Читать книгу Blutengel: Aaron - Kim Landers - Страница 13

8.

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Als Aaron ins Engelsghetto zurückkehrte, wurde er von Joel erwartet, der ihn mit ungewohnt ernster Miene empfing. «Mensch, Aaron, wo hast du die ganze Zeit gesteckt? Ham hat versucht, dich zu erreichen.»

«Ein anderes Mal. Was ist denn los?»

«Cynthia will heute Nacht zu irgendeinem Treffen gehen. Auf der anderen Seite des Hudson Rivers. Mir ist nicht wohl dabei.» Joel wirkte sehr besorgt.

«Ein Nephilim-Treffen?» Auch Aaron verspürte plötzlich ein ungutes Gefühl. Cynthia war bisher nie zu einer dieser Versammlungen gegangen.

«Ham meinte, dass es kein gewöhnliches Treffen sei, sondern diese Sekte dabei wäre. Ich wollte mir das ansehen.»

«Ich bin dabei», antwortete Aaron sofort und war froh, dass Joel auf ihn gewartet hatte.

Die dunklen Schwingungen, die er oft wahrnahm, verrieten die Bedrohung durch finstere Mächte. Die Geschehnisse mit Rebecca hatten ihn sensibilisiert.

Eine dunkle Ahnung stieg in ihm auf. «Meinst du, das könnte ein Treffen der Apokalyptiker sein?»

«Vielleicht.»

Aaron knurrte wütend. Diese Satanssekte war wirklich wie die Pest. Allen voran ihr Anführer, der Verkünder. Erst Rebecca, und nun schwebte vielleicht auch Cynthia in Gefahr. Nicht auszudenken, wenn sie mit ihnen sympathisierte. Dann schwebten auch die Nephilim im Engelsghetto in Gefahr. Vielleicht würde er bei der Versammlung auch etwas über die Hintergründe von Rebeccas Entführung erfahren.

Aaron lieh sich kurzerhand den Wagen eines Gastes der Hell’s Bar, damit Cynthia keinen Verdacht schöpfte, wenn sie ihr folgten, und bestückte den Kofferraum mit Waffen. Während er den Hartschalenkoffer mit den Schwertern verstaute, galten seine Grübeleien ihr.

Seit der Trennung von Jacob war Cynthia stiller, mürrischer geworden. Immer öfter verließ die Prophetin das Engelsghetto. Ihren Job hinterm Tresen übernahmen während ihrer Abwesenheit irgendwelche Aushilfskräfte, die mehr schlecht als recht bedienten. Früher hätte Cynthia die Bar nur im Notfall anderen überlassen, weil sie jedem misstraute und niemand es ihr recht machen konnte.

Daniel vermutete, ein neuer Freund könnte dahinterstecken. Aber müsste sie dann nicht vor Glück strahlen, anstatt von Tag zu Tag mürrischer zu werden? Irgendetwas war faul. Neulich hatte Joel sie gefragt, ob sie Kummer hätte. Sie hatte nur abgewinkt und gemeint, es ginge keinen etwas an.

«Und wenn sie wieder Kontakt zu ihrem Vater hat?»

Cynthia hasste ihren Vater, jedenfalls hatte sie das gesagt. Alles nur Lüge?

«Wie kommst du darauf?», fragte er Joel. Aaron brauchte Beweise.

«Ich habe zufällig ein Telefonat belauscht. Die Tür zum Büro hinter der Bar stand offen. Eigentlich wollte ich ihr im Vorbeigehen nur Hallo zurufen, aber das Geflüster machte mich neugierig. Ich hörte so was wie Höllenfackel, Versammlung, Apokalypse. Ich dachte gleich an die Apokalyptiker und an diesen Verkünder.»

Aaron erinnerte sich daran, dass die Engel den Propheten zuerst nicht ernst genommen hatten, als er noch überall in New York Flugblätter verteilt hatte. Sie hatten geglaubt, er wäre ein harmloser Wichtigtuer. Doch die Anzahl der zu Luzifer überlaufenden Nephilim vervielfachte sich rasch und der Einfluss der Sekte wuchs mit jedem Tag.

Das Treffen der Nephilim fand in einem verlassenen Haus in New Jersey statt, am Rand des Hudson Rivers auf dem brachliegenden Colgate-Fabrikgelände.

Aaron und Joel folgten Cynthias Wagen und parkten selbst in einer Seitenstraße. Nachdem sie ausgestiegen waren, standen sie vor dem digital verschlossenen Koffer, in den Aaron nun eine Zahlenkombination eintippte. Als der Deckel aufsprang, glänzten die Klingen der Engelsschwerter und Shuriken in der Kofferraumbeleuchtung. Er zog ein Schwert heraus und überreichte es Joel. Der steckte es in die Scheide zwischen seinen Schulterblättern. Joel wollte schon losgehen, da stoppte Aaron ihn.

«Hey, jeder würde sofort die Schwerter sehen.» Er zeigte mit dem Finger auf die Waffe, deren Enden über und unter der Jacke herausragten. «Ich habe für solche Fälle vorgesorgt.»

Joel hob fragen die Augenbrauen, während Aaron eine der Türen öffnete. Er zog zwei Kleidungsstücke aus Leder vom Rücksitz. Joels skeptische Miene brachte ihn zum Grinsen. Der Blutengel konnte Leder nicht ausstehen.

«Stell dir einfach vor, das ist Büffelleder und du bist Buffalo Bill», feixte Aaron und spielte auf Joels Westernvorliebe an.

«Ha, ha. Terminator wäre mir lieber», antwortete Joel trocken. «Hasta la vista, Baby.»

Er zielte mit dem Finger auf Aaron, während er mit den Lippen einen Schuss imitierte.

«Hey, krieg dich wieder ein, Kindskopf. Hier, zieh Nathans an.»

Joel streifte sich den Ledermantel über und band sein offenes Haar mit einem Gummiband zum Zopf zusammen. Zum Schluss stellte er den Kragen auf, der so den Schwertknauf verdeckte. Auch Aaron zog sich seinen Mantel an und verstaute noch zwei Shuriken in der Innentasche, bevor er Koffer und Kofferraum wieder schloss.

Joel lief bereits voran, während Aaron sich darauf konzentrierte, seine Gedanken vor Cynthia abzuschotten. Ausgerechnet jetzt piepte sein Handy. Er zog es aus der Hosentasche und sah, dass Joel ihm die SMS geschickt hatte. Cynthia hatte das Haus bereits betreten.

Aaron kletterte die Hauswand hoch, um über die Dächer schneller ans Ziel zu gelangen. Als er die Colgate-Clock vor sich sah, glitt er hinab und huschte an der Lagerhalle vorbei zu einem weiteren Gebäude, unter dessen Traufe Joel auf ihn wartete. Zu seiner Erleichterung war der Hof verwaist und stockdunkel, nur durch die Ritzen der mit Brettern vernagelten Fenster fiel Licht.

Gemeinsam beobachteten sie mehrere Nephilim, die zum Haus eilten. Immer wieder fiel der Name Luzifer. Cynthia konnte intrigant sein, wenn sie ihren Willen durchsetzen wollte, aber würde sie so weit gehen, sich für ihre Ziele mit dem Höllenfürsten zu verbünden? Aaron hielt die Luft an. Er musste ins Haus, um sich Klarheit zu verschaffen.

Joel hielt ihn am Arm zurück. «Was hast du vor?»

«Ich gehe da rein.»

«Wir gehen da rein, okay?» Joel trat neben ihn.

Gefahr gehörte zu Aarons Leben, doch dieses Mal spürte er sie besonders intensiv. Lautlos überquerten sie den Fabrikhof, nachdem sie sich vergewissert hatten, dass sie niemand beobachtete. Das Haus roch selbst jetzt noch intensiv nach den Parfümstoffen der Seifenprodukte.

Aaron rümpfte die Nase. «Das riecht schlimmer als dein Aftershave, Joel», stichelte er.

Joel zog eine Grimasse. Aaron zuckte zusammen, als das Engelzeichen unerwartet an seinem Hals schmerzte. Er rieb mit der Hand darüber, was es noch verschlimmerte, wie damals, als seine Mutter und seine Stiefgeschwister umgekommen waren. Es war, als würde es ihn warnen. Befand sich unter den Anwesenden die Brut des Mörders?

Nur sein Wunsch nach Vergeltung hatte ihn den Schmerz und die Trauer all die Jahre ertragen lassen. Es würde ihm Genugtuung bereiten, Seraphiel einen Schlag zu versetzen, wenn er seinen Nephilim tötete. Das leise Quietschen der Tür ließ ihn zusammenzucken. Sie lauschten. Nichts regte sich. Joel stieß die Tür weiter auf und sie zogen die Kapuzen über den Kopf.

Nun standen sie in einer quadratischen Halle, deren Marmorfußboden an vielen Stellen herausgeschlagen worden war. Mit jedem Schritt wirbelten sie Staub auf. Es stank nach Urin. Obdachlose verbrachten hier drinnen oft die kalten Nächte. Zahlreiche leere Schnapsflaschen lagen verstreut um die Feuerstelle inmitten der Halle. Gedämpfte Stimmen klangen durch die doppelflügelige Tür auf der anderen Seite.

«Los», raunte Aaron Joel zu und bedeutete ihm mit einer Kopfbewegung, auch die nächste Tür zu öffnen.

Seine Ungeduld wuchs. Sie schlüpften hinein und verharrten hinter der letzten Zuhörerreihe. Die Luft war stickig. Alle Blicke richteten sich nach vorn. Die Bühne bestand aus mehreren zusammengeschobenen Tischen, über denen ein Läufer ausgerollt worden war.

In der Mitte stand Cynthia mit ernster Miene. Kerzen flackerten unruhig in Kandelabern zu beiden Seiten hinter ihr. Die Prophetin hielt ihren Kopf wie immer schräg, damit ihr Haar die Narben im Gesicht verdeckte. Jemand reichte ihr ein Mikrofon, das sie ablehnte.

Aarons Blick schweifte über die Köpfe der Anwesenden und die dunkle Energie schwappte zu ihm herüber. Alle waren Nephilim.

«Ich bin heute Abend gekommen, um euch die Augen zu öffnen», begann Cynthia mit klarer, fester Stimme. «Ihr glaubt, ihr könnt euch befreien, indem ihr euch Luzifer anschließt? Das ist ein Irrtum. Sein Feuer wird euch verzehren. Doch noch ist nicht alles verloren, ihr könnt eure Seelen retten!», rief sie und streckte den Arm vor. «Deine und deine und auch deine!» Sie zeigte mit dem Finger auf die Zuhörer in der ersten Reihe. «Eure Nephilim-Seelen. Wie ich.»

Sie hielt inne und senkte den Blick, als meditiere sie. Es herrschte eine gespannte Stille. Aaron spürte das Misstrauen der Anwesenden. Ruckartig hob Cynthia den Kopf und ihre Augen leuchteten in sanftem Gold.

«Ich bin Azazeels Tochter, ein Engelbastard wie ihr. Unsere Väter haben sich einst nach der Rebellion gegen das Licht entschieden. Auch wir müssen unseren Weg bestimmen. Jetzt, heute, morgen. Doch die Finsternis zieht euch ins Verderben. Wehrt euch!»

Cynthia ereiferte sich. Aus jedem ihrer Worte sprach Überzeugung. Was hatte diesen Sinneswandel bei ihr ausgelöst? Das war nicht mehr die Frau, mit der Aaron unter einem Dach im Engelsghetto lebte. Ihr Gesicht war starr und blass. Ihr Auftritt ließ ihn genauso wenig kalt wie die anderen, in deren Mienen Abscheu und Erstaunen zugleich lagen. Im selben Moment wurde ihm bewusst, wie sehr die Prophetin gegen ihr dunkles Erbe kämpfte.

Ein Raunen ging durch die Zuhörerreihen. Cynthias Lippen umspielte ein zufriedenes Lächeln, als glaubte sie, ihre Worte wären auf fruchtbaren Boden gefallen. Aaron hingegen bezweifelte das Ergebnis ihres Appells, auch wenn es ihr mit der emotionalen Rede gelungen war, die Aufmerksamkeit aller zu gewinnen.

Es war jedoch eine einzige Provokation Luzifers, mit der sie sich auf gefährliches Terrain begab. Worte, die der Höllenfürst nicht ungesühnt lassen würde. Er würde nichts unversucht lassen, auch Cynthia für sich zu gewinnen.

Ein schmächtiger Mann in grauem Anzug, der etwa Ende zwanzig war, trat an die Bühne, drehte sich zu den Zuhörern um und räusperte sich. Sein Auftreten wirkte selbstbewusst, seine Gesten waren bedächtig, wie Aaron es oft bei Klerikern gesehen hatte. Sein blondes, straff zurückgekämmtes Haar glänzte im Licht, was seine markanten Gesichtszüge gut zur Geltung brachte. Sein Blick war durchdringend und bezwingend. Er faltete die Hände und setzte eine ernste Miene auf.

«Der Verkünder!», rief einer voller Ehrfurcht aus und zeigte mit dem Finger auf ihn.

Ein Raunen ging durch die Menge. «Der Verkünder. Ja, der Verkünder», klang es von allen Seiten.

Aaron fühlte Wut in sich aufsteigen. Sofort fürchtete er um Cynthia und war froh, ihr hierher gefolgt zu sein. Er kannte die Prophetin gut genug, um aus ihrem Blick Ungläubigkeit und Entsetzen zu lesen, selbst wenn sie äußerlich gefasst wirkte.

Das Erscheinen des Verkünders versetzte auch Joel in Alarmbereitschaft, in dessen Augen es wütend aufblitzte. Sobald die Situation eskalierte, mussten sie eingreifen. Aarons Engelzeichen brannte wieder, noch stärker wie zuvor, als wollte es ihn an die Vergangenheit erinnern. Sein Wunsch nach Vergeltung wuchs mit jedem Atemzug. Seine Sinne tasteten den Raum ab. Der Verkünder musste Seraphiels Bastard sein.

Aarons Hand zitterte, und er wollte nach dem Schwert greifen, aber Joel fasste seinen Arm und schüttelte den Kopf. «Noch nicht. Cynthia steht zu dicht neben ihm und wir sind zu weit entfernt», schickte ihm der Freund die mentale Botschaft. Aaron ließ den Arm wieder sinken.

«Meine Brüder», sagte der Verkünder, «ihr werdet doch dieser Prophetin nicht glauben?»

Er schüttelte den Kopf, ein boshaftes Lächeln umspielte seine Lippen. Cynthia stemmte die Hände in die Hüften und sah den Redner herausfordernd an.

«Hat mein Herr euch nicht reichlich beschenkt?», wollte der Verkünder wissen.

Wieder folgte ein Raunen. Aaron fragte sich, mit welchen Versprechungen er die Nephilim köderte.

«Erinnert ihr euch noch an die letzte Prophetin? Sie hat euch mit ihren angeblichen Prophezeiungen in den Tod geschickt. Habt ihr das vergessen?» Seine Stimme wurde mit jedem Wort lauter. Er zeigte auf Cynthia.

Aaron spürte ihre wachsende Anspannung.

«Der Verkünder hat Recht. Was erzählst du uns da, Prophetin? Das sind doch auch alles nur wieder Lügen, die wir mit dem Tod bezahlen! Oder hast du die Brände vergessen, das Feuer, das viele von uns tötete?»

Einer der Zuhörer trat vor und hob drohend die Faust. Der Verkünder lächelte triumphierend.

«Was in der Vergangenheit gewesen ist, kann ich nicht ungeschehen machen. Meine Seele möge verdammt sein, wenn ich euch anlüge!», rief Cynthia und legte ihre rechte Hand auf die Brust.

Doch dem Verkünder war es längst gelungen, die Gemüter aufzuwiegeln. «Lügnerin!» Die wütenden Stimmen wurden immer lauter.

«Bitte, so hört mir doch zu!», versuchte Cynthia vergeblich die lauter werdenden Stimmen zu übertönen.

Aaron spürte die wachsende Aggression unter den Anwesenden und befürchtete das Schlimmste. Er und Joel schoben sich durch die Reihen der Nephilim vor, bereit die Schwerter zu ziehen.

Cynthia streckte die Arme nach vorn, um ihre Zuhörer zu beschwichtigen. «Bitte, vertraut mir! Ich spreche die Wahrheit! Kehrt um, bevor es zu spät ist!»

Im selben Augenblick sprang der Verkünder zu ihr auf die Bühne, riss an ihren Haaren und entblößte die Narbe, die ihre linke Gesichtshälfte entstellte. «Seht her! Sie ist eine Geächtete! Wollt ihr einer Geächteten glauben?», schrie er.

Die anwesenden Nephilim erkannten sofort, dass die Narbe von Engelsfeuer stammte. Nur Verräter wurden so gebrandmarkt. Aaron kannte Cynthias Geschichte. Sie hatte ihren Vater an den Erzengel Gabriel verraten, um ihr eigenes Leben zu retten. Das war der größte Frevel, den ein Nephilim begehen konnte. Für ihren Verrat war sie gezeichnet worden.

«Ja, sie ist eine Geächtete! Wir können ihr nicht glauben!», schrie einer und deutete auf ihr Gesicht.

Aaron winkte Joel zu. Sie mussten Cynthia so schnell wie möglich aus diesem Hexenkessel herausholen, bevor sich die aufgebrachte Meute auf sie stürzte. Sie traten zurück und zogen lautlos ihre Schwerter aus den Scheiden. Die Klingen blitzten im Halbdunkel auf, aber das ging im Tumult völlig unter.

«Ergreift die Lügnerin!»

Der Verkünder verschwand im Mob. Aaron stieß einen Fluch aus. Einerseits wollte er dem falschen Propheten hinterher setzen, andererseits befand sich Cynthias Leben in Gefahr. Die Entscheidung wurde ihm im nächsten Moment abgenommen, als ein Bulle von Kerl an die Bühne trat und Cynthia gewaltsam herunterzerren wollte. Wie Raubtiere lauerten die Nephilim davor, bereit sich auf ihr Opfer zu stürzen.

Cynthia schlug und trat um sich, bis sie sich schließlich befreien konnte. «Hört auf! Ich bin keine Lügnerin!», verteidigte sie sich. «Ich habe in meinen Visionen gesehen, was Luzifer mit euch vorhat. Ihr alle werdet seine Höllenfackeln.»

Ihre letzten Worte gingen in den Rufen unter. Cynthias Brustkorb hob und senkte sich in schnellem Rhythmus. Sie drehte sich um und wollte fortlaufen, doch der bullige Kerl vor der Bühne packte sie an den Beinen und brachte sie zu Fall. Aber es gelang ihr, sich erneut seinem Griff zu entwinden und aufzurappeln.

Das Brennen an Aarons Hals wurde unerträglich, während er sich vorankämpfte. Der Mantelkragen rieb zusätzlich daran. Er spürte das Vibrieren seines Schwertes in der Hand. Die Stimmung stand kurz vor der Explosion. Schon ging die wild gewordene Horde aufeinander los. Aarons Blick suchte nach Cynthia, die in Panik nach rechts ausbrach, um vor dem Mann zu fliehen.

«Ich hole sie da raus. Sichere den Ausgang, ich will diesen Verkünder haben. Niemand darf raus», wies er Joel an, der sich sofort umdrehte.

Aaron bahnte sich weiter seinen Weg durch die tobende Menge. Cynthias Verfolger packte ihren Arm. Sie wehrte sich. Aaron blieb keine Zeit, seine Flügel zu entfalten, sondern er sprintete nach vorn. Mit dem Schwert in der Hand katapultierte er sich in die Luft, sprang auf die Bühne und landete direkt hinter Cynthias Widersacher, dessen Hände sich gerade um die Kehle der Prophetin legten.

Cynthias Augen quollen aus den Höhlen. Sie stemmte die Hände gegen die breite Brust ihres Peinigers. Ohne zu zögern, holte Aaron mit dem Schwert aus und hieb es in die Halsschlagader des Nephilims. In hohem Bogen schoss das Blut aus der Wunde und besudelte seinen Mantel. Mit einem erstickten Schrei kippte der bullige Kerl zur Seite und riss Cynthia mit zu Boden. Die Prophetin schrie auf, als sie auf den Tisch knallten.

«Komm!»

Aaron griff nach ihrer Hand, um sie mit sich zu ziehen. Doch sie wehrte sich und setzte zum Sprung von der Bühne an. Im selben Moment flog ein Geschoss, das einen flammenden Schweif hinter sich herzog, dicht an Aarons Kopf vorbei und bohrte sich in die Brust der Prophetin.

«Nein!»

Aarons Schrei ging in der Geräuschkulisse unter. Cynthias Knie knickten ein, sie sank auf die Bühne. Mit einem Satz war Aaron an ihrer Seite. Ein flammendes Kurzschwert steckte in ihrer Brust, wie es nur Gefallene benutzten. Sein Kopf ruckte zur Eingangstür, von der aus es jemand geworfen haben musste.

Wo, verdammt noch mal steckte Joel, der die Tür bewachen sollte? Dann sah er ihn und ihm gegenüber drei Gefallene mit ausgebreiteten Schwingen. Sofort erkannte Aaron Cynthias Vater wieder. Der Gefallene neben ihm war Luzifer höchstpersönlich. Die strahlenden Corona des Lichtbringers erhellte den Raum.

Aaron blieb keine Zeit, über das Erscheinen Luzifers nachzugrübeln, denn die Prophetin lag schwer verletzt in einer Blutlache zu seinen Füßen. Ihr Brustkorb hob und senkte sich in schnellem Rhythmus. Die Waffe in ihrer Brust glomm noch immer. Aaron steckte sein Schwert zurück in die Scheide und hob sie auf die Arme. Er rannte zu einer Seitentür. Sofort nahm Azazeel die Verfolgung auf.

Aaron verfluchte, jetzt seine Flügel nicht entfalten zu können. Joel und er allein hatten gegen Luzifer und zwei seines Gefolges sowie der aufgebrachten Meute Nephilim keine Chance. Nun hieß es nur noch entkommen. Und dieser verfluchte Verkünder ging ihnen auch noch durch die Lappen.

Wenn er Cynthia retten wollte, musste er sie ins Engelsghetto schaffen. Aaron erreichte die Seitentür und wollte sie öffnen, aber Azazeel hatte ihn eingeholt. Cynthia schrie auf und ihre Augen weiteten sich vor Entsetzen.

«Sie entkommt mir nicht. Dieses Mal wird sie für ihre Taten büßen.»

Ein gehässiges Lächeln kräuselte die schmalen Lippen des Gefallenen. Mit Cynthia auf den Armen konnte Aaron unmöglich gegen Azazeel kämpfen.

«Lass mich runter, damit du ihn vernichten kannst», flüsterte Cynthia und sah zu ihm auf. Aaron nickte. Stöhnend sank die Prophetin zu Boden. «Vernichte ihn, Aaron», flüsterte sie, während er das Schwert aus der Scheide zog und es gegen den Gefallenen schwang.

«Du willst den Kampf, Azazeel? Den kannst du haben.»

«Ich kann es kaum erwarten, Blutengel!»

Sein dröhnendes Lachen ließ Cynthia aufschreien. Die Schwertklingen schlugen klirrend gegeneinander. Aaron verfolgte jede Bewegung seines Gegners. Aus dem Augenwinkel bemerkte er, dass Joel noch immer gegen den anderen Gefallenen kämpfte, während Luzifer einen Nephilim nach dem anderen mit seinem Feueratem niederstreckte und dann deren Seelen einatmete.

Die verängstigten Nephilim hämmerten mit den Fäusten gegen die Eingangstür. Aaron zuckte bei ihren Todesschreien zusammen. Sie verbrannten am lebendigen Leib. Selbst wenn er Azazeel besiegte und Joel seinen Gegner – dem mächtigen Luzifer waren sie kaum gewachsen.

Aaron wich geschickt einem Hieb Azazeels aus und die Klinge seines Gegners zerstörte das Türblatt hinter ihm. Cynthia schob sich zur Seite und hielt schützend einen Arm über den Kopf. Aaron bewegte sich seitwärts, um Azazeel so von seiner Tochter fortzulocken. Die Luft roch nach Blut und verbranntem Fleisch.

Aaron rang die aufsteigende Übelkeit nieder. Das Sterben um ihn herum ließ ihn vor Wut rasen. Er unterdrückte den Schmerz in seinen verkrampften Muskeln. Immer weiter drängte er den Gefallenen zurück, traf ihn an Schulter und Armen und biss die Zähne zusammen, als auch er von Azazeel am Unterarm getroffen wurde. Blut sickerte aus der Wunde und lief an seinem Arm hinab.

Plötzlich hörte Aaron hinter sich einen Knall. Die Eingangstür flog aus den Angeln und sein Vater Uriel erschien in Begleitung der drei anderen Erzengel. Nichts erschien Aaron in diesem Augenblick vollkommener und erlösender als ihre weißen Schwingen. Die Klingen der Flammenschwerter reflektierten das Licht und sandten Strahlen durch den Raum. Als die überlebenden Nephilim die Engel erkannten, rannten sie ihnen entgegen, warfen sich vor ihnen auf den Boden und flehten um Gnade.

Michael und Gabriel forderten Luzifer zum Kampf, während Raphael seinem Sohn Joel zu Hilfe eilte. «Bring die Prophetin in Sicherheit! Sie ist unsere Hoffnung. Lauf, bevor Luzifers Garde eintrifft!», erreichte ihn die mentale Botschaft seines Vaters.

Uriel stürzte sich auf Azazeel und übernahm Aarons Part. Doch Aaron zögerte, es widerstrebte ihm, seinen Vater und die anderen zurückzulassen. «Nun mach schon!», donnerte Uriel und Aaron löste sich aus der Starre.

Als er Cynthia erreicht hatte, brach der Fußboden auf. Flammen schossen aus den Spalten empor und die Nephilim stoben kreischend auseinander. Ein Tor zur Hölle hatte sich soeben geöffnet. Gefallene und Dämonen eilten ihrem dunklen Gebieter zu Hilfe.

Vorsichtig hob Aaron Cynthia auf und eilte mir ihr beschützt von Michael in die Nacht. Ihr Kopf ruhte an seiner Schulter. Sie sah zu ihm auf und röchelte. Blut rann aus ihrem Mundwinkel und ihre Lippen zitterten. «Aaron?», flüsterte sie.

«Du darfst jetzt nicht sprechen, Cyn. Ich bringe dich in Sicherheit.» Er rannte mit ihr über den Fabrikhof zum eisernen Tor.

«Du … musst … mir … zuhören.» Ihre Finger krallten sich in seinen Oberarm.

«Später.»

«Nein, jetzt … mir bleibt … keine Zeit.» Ihre Stimme wurde kraftloser.

«Also gut», gab er nach.

«Hüte dich … vor dem Sohn … des Lichts. Seine Seele … ist …verdammt und er … sucht …seinen Nephilim … der ihn …» Plötzlich rollte sie mit den Augen und ihr Kopf sank an seine Brust.

Aaron schüttelte sie leicht. «Cyn? Was meinst du damit?» Aber er erhielt keine Antwort. Die Prophetin war wieder ohnmächtig geworden.

Zuerst wollte Aaron zum Wagen zurückrennen, doch mit ihm würde er nicht schnell genug vorankommen. Im Ghetto lebte seit Kurzem der Heiler Ham. Er war ihre letzte Chance!

Aaron kletterte aufs Dach der Fabrikhalle. Er legte Cynthia vorsichtig ab. Ihr Herzschlag war kaum zu spüren, obwohl die Waffe in ihrem Körper nicht mehr glomm. Hastig zog er den Mantel aus und warf ihn achtlos beiseite. Dann beugte er sich vor und konzentrierte sich auf seinen Rücken. Es fiel ihm schwer. Seine Sorge um Cynthia und der ungewisse Ausgang des noch herrschenden Kampfes bedrückten ihn.

Aaron schloss die Augen und atmete in tiefen Zügen ein. Er spürte weder den eisigen Wind, der durch seine Kleidung fuhr, noch die Wunde am Arm. Umso mehr aber die Schwingen, die in rasantem Tempo aus seinem Rücken wuchsen. Die Haut spannte schmerzhaft über den Spitzen. Immer wieder überraschte ihn die Kraft und Geschwindigkeit, mit der sie durchbrachen.

Er biss die Zähne zusammen und stöhnte vor Schmerz. Seine Haut war zum Zerreißen gespannt, bis sie dem inneren Druck nachgab und sich die Flügel ihren Weg nach draußen bahnten. Die Spitzen seiner schwarzen Schwingen schoben sich aus dem Körper und durchstießen sein Sweatshirt. Es brauchte eine Minute, bis sein Körper das Blut in die Flügel gepumpt hatte und sie kräftig genug waren, ihn in die Luft zu heben. Er breitete seine Schwingen aus, hob Cynthia auf die Arme und flog mit ihr in den Nachthimmel davon.

Sie zitterte in seinen Armen. Er wagte es nicht, sie an seinen Körper zu pressen, weil er befürchtete, das Schwert könnte dann noch tiefer in ihren Leib dringen.

Nach einer gefühlten Ewigkeit hatte er das Engelsghetto erreicht. Doch als er Cynthia durch den Hintereingang in die Bar trug, hörte ihr Herz auf zu schlagen. Ihre Augen starrten ins Leere. In seiner Verzweiflung trat er die Tür auf, warf seine Flügel ab, die sofort zu Asche zerfielen, und schrie nach Ham.

Der Alte kam die Treppe heruntergehumpelt und schaltete das Licht ein. Er brauchte kein Wort zu sagen, das Entsetzen in seinem faltigen Gesicht war unverkennbar. Ham hinkte näher und hielt seine knochige Hand über die Stirn der Prophetin. Seufzend schüttelte er den Kopf.

«Ihre Seele hat uns bereits verlassen. Ich kann ihr den Weg nicht mehr zeigen. Die Hoffnung für die Nephilim ist mit ihrem Tod gestorben.» Er schlug das Kreuz über ihr.

Aaron fühlte sich wie betäubt. Cynthias Körper war noch warm. Eben noch hatte sie auf der Bühne gestanden, lebendig, voller Tatendrang und jetzt lag sie tot in seinen Armen. Was würde aus der Hell’s Bar und dem Engelsghetto nun werden? Cynthia hatte beidem Seele verliehen. Es war sein Zuhause genauso wie das von Joel, Nathanael, Daniel und Ham.

Von einer tiefen Leere erfüllt stand er einen Moment mit der Toten auf seinen Armen da und blickte auf ihr bleiches Gesicht hinab. Ham schloss sanft ihre Augen, dann öffnete der Alte behutsam Aarons Finger, die noch immer Cynthias Körper umklammerten.

«Lass sie los, mein Sohn. Wir können nichts mehr für sie tun. Gleich wird ihr Körper zu Asche und mit dem Atem des Schöpfers fortgetragen werden.»

Seine Worte hallten dumpf in Aaron nach. So erging es allen Nephilim. Nur wenn ein Blutengel starb, entmaterialisierte sich der Körper in goldglitzernden Staub. Aaron fühlte sich für Cynthias Tod verantwortlich. Vielleicht würde sie jetzt noch leben, wenn er nicht gezögert hätte. Es waren nur Sekunden …

«Es ist nicht deine Schuld.»

Hams Hand legte sich auf seine Schulter. Aarons Kehle zog sich zusammen, als er die Leiche vorsichtig auf den Boden legte, damit sie die Reise antreten konnte, die ihnen allen bestimmt war.

Cynthias Haut wurde trocken und brüchig. In Sekundenschnelle verdorrte ihr Körper wie eine Pflanze in der Wüstensonne. Nach wenigen Atemzügen glich sie einer Mumie und zerfiel schließlich zu Asche. Das Kurzschwert, das in ihrem Körper gesteckt hatte, polterte auf den Boden.

Ham hob es auf und steckte es mit einem Seufzen in seine Tasche. Ein Gebet murmelnd zog er mit der Hand über dem Aschehaufen einen imaginären Kreis in der Luft. «Mögen eure Seelen Frieden finden.» Bei diesen Worten hielt er seine Hände so, als wollte er Wasser schöpfen, und die Asche sammelte sich darin.

«Lass es uns vollenden», sagte er und bedeutete Aaron mit einem Nicken, die Tür nach draußen zu öffnen. Der Heiler trat hinaus in die Nacht und hielt die Asche empor. «Wird der Körper auch zu Asche, die Seele folgt der Ewigkeit», sprach er.

Eine leichte Böe wirbelte Cynthias Überreste hoch und trug sie fort. Aarons Blick folgte der Asche, bis sie in der Dunkelheit verschwand. Noch immer glaubte er Cynthia zu spüren, ihre Stimme zu hören und wie sie mit einer Kopfbewegung das Haar über ihre Narben fallen ließ.

«Du bist verletzt, Aaron.»

«Nicht der Rede wert. In einer Stunde ist es verheilt.» Die Wunde schmerzte zwar noch, aber nicht wie zu Beginn. «Was hast du damit gemeint: ‹Mögen eure Seelen Frieden finden›?» Aaron wandte sich zu dem Alten um.

«Cynthia war schwanger.»

Diese Neuigkeit verschlug Aaron die Sprache. Keiner von ihnen schien etwas gemerkt zu haben. Joel und die anderen hätten es ihm gesagt.

«Bist du dir sicher, Ham?»

Der Alte nickte.

«Wer ist der Vater?» Aaron fuhr sich mit der Hand durch sein dichtes Haar. War das der Grund für ihren Gesinnungswandel?

«Ein Nephilim … oder ein Gefallener.»

Ham hatte recht. Das Kind eines Menschen wäre nicht mit ihrem Körper zu Asche zerfallen.

«Ein Kind verändert vieles. Vielleicht hat sie nicht allein für die Nephilim, sondern für ihr Kind gekämpft, für eine bessere Welt, in der es aufwachsen sollte.»

«Umso tragischer erscheint mir ihr Ende.»

Aaron seufzte. Er konnte es noch immer nicht fassen. Zu seiner Trauer gesellte sich auch Wut. Wut auf ihre Mörder, Wut auf Luzifers Schergen und unbändige Wut auf diesen Verkünder. Quietschende Bremsen und eilige Schritte ließen ihn herumfahren.

Es war Joel, der außer Atem um die Ecke bog. «Luzifer ist entkommen», stieß er keuchend hervor.

«Und Azazeel und der andere Gefallene?»

Ein triumphierendes Lächeln erschien auf Joels Gesicht. «Azazeel wurde von deinem Vater vernichtet, der andere von mir.»

Aaron klopfte ihm stolz auf die Schulter. Joel hatte seine Ausbildung als Blutengel erst im vergangenen Jahr abgeschlossen. «Und der Verkünder?», hakte Aaron nach.

Joel zuckte mit den Achseln. «Wir haben ihn aus den Augen verloren.» Joel wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn. «Wo ist Cyn?»

Er blickte über Aarons Schulter zur geöffneten Tür. Die Frage hatte Aaron befürchtet. Es fiel ihm schwer, dem Freund vom Tod der Prophetin zu erzählen. Joel hatte in ihr die große Schwester gesehen. Aaron schwieg betroffen, als er die Sorge im Blick seines Gegenübers erkannte. Er suchte nach den passenden Worten, doch ihm fielen keine ein.

«Sie ist von uns gegangen», antwortete Ham für ihn und deutete mit der Hand zum Himmel.

Joel wich zurück. «Nein», stieß er entsetzt hervor, «Aaron sag, dass das nicht wahr ist. Nicht Cyn. Du hast sie doch gerettet. Ich habe es selbst gesehen.»

Wie gern hätte er Joel widersprochen, aber die Realität machte ihn genauso betroffen. «Nein, Joel, Cyn hat es nicht geschafft. »

«Aaron hat alles getan, um sie zu retten», beteuerte Ham.

Joel nickte, aber der Schmerz in seinen Augen zog Aaron die Kehle zusammen. «Verdammt, wenn ich doch nur was von diesen Versammlungen geahnt hätte.» Joel stieß einen kurzen verzweifelten Schrei aus und hieb die Faust in die Luft.

«Vorwürfe helfen uns nicht weiter. Wir müssen jetzt nach vorne sehen.»

Seine eigenen Worte klangen in Aarons Ohren so abgedroschen. Nur zu gut erinnerte er sich an den Tag, an dem er selbst seine Familie verloren hatte. Er hatte im Schmerz alle fortgestoßen, die ihn trösten wollten. Obwohl Uriel es nie ausgesprochen hatte, spürte Aaron, dass er ihm die Schuld am Tod seiner Mutter gab. Die Wunden waren zwar verheilt, aber vergessen würde er nie.

«Joel, ich weiß, was du jetzt empfindest …»

Er legte dem Freund die Hand auf die Schulter, aber der stieß sie fort.

«Ich frage mich, warum Luzifer dort aufgetaucht ist», sinnierte Ham.

Luzifer hatte die Welt der Menschen seit Jahren gemieden. Das musste einen Grund haben, einen ganz besonderen. Die Seelen der Nephilim hätte er auch leichter bekommen können. Wie auf Kommando brannte erneut sein Engelszeichen am Hals.

«Ist mein Vater noch dort?», fragte er.

Joel schüttelte den Kopf. «Nein, unsere Väter haben die wenigen Überlebenden in Sicherheit gebracht. Ich geh dann mal auf mein Zimmer.»

Joel schlurfte mit hängenden Schultern in die Bar. Auch Ham entschuldigte sich und hinkte hinterher. Aaron musste in Ruhe über das Geschehene nachdenken. Die kühle Luft tat ihm gut. Die Erinnerungen, die er seit Jahren verdrängte, waren schmerzhaft präsent. Cyns Tod musste gerächt werden und der seiner Mutter. Er musste diesen verfluchten Verkünder finden und vernichten, bevor er noch mehr Unheil anrichtete.

Aaron sah auf, als er eine Bewegung über sich wahrnahm. Uriel glitt zu Boden wie eine Feder. Aaron liebte und verehrte seinen Vater, auch wenn der ihm nie verziehen hatte, dass er Rosie gerettet hatte, anstatt das Schwert gegen Seraphiel zu erheben, wie es einem Engelskrieger gebührte. Uriel war ehrgeizig und zog sich oft genug den Zorn der anderen Engel zu. Doch im Kampf gegen Luzifer war der unerschrockene Streiter für das Engelsheer unverzichtbar. Selbst der Höllenfürst fürchtete ihn.

Aaron war stolz auf seinen Vater und versuchte ihm nachzueifern, wo es nur ging. Es war einem Blutengel möglich, in den Kreis der «reinen» Engel aufgenommen zu werden. Ein Reiner zu werden, bedeutete jedoch Verzicht auf alles Irdische.

Jophiel, der erste Blutengel und Sohn Uriels, besaß diese Ambitionen. Im Gegensatz zu Aaron hatte er sich stets dem Willen ihres Vaters gebeugt und allen irdischen Versuchungen widerstanden. Wollte Aaron das auch?

Allein wenn er an Rebecca dachte, konnte er sich nicht dazu durchringen, auf Sex zu verzichten. Alles aufzugeben, was ihm Freude bereitete – gutes Essen, Vergnügungen und attraktive Frauen –, dazu war er nicht bereit, selbst wenn er sich noch so sehr wünschte, dass sein Vater stolz auf ihn wäre. Es versetzte ihm jedes Mal einen Stich, wenn er Jophiel lobte. Uriel trat auf ihn zu. Aaron wusste, weshalb sein Vater zu ihm gekommen war.

«Cynthia ist tot», sagte er.

Sein Vater presste die Kiefer zusammen und sog scharf die Luft ein. «Erst die Erleuchtete und jetzt sie. Welch ein Verlust in der Geschichte unseres Krieges. Und die vielen Seelen, die wir in dieser Nacht an Luzifer verloren haben …»

«Weshalb ist er plötzlich dort aufgetaucht?»

Uriel rieb sich das Kinn. «Cynthias Visionen müssen bedeutsam sein. Hat sie dir irgendetwas darüber erzählt?»

Aaron schüttelte den Kopf. «Nein. Sie hat nie mit mir darüber geredet.»

«Mit wem hat sie sich in letzter Zeit getroffen?»

«Keine Ahnung. Von diesem geheimen Treffen hat Joel auch erst heute erfahren.»

«Prophetinnen sprechen in Rätseln oder Metaphern. Die wichtigsten Prophezeiungen teilen sie nur einem Auserwählten mit. Sie muss etwas angedeutet haben. Etwas, das du vielleicht nicht auf Anhieb verstanden hast.»

Aaron lehnte sich mit dem Rücken an die Mauer und schloss die Augen. Seine Gedanken reisten zu seinen letzten Begegnungen mit Cynthia. Wenn sie miteinander geredet hatten, dann über Alltägliches.

«Aaron, irgendjemandem muss Cynthia sich doch mitgeteilt haben.» Sein Vater stand nun dicht vor ihm und sah ihn eindringlich an.

«Mir ist weder was Ungewöhnliches aufgefallen, noch weiß ich, mit wem sie sich außerhalb des Ghettos getroffen hat. Nur Jacob, und der ist tot.»

«Jeder Hinweis ist wichtig.»

Noch nie hatte er seinen Vater so besorgt erlebt. Die Bedrohung durch Luzifer bestand seit Anbeginn der Zeit und war nichts Neues. Immer wieder war es den Erzengeln gelungen, diese Gefahr abzuwenden. Doch dieses Mal spürte er, dass es um mehr ging, viel mehr.

«Vielleicht wissen wir morgen mehr.»

Uriels Flügel schlugen durch die Luft. Aaron sah die sterbende Cynthia in seinen Armen. Krampfhaft versuchte er sich an ihre letzten Worte zu erinnern.

«Warte, Vater!» Uriels Flügelbewegungen wurden langsamer. «Ich erinnere mich an ihre letzten Worte: Hüte dich vor dem Sohn des Lichts. Seine Seele ist verdammt. Das hat sie gesagt.»

Uriel riss die Augen weit auf. «Bist du dir sicher?», stieß er hervor Aaron verspürte ein beklommenes Gefühl. «Ja, absolut. Sie muss Luzifer damit gemeint haben.»

«Nein, nicht Luzifer. Der Sohn des Lichts wird Seraphiel genannt.»

Aaron erstarrte, als er erneut den verhassten Namen hörte. Die Erinnerungen holten ihn schlagartig ein. Er sah sich wieder in das brennende Haus rennen, um sie zu retten. In seiner Verzweiflung hatte er den Kampf gegen den Feuerengel aufnehmen wollen. Doch als unerfahrener Blutengel hatte er nicht die geringste Chance. Nicht einmal der Gedanke, dass sein ärgster Feind in Ketten liegend die Ewigkeit verbringen musste, versöhnte Aaron.

«Cynthia muss Seraphiel in ihren Visionen gesehen haben.»

«Das wäre durchaus möglich.»

Bei der Vorstellung, Cynthia könnte eine erneute Flucht des Feuerengels vorausgesehen haben, zog sich sein Magen zusammen. Er war bereit, den Kampf gegen seinen Erzfeind aufzunehmen.

«Selbst wenn Seraphiel noch einmal den Gewalten entkommen sollte, dann werde ich es sein, der ihn in die Hölle schickt.» Der unbändige Wunsch nach Rache pulsierte durch seine Adern.

«Das wird nicht mehr geschehen. Carmael und sein Chor wissen, was auf dem Spiel steht.»

Die Überzeugung seines Vaters konnte Aaron jedoch nicht teilen. «Das habt ihr damals auch geglaubt, und doch ist es ihm gelungen», entgegnete er.

Uriels Miene verhärtete sich. Aaron rechnete bereits mit einer harten Zurechtweisung, doch dann entspannten sich die Züge seines Vaters wieder. «Damals war damals. Seraphiel hat einen Nephilim gezeugt. Das stimmt mich viel nachdenklicher. Seine Gaben müssen außergewöhnlich sein. Immerhin war seine Mutter die Erleuchtete. Er kann die Seelen der Verbannten erlösen.»

Wenn er seinen Erzfeind nicht vernichten konnte, dann wenigstens dessen Abkömmling, um die Hoffnung des Feuerengels auf eine Erlösung und seine Rückkehr zu zerschlagen. «Ich muss vorhin die Gegenwart des Nephilims gespürt haben. Es muss der Verkünder sein.»

Uriel hob fragend die Brauen. «Bist du dir sicher?»

«Es würde alles passen. Seine Rolle als Anführer der Apokalyptiker. Dass Luzifer plötzlich aufgetaucht ist …»

«Vernichte ihn. Wenn er die Verbannten erlöst, werden sie alle Luzifer folgen.» Aaron nickte. «Du darfst niemandem von den Geschehnissen heute Nacht erzählen, es würde noch mehr Unruhe und Angst stiften. Auch nicht deiner Stiefschwester. Die Nephilim könnten wegen Luzifers Erscheinen in Panik geraten und ihm ihre Seelen verkaufen.»

«Das ist mir bewusst.»

Uriel legte ihm die Hand auf, dann verschwand der Erzengel ebenso schnell und lautlos, wie er gekommen war.

Blutengel: Aaron

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