hörte sie plötzlich leise Stimmen auf dem Flur. Sie schlich zur Tür und lauschte. «Pass auf, dass sie dir nicht entwischt. Er hat Besonderes mit ihr vor», vernahm sie die krächzende Stimme.
«Ich würde sie lieber erledigen», antwortete sein Kumpan.
Rebecca schauderte bei dem Gedanken, dass sie ihren Tod planten.
«Idiot! Sie hat erst eine Aufgabe zu erfüllen.»
Die Stimmen verklangen. Welche Aufgabe? Atemlos lehnte sich Rebecca an die Tür. Die aufsteigende Panik ließ sie zittern. Ihr Herz klopfte so heftig und laut, dass sie glaubte, ihre Widersacher könnten es hören. Sie verharrte noch eine Weile reglos, bis sie sich sicher wähnte, dann tastete sie sich zum Stuhl zurück.
Ihr einziger Gedanke galt ihrer Flucht. Zentimeter für Zentimeter schob sie vorsichtig den Stuhl bis unters Fenster, stets bedacht, nirgendwo anzustoßen. Doch im nächsten Moment knallte sie mit dem Fuß gegen eine Metallschiene und unterdrückte einen Aufschrei. Ihr Spann schmerzte, aber zum Glück blieb alles still. Sie verbiss den Schmerz und humpelte weiter. Endlich konnte sie den Stuhl unter dem Fenster abstellen und hinaufsteigen. Das Fenster war doppelt verglast und roch frisch lackiert. Waren außer ihr noch andere hier eingeschlossen gewesen? Waren die schon tot?
Denk nicht daran, konzentriere dich lieber darauf, wie du hier rauskommst, ermahnte sie sich. Flink glitten ihre Finger über den hölzernen Fensterrahmen. Sie zog am Griff, aber das Fenster klemmte. Verdammte Dunkelheit! Sie sah zum wolkenverhangenen Himmel auf und hoffte auf einen Lichtstrahl. Ihre Hoffnung schien sich nicht zu erfüllen und ihr Mut sank, bis der Mond doch noch hinter den Wolken auftauchte. Rebecca stellte sich auf die Zehenspitzen und blickte zwischen die beiden Scheiben. Zwei Haken arretierten die Flügel in der Mitte. Wenn sie diese lösen wollte, musste sie das Fenster aushebeln.
Na klasse, als wenn hier Werkzeug für einen Ausbruch bereitliegen würde. Dennoch war sie entschlossen, danach zu suchen. Sie stieg wieder vom Stuhl und tastete die Regale ab. Jedes war leer und Rebeccas Hoffnung sank immer mehr, als auch die Holzfässer nichts hergaben. Frustriert ließ sie sich auf den Stuhl fallen und grübelte über Alternativen nach.
Ihr Handy! Sie zog es aus der Tasche und ein Zeichen blinkte auf. Der Akku war leer. Wütend stopfte sie es wieder in ihre Hosentasche zurück.
Ihr Spann schmerzte und war geschwollen. Sie rieb darüber und dabei kam sie auf eine Idee. Rebecca kroch auf allen vieren zu der Stelle zurück, an der sie sich gestoßen hatte. Ihre Finger betasteten das Fass, bis sie die Metallspitze fühlte. Der Ring, der das Fass unten zusammenhielt, war rostig und hatte sich an einer Stelle gelöst. Rebecca bog und zerrte daran herum, bis das Stück mit einem leisen Knacken abbrach.
Sie horchte in die Stille, bevor sie zum Fenster zurückhinkte. Die Schiene war nur wenige Millimeter dick, sodass sie sie unter den Fensterflügel schieben konnte. Als sie den Haken anheben wollte, brach die Spitze ab und fiel zwischen die beiden Fensterflügel. Im selben Moment hörte sie das vertraute Geräusch eines Motorrads. Sie erkannte Aaron, der von seiner Honda stieg und sich umsah. Er konnte unmöglich wissen, dass sie sich hier befand. Steckte er mit diesen Kerlen unter einer Decke? Was wusste sie schon über ihn? Nichts.
Mit einem beeindruckenden Messer schlich Aaron auf das Haus zu. Sofort klopfte Rebecca gegen die Scheibe. Aber er schien sie nicht zu hören. Aber er musste! In ihrer Verzweiflung hämmerte sie jetzt mit den Fäusten gegen das Glas und rief nach ihm. Es war ihr egal, ob sie jemand hören konnte. Wenn ihr einer helfen konnte, dann Aaron!
Plötzlich öffnete sich hinter ihr die Tür und rote Augen glotzten sie feindselig an. Doch Aarons Nähe verlieh ihr Mut. Sie kletterte vom Stuhl und drängte sich zwischen die Fässer. Ihr Gegner folgte, aber weil er viel korpulenter war, kam er nicht an sie heran. Rebecca ignorierte den Schmerz im Knöchel, rappelte sich blitzschnell auf und spurtete zur Tür. Jedoch war dieses Mal der Kerl schneller. Er packte sie an den Haaren und riss sie zu Boden.
***
Es war seine Ungeduld, die für sein viel zu frühes Eintreffen vor dem Krankenhaus verantwortlich war. Weil Aaron Rebecca wiedersehen wollte. Zuerst überlegte er, das Gebäude zu betreten und nach ihr zu fragen, aber die kühle und klare Luft draußen war zu verführerisch, um sich die Zeit in einem Warteraum zu vertreiben.
Als er seine Fireblade auf dem Parkplatz abstellte, spürte er plötzlich dunkle Schwingungen. Jemand aus Luzifers Gefolge war hier gewesen. Seine Sinne schlugen sofort Alarm. Das ungute Gefühl bestätigte sich. Im nächsten Moment fand er Dämonenstaub auf dem Boden. Jedes Staubkörnchen könnte Bilder aus dem Gedächtnis des Dämons enthalten und ihm Hinweise liefern. Natürlich nur, wenn nicht zu viel Zeit verstrichen war.
Aaron hockte sich hin, nahm ein wenig Staub zwischen die Finger und verrieb ihn, um die Erinnerungen der Höllenbrut aufzufangen. Er hatte Glück, denn es war noch nicht einmal eine Stunde verstrichen und die Bilder bruchstückhaft, aber scharf. Der Dämon war in Begleitung eines Nephilims hier gewesen, der im Schatten des Gebäudes jemandem aufgelauert hatte. Aaron erstarrte, als er aus der Perspektive des Dämons Rebecca erkannte. Er sah, wie sie zum Parkplatz lief und den Kopf schüttelte. Sie kehrte um und lief zum Krankenhaus zurück. Der Dämon verfolgte sie.
Der Erinnerungsfluss brach ab und Aaron glaubte, dass das alles gewesen war, bis er noch ein wenig Staub zwischen den Fingern verrieb. Der Dämon und sein Kumpan zerrten die bewusstlose Rebecca in einen Wagen und fuhren mit ihr davon. Dann überfluteten sein Hirn Bilder, die ebenso schnell wieder verschwanden.
Unvermittelt riss die Flut ab, als hätte jemand den Ausschaltknopf gedrückt. Enttäuscht sprang Aaron auf. Doch er hatte verstanden, dass die Begegnung mit Jacob kein Zufall gewesen, sondern Rebecca aus irgendwelchen Gründen ins Visier der Apokalyptiker geraten war. Aaron schluckte. Wusste sie, in welcher Gefahr sie schwebte? Er musste sie sofort aus den Fängen der Sekte befreien.
Aaron schloss die Augen und versuchte, sich an die Gedanken des Dämons zu erinnern. Er hatte ein Haus aus dem letzten Jahrhundert gesehen, leerstehend am Ende einer Straße, ein Fluss gegenüber. Der Hudson Historic District.
Sofort rannte er zu seinem Motorrad zurück, setzte den Helm auf und schwang sich auf den Sattel. Der tiefe Sound der Honda röhrte durch die Straße, als er Gas gab. Hoffentlich kam er nicht zu spät. Es gab unzählige Möglichkeiten, was die Apokalyptiker mit ihr planten. Keine davon wollte er sich ausmalen.
Er kam viel zu langsam voran, weil er in keine Radarfalle geraten wollte. Die Cops durften ihn nicht anhalten. Endlich erreichte er den Hudsonbezirk. Wären nicht die dunklen Schwingungen gewesen, hätte er an einen Irrtum geglaubt. In dieser gediegenen und altehrwürdigen Gegend sollten sich Apokalyptiker aufhalten?
Er fuhr langsam die Straße entlang. Irgendwo bellte ein Hund, nur in wenigen Häusern brannte Licht. Erst am Ende der Straße befand sich ein leer stehendes Haus, das gut in Schuss war. Ein Schild in Form eines Wals, das typisch für diese Gegend war, baumelte über dem Gartentor mit der Aufschrift «For Sale».
Er parkte die Fireblade ein Stück weiter entfernt auf der anderen Straßenseite und lief langsam zum Haus. Auf dem Weg zog er sein Spyderco-Messer aus der Jacke. Seine Sinne waren aufs Äußerste geschärft.
«Aaron! Hier! Hilf mir!»
Er hörte Rebeccas Stimme in seinem Kopf. Sie musste sich also in diesem Haus befinden. Ein Gefallener war hier gewesen, dessen schwarze Aura über dem Haus lag. Azazeel, Luzifers rechte Hand und Vater der Prophetin Cynthia. Seine Rückkehr war ein Affront gegen die Erzengel und bewies, wie eng der Kontakt der Apokalyptiker mit Luzifers Gefolge war. Aaron schlich an der Frontseite des Hauses entlang. Azazeel hatte zwei Nephilim und einen Dämon zurückgelassen, die Rebecca bewachen sollten. Er war froh, die Shuriken mitgenommen zu haben. Sie enthielten Engelsblut, ein wirksames Mittel, das die meisten Dämonen pulverisierte.
Aaron kletterte lautlos an der Fassade empor aufs Dach. Oben angekommen, hoffte er inständig, eine von den drei Luken würde sich leicht öffnen lassen. Tatsächlich fand er eine, die einen Fingerbreit offenstand. Vorsichtig zog er sie so weit hoch, bis er problemlos hindurchschlüpfen konnte. Lautlos glitt er in den Raum, in dem es nach frischer Farbe roch. Seine Augen erfassten keinen Widersacher. Aaron lief zur Tür und drückte die Klinke hinunter. Mit einem Knarren sprang sie auf.
Er unterdrückte einen Fluch, als er spürte, dass es Rebeccas Bewachern nicht unbemerkt geblieben war. Seine Sinne nahmen jede Schwingung des Dämons auf, der sich ihm näherte. Aaron stellte sich hinter die Tür und zog lautlos einen der Shuriken aus der Jacke. Damit die Waffe ihr Ziel nicht verfehlte, musste er seinen Widersacher genau lokalisieren.
Die roten Augen des Höllenwesens spiegelten sich in der Scheibe des Dachfensters. Mit einer geschmeidigen Bewegung warf Aaron den Shuriken, der wie ein Frisbee durch die Luft flog und mit äußerster Präzision in die Brust des Dämons drang. Sofort entflammte dessen Körper und zerfiel binnen weniger Sekunden zu Asche. Aaron zog die Tür auf und fing den Shuriken auf, bevor er auf den Boden poltern konnte, und verstaute ihn wieder in der Jacke.
Von unten drangen Schreie herauf. Rebecca! Aaron spurtete die Treppe hinunter. Es polterte im Keller, dann folgte ein erstickter Laut. Er überwand die Stufen mit einem gewaltigen Satz. Rebecca kauerte zwischen zwei Fässern und versuchte den Nephilim mit dem Stuhl abzuwehren. Ihr Gegner schwang einen mächtigen Hammer. Aaron spürte ihre Angst. Wo war der dritte Bewacher? Der Nephilim packte Rebeccas Arm.
Er musste jetzt einschreiten. «Warum versuchst du es nicht mit einem ebenbürtigen Gegner», sagte er.
Der Nephilim wirbelte herum, Hass sprühte aus seinen Augen.
«Aaron! Oh, mein Gott, pass auf!», rief Rebecca aufgeregt.
Der Nephilim stürzte sich mit Zornesgebrüll auf ihn, aber Aaron wich geschickt aus und wirbelte herum, um das Messer direkt ins Herz seines Gegners zu rammen. Doch auch der drehte sich, weshalb Aaron ihn nur an der Schulter streifte. Blind vor Zorn sprang sein Gegner ihn an und holte mit dem Hammer aus. Wieder war Aaron schneller und dieses Mal gelang es ihm das Messer in das Herz des Dämons zu stoßen. Der Nephilim erstarrte, bevor er auf den Boden knallte.
***
Rebecca fühlte sich nutzlos, weil sie in der Dunkelheit nichts sehen und Aaron nicht helfen konnte. Sie spürte die Luftzüge der Bewegungen. Es machte sie verrückt, tatenlos herumzusitzen. Sie zitterte um Aaron und zuckte bei jedem Geräusch zusammen. Die Gegner keuchten, es folgte das Gebrüll des widerlichen Kerls, dann ein dumpfer Aufprall und Stille.
Plötzlich schoss eine zweifingerdicke Feuerfontäne aus dem Leib des am Boden Liegenden und erhellte für einige Sekunden den Raum, lang genug, dass Rebecca erkennen konnte, wie der leblose Körper sich auflöste und zu Staub zerfiel. Wie konnte sich ein menschlicher Körper so schnell auflösen?, schoss durch ihr Hirn.
«Aaron?», flüsterte sie und wollte mit dem Stuhlbein, das sie noch immer in der Hand hielt, aus ihrem Schlupfloch kriechen.
«Bleib, wo du bist», raunte er ihr zu.
Kaum einen Moment später spürte sie einen Luftzug dicht neben sich. Außer ihnen war noch jemand hier. Sie fühlte Aarons Anspannung und bemühte sich vergeblich, ihn im Dunkeln auszumachen. Sie sah eine Silhouette in der Raummitte und wagte nicht, sich zu bewegen. Die Zeit verstrich, ohne dass etwas geschah, und trieb die Spannung in den Bereich des Unerträglichen.
Plötzlich fuhr Rebecca zusammen, ein leises Röcheln kam von der geöffneten Tür. Das musste der dritte sein. Sie musste Aaron warnen. Aber jeder kleinste Fingerzeig könnte sie verraten. Blitzschnell kam ihr eine andere Idee, als der Kerl sich ihr näherte. Reglos kniete sie zwischen den Fässern, nur zwei Schritte von der Tür entfernt. Ihre feuchten Hände umschlossen fest das Stuhlbein. Sie hoffte auf ein Überraschungsmoment. Sie musste verdammt schnell sein, um ihn nicht zu verfehlen.
Als die Wolken für einen Moment den Mond freigaben, erkannte sie den Kerl, der sich hinter der Tür verbarg. Er hatte eine Pistole und schien sie nicht entdeckt zu haben. Er wirkte ganz auf Aaron fixiert. Der fahle Lichtstrahl erlosch, und Rebecca fluchte im Stillen, weil sie sich nun auf ihr Gefühl verlassen musste. Sie konzentrierte sich auf die Schwingungen des Mannes. Ein grünliches Lichtband umgab seinen Körper.
Nun komm schon vor, nur einen Schritt. Als hätte sie ihn beschworen, trat er tatsächlich vor. Sie holte mit dem Stuhlbein aus und traf sein Knie. Er brüllte vor Schmerz auf. Seine Hand schoss unvermittelt vor und zerrte sie an der Schulter hoch. Mit einem tiefen Knurren stieß er sie mit voller Wucht von sich.
Sie knallte gegen ein Regal. Der Schmerz in der Schulter raubte ihr fast die Besinnung. Etwas surrte dicht an ihrem Kopf vorbei und der Kerl jaulte wie ein geprügelter Hund auf. Dann polterte er auf den Boden. Im nächsten Moment herrschte gespenstische Stille. Das gleiche Schauspiel von eben folgte, eine Feuer sprühende Fontäne trat aus seiner Leibesmitte und in Null Komma nichts wurde aus Fleisch und Knochen Staub, der sich verflüchtigte. Das war unheimlich.
Ihr Herz wummerte in der Brust, während sie in die Stille lauschte. Sie wagte nicht nach Aaron zu rufen. Die Beule an ihrem Kopf begann wieder zu pochen.
«Rebecca? Alles okay?», hörte sie seine erlösende Stimme und sie atmete erleichtert aus.
«Ja, und bei dir? Bist du verletzt? Hast du alle erwischt?»
«Ja.»
Er kam auf sie zu, fasste sie am Arm und zog sie hoch. Mit einem Seufzer lehnte sie sich an ihn. Seine Nähe spendete Trost. Sanft strich er ihr übers Haar. Eine Weile standen sie schweigend und eng umschlungen da.
«Was sind das für Kreaturen? Und was wollen die von mir?», fragte sie an seiner Brust.
«Nephilim, die mit dem Teufel im Bund stehen. Sie gehören einer Sekte an, die sich die Apokalyptiker nennen, und sie wollen dich und deine Seele.»
Bei seinen Worten stockte ihr Atem. Ihr Kopf ruckte hoch, und sie sah zu ihm auf, obwohl sie in der Dunkelheit kaum die Konturen seines Gesichts wahrnehmen konnte. «Wie meinst du das? Die wollen mich oder meine Seele?» Rebeccas Kehle war plötzlich eng und trocken.
«So wie ich es gesagt habe.»
Rebecca musste ihre Gedanken ordnen. Nephilim – diesen Begriff hatte sie schon einmal gelesen. «Nephilim? Sind das nicht Kinder von Engeln?»
«Gefallener Engel», korrigierte er.
«Das ist doch absurd. So was gibt es nicht, nicht in der Realität!»
«Rebecca, du hast selbst eben erlebt, wie real das ist.»
Und wie sie das hatte! Wenn sie es nicht gesehen hätte … Jeder würde sie für verrückt halten, wenn sie davon erzählte. Was für ein Albtraum. Während ihr Verstand noch immer zweifelte, fühlte sie, dass Aaron die Wahrheit sprach. Sie wünschte, dieser Horror wäre ihr erspart geblieben.
«Ich muss das erst einmal verdauen», sagte sie mit erstickter Stimme. Nephilim, gefallene Engel … Das musste doch jemandem auffallen.
Und deine Gabe? Die hast du doch auch akzeptiert.
Rebecca schrak zusammen, als sie das Flüstern hörte. Nicht das auch noch. Sie war eben sensibler, empathischer als andere, mehr nicht, und sie besaß mehr Intuition. So hatten es ihr immer ihre Eltern erklärt. Doch leise Zweifel stiegen in ihr auf. Sollte sie sich Aaron anvertrauen?
Nein, entschied sie, sie kannte ihn nicht, jedenfalls nicht gut genug. In Rebeccas Kopf begann sich plötzlich alles zu drehen, ihre Beine gaben nach und ihr wurde übel. Aaron fing sie auf, als sie zusammensackte, und hob sie auf seine Arme. Der Schock ließ sie zittern.
«Mir ist kalt und ich brauche Ruhe. Bitte, bring mich nach Hause», stieß sie zähneklappernd hervor.
«Du kannst für eine Weile nicht nach Hause. Was ist, wenn dir dort die Sekte auflauert? Sie werden bald erfahren, dass ihre Kumpanen umgebracht wurden.»
«Aber wo … soll ich … denn … hin?»
Das Zittern wurde schlimmer
«Ich bringe dich an einen sicheren Ort. Vertrau mir», antwortete er.
Es blieb ihr nichts anderes übrig, denn sie selbst war zu nichts mehr fähig. «Einer dieser … Männer besaß … rote Augen», murmelte sie an seiner Schulter. Ihre Muskeln krampften.
«Sprich jetzt nicht, entspann dich.» Aaron trug sie hinaus zu seinem Motorrad.
«Du … hast … gut … reden.» Ihr fielen die Augen zu.
«Meinst du, du schaffst es, dich an mir festzuhalten?»
Sie musste. Alles, was sie wollte, war von hier wegzukommen. Sie nickte. «Ich denke … schon.»
Er setzte sie kurz ab und zog ihr sein Sweatshirt über, das er unter der Jacke trug. Seine Waffe verstaute er hastig in der Jackentasche. Sie kuschelte sich dankbar in das warme Fleece. Als er sie wieder hochhob, sank ihr Kopf an seine Schulter und die Lider fielen zu.
Er rüttelte sie sanft. «Du darfst nicht einschlafen, Rebecca.»
Seine Stimme klang besorgt. Sie nickte und sah kurz auf, bevor sie die Augen wieder schloss. Aaron legte ihr seine Hand an die Stirn. Wohlig prickelnde Schauer durchrieselten ihren Körper.
«Rebecca, du wirst nicht einschlafen», wiederholte er mehrmals beschwörend, während seine Hand noch immer auf ihrer Stirn ruhte.
Nicht einschlafen, nicht einschlafen, echote es in ihrem Kopf. Mit jedem seiner Worte fühlte sie sich kräftiger und die Müdigkeit wich, als hätte sie eine Koffeindusche genossen.
«Geht es jetzt besser?», fragte er nach einer Weile und zog seine Hand fort, von der sie sich gewünscht hätte, sie würde dort noch länger verweilen.
«Du solltest dich als Yogi betätigen. Dein Mantra hat gewirkt», sagte sie. Ihre Stimme klang seltsam. Ihre Zunge fühlte sich schwer und pelzig an.
«Wäre eine Überlegung wert.» Sie hörte ihn lachen. «Komm, jetzt steig auf», sagte er und zog sie hinter sich auf den Sitz.
Mit jedem Atemzug wurde sie klarer im Kopf und sie bemerkte, wie ihre Kleidung unangenehm an ihrem schweißigen Körper klebte. «Wenn du mich woanders hinbringst, brauche ich aber unbedingt noch ein paar Sachen. Die hier sind schmutzig», sagte sie und rümpfte die Nase.
«Du willst doch nicht etwa bei deiner Wohnung vorbeifahren?», fragte er ungläubig.
«Wenn das ginge?», antwortete sie und nannte ihm die Adresse. Doch seine Miene drückte aus, dass ihm der Vorschlag nicht sonderlich gefiel. «Bitte, Aaron, ich muss meine Sachen haben. Meine Klamotten stinken wie ein Raubtierpelz.»
Sie roch nach muffigem Keller und Schweiß. In diesen Kleidungsstücken konnte sie unmöglich schlafen. Ehrlich gesagt, sehnte sie sich auch nach einer Dusche. Sie hatte ihre Kleidung sowieso bereits vor zwei Tagen in einer Reisetasche verstaut, weil ihr in den vergangenen Wochen keine Zeit fürs Packen geblieben war.
«Na, gut», gab er widerwillig nach, «wir fahren vorbei. Aber wenn ich etwas Auffälliges bemerke, musst du darauf verzichten. Dann werden wir eine andere Lösung finden. Ist das klar?»
«Klaro.»
«Und wenn alles klappt, nur das Nötigste», schob er hinterher.
«Danke.»
Hoffentlich hatten sie Glück und keiner lauerte ihnen auf. Für heute hatte sie genug. Rebecca legte die Arme um seinen Körper. Sie fröstelte noch ein wenig, als der Fahrtwind unter das viel zu große Sweatshirt kroch, aber das Auflegen seiner Hand schien Wunder bewirkt zu haben. Die Fireblade schoss nach vorn und Rebecca presste sich fest an ihn.