Читать книгу Blutengel: Aaron - Kim Landers - Страница 5

Prolog

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Es gab für sie kein Entrinnen. In ihrem Hirn spielte sie alle Varianten einer möglichen Flucht durch und kam zu einem niederschmetternden Ergebnis. Wenn sein heißer Atem in sie drang, würde es mit ihr vorbei sein. Sie konnte sich keine schlimmere Art zu sterben vorstellen. In Panik krallten sich ihre Fingernägel in die Tapete.

Der Tag war gemächlich verlaufen, wie immer, bis es vorhin an der Tür geklingelt hatte. In der Annahme, es wäre ihr Mann, der den Schlüssel vergessen hatte, war sie aufgestanden, um zu öffnen. Im nächsten Moment war sie vor Entsetzen zurückgewichen, als sie dem gegenüberstand, den alle nur den «Roten» nannten. Der, der aus dem Feuer geboren worden war.

All die Jahre hatte sie sich in Sicherheit gewähnt, war von Ort zu Ort gezogen und hatte immer wieder ihren Namen gewechselt. Dennoch hatte er sie aufgespürt. Jemand hatte sie verraten.

Sie musste den Kopf weit in den Nacken legen, um zu ihm aufzusehen. Seine Augen schimmerten wie glattpolierter Obsidian und betrachteten sie ohne Mitleid. Grob stieß er sie beiseite und trat ein. Sein schulterlanges Haar glänzte im Lampenlicht wie gesponnenes Gold. Sein schmales Gesicht mit den feinen Zügen und den hohen Wangenknochen, das mit jeder Madonnenstatue konkurrieren konnte, täuschte über seine schwarze Seele hinweg.

Er kannte weder Gnade noch Mitleid.

Langsam wich Carmen zurück. Furcht kroch ihren Nacken hinauf und drückte ihr die Kehle zu. Sein hämisches Grinsen verriet, wie sehr er ihre Angst genoss.

«Hast du wirklich geglaubt, ich würde dich nicht finden?», erklang seine Bassstimme.

Für ihn war sie eine Hure, deren Ende er vor langer Zeit besiegelt hatte. Carmen stieß mit dem Rücken gegen die Wand. Sie hatte gewusst, dass dieser Tag kommen würde, und sich immer davor gefürchtet. Doch viel zu schnell war er eingetroffen.

Eine Tür knarrte im Obergeschoss. Die Kinder! Sie schliefen in ihren Zimmern. Denk nicht an sie, sonst bringst du sie in Gefahr!

Mit keinem Deut verriet seine Miene, ob er ihre Gedanken gelesen hatte. Sie starrte auf den Sekundenzeiger der Uhr an der gegenüberliegenden Wand, der im gleichmäßigen Tempo Strich für Strich um die eigene Achse wanderte. Mit jedem leisen Klacken näherte sie sich dem Tod. Ihr wurde übel. Die Hoffnung, ihm zu entkommen, sank mit jedem Atemzug. Keiner würde ihr helfen. Sie war eine Vergessene.

«Wo ist mein Kind?»

Seine Stimme ließ ihren Brustkorb vibrieren. Er beugte sich weit zu ihr herab und stützte sich mit der Hand neben ihrem Kopf ab. Sein heißer Atem brannte auf ihrer Haut. Ihr Herz hämmerte im Schädel. Wie hatte sie nur hoffen können, er würde sie vergessen! Jetzt verlangte er Antworten, bevor er sie in den Tod schickte. Antworten, die sie ihm nicht geben konnte, weil sie sie nicht kannte.

Ihr Blick fiel auf seine Handgelenke, in die sich die Ketten der Gefangenschaft über die Jahrhunderte hinweg eingegraben hatten. Wulstige Narben zogen sich über seine bloßen Arme. Wie mochte es ihm nur gelungen sein auszubrechen?

«Ich … ich weiß es … doch nicht», stotterte sie und presste ihre feuchten Hände an die Jeans.

Selbst wenn sie es gewusst hätte, wäre sie eher gestorben, als es ihm zu sagen. Sie hatte geschworen für immer zu schweigen. Er schnaubte vor Zorn und bleckte die Zähne. Hinter seinem Rücken breiteten sich seine Schwingen aus, die bis zur Decke reichten. Die Federn seiner Flügel waren schwarz. Nur ein weißer Rand zeichnete sich unten ab, ein Relikt seiner wahren Herkunft, bevor er sich auf die andere Seite geschlagen hatte. Luzifers Seite.

«Du wagst es, mich anzulügen?»

Carmen fröstelte unter seinem Blick. Die Angst um ihre Kinder, die oben in ihren Betten schliefen, schnürte ihr die Kehle zu. Er durfte ihnen nichts tun!

«Zu spät. Du hast gerade deine Bälger verraten.»

Er lächelte triumphierend, und Carmen erstarrte.

«Oh nein, bitte hab Erbarmen», flehte sie, obwohl sie wusste, dass es zwecklos war.

«Erbarmen? Meine Geduld ist am Ende. Entweder du sagst mir, wo mein Kind ist, oder deine werden sterben!» Seine Stimme klang wie ein tiefes Grollen.

«Nein! Bitte, das kannst du nicht tun. Sie sind unschuldig!»

«Mummy? Mummy?», rief eine Kinderstimme durch den Flur. Eine eiskalte Hand griff nach Carmens Herz und drückte es zusammen.

«Ich kenne den Ort nicht. Bitte glaub mir doch.» Sie sank auf die Knie und presste die Hände gegen ihre heißen Wangen. «Töte mich, aber verschone meine Kinder!»

Sein Grinsen wurde breiter. «Wie rührend. Wärest du denn um deinen geflügelten Sprössling auch so besorgt?»

Carmen schluckte, seine Worte rissen alten Wunden auf. Sie vermisste ihren Ältesten, für den das Schicksal einen anderen Weg bestimmt hatte.

«Bei meiner Seele, Madre de dios, ich schwöre, ich nicht weiß nichts!»

Die Miene des Roten verdüsterte sich. «Ich habe jetzt genug von deinen Lügen!»

Carmen überlief es abwechselnd heiß und kalt. Nur zu gut erinnerte sie sich daran, wie sie der blonden Frau damals zur Flucht verholfen und sie in der dunkelsten Ecke eines Eisenbahnwaggons versteckt hatte. Es war die Verzweiflung in ihrem Blick gewesen, die Carmen überzeugt hatte, ihr zu helfen. Nach der gelungenen Flucht war der Rote plötzlich im Viertel aufgetaucht und hatte nach der Geflohenen gefragt, bis er vor ihrer Tür stand. Sie hatte abgestritten, die Frau je gesehen zu haben.

«Stirb», raunte er und öffnete seinen Mund.

Flammen schlugen ihr entgegen und verbrannten ihren Hals. Der Schmerz überwältigte sie, sodass sie wimmernd zu Boden sank. «Ich weiß … es … nicht. Ich … weiß es wirklich … nicht», krächzte sie und krümmte sich vor seinen Füßen.

Verzweifelt sah sie zu ihm auf. Als sie seinem Blick begegnete, spürte sie einen stechenden Schmerz in den Augen, der tief in ihren Kopf drang und sich rasch in ihrem Körper ausbreitete.

Sie hätte ihm niemals in die Augen blicken dürfen. Carmen bereute ihren Fehler bitter, denn schon floss das Blut wie heißes Öl durch ihre Adern. Ihre Haut platzte auf und das Blut schoss heraus. An der Luft entzündete es sich wie Gas. Es fraß ihre Haut und das Fleisch von den Knochen, fraß sich weiter durch ihre Eingeweide. Sie wand sich schmerzverzerrt und brüllte wie ein Tier.

«Keiner bleibt ungestraft, der sich gegen mich stellt», hörte sie ihn sagen.

Doch der Schmerz vernebelte ihr Hirn, jeglicher Widerstand brach zusammen und sie ergab sich der Qual. Sie sah ihr Leben in rasenden Sequenzen vor ihren Augen vorüberziehen, und irgendwann spürte sie den Schmerz nicht mehr. Mit dem letzten verzweifelten Gedanken an ihre Kinder, die sie nicht hatte retten können, verlor sie die Besinnung.

Blutengel: Aaron

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