Читать книгу Blutengel: Aaron - Kim Landers - Страница 14
9.
ОглавлениеEin Klopfen weckte Rebecca. Sie blinzelte in die einfallende Sonne. Ihre Beule am Hinterkopf pochte dumpf, und ihr Fuß schien ein schmerzender Klumpen zu sein.
Rosie streckte den Kopf herein. «Gut geschlafen?», fragte sie lächelnd.
«Ja, danke.» Rebecca setzte sich auf.
«Hunger auf Eier und Speck und eine Tasse Kaffee?»
Rebecca konnte nicht widerstehen. «Liebend gern.»
«Die Küche ist unten. Schaffst du das mit deinem Fuß?»
Rosies Fürsorge rührte sie. «Ich denke schon. Hast du vielleicht etwas Eis zum Kühlen?»
Rosie nickte, dann ließ sie Rebecca wieder allein.
Wider Erwarten ging das Treppensteigen besser als gedacht. Rebeccas Magen knurrte eindringlich, als ihr der Geruch von frisch gebratenem Speck und Eiern in die Nase drang. Ein starker schwarzer Kaffee dazu … Dem köstlichen Duft folgend erreichte sie die geräumige Küche.
Rosie hievte gerade Rührei, Toast und Butter auf einen Teller. «Ist für meinen Gast. Bedien dich ruhig. Tassen sind oben und ein Teller steht neben dem Herd. Der Kaffee ist in der Kanne», sagte sie und verschwand durch eine Seitentür.
Rebecca humpelte zum Sideboard und nahm sich eine Tasse, dann goss sie sich den Kaffee ein. Sie trank einen Schluck und lud sich Rührei auf den Teller. Rosie kehrte zurück und setzte sich an den schmalen Tisch am Fenster. Sie streckte die Beine aus und gähnte.
«Komm, setz dich zu mir, Rebecca.»
Rebecca schenkte noch eine Tasse ein, stellte alles auf ein Tablett und trug es zum Tisch hinüber. Rosie sah abgespannt aus.
«Schlecht geschlafen?», fragte Rebecca und schob ihr die Tasse über den Tisch zu.
«Es geht. Und du?»
«Wie ein Stein. Aber ich habe Kopfschmerzen.» Sie tastete nach der Beule und zuckte zusammen.
«Möchtest du vielleicht eine Tablette?», bot Rosie an und Rebecca nickte. Rosie war ihr auf Anhieb sympathisch. Was mochte sie und Aaron verbinden? Freundschaft? Oder mehr als das? Ihr Blick suchte in der Küche vergeblich nach benutztem Geschirr oder einem anderen Hinweis, dass Aaron hier gewesen war.
Rosie legte eine Aspirin auf den Tisch. «Aaron ist sicher zu Hause», sagte sie, als hätte sie Rebeccas Gedanken erraten.
Die Tatsache, dass er nicht mit Rosie unter einem Dach lebte, beruhigte sie. «Ach, ich dachte, er wohnt hier.» Rebecca nippte an ihrem Kaffee und sah Rosie über den Tassenrand an.
«Aaron? Bloß nicht, der würde jeden meiner Schritte mit Argusaugen überwachen. Ich brauche meine Freiheit.» Rosie lachte. «Es ist nicht immer leicht mit einem großen Bruder, der nicht akzeptieren will, dass man erwachsen geworden ist.»
Geschwister? Fast hätte Rebecca erleichtert geseufzt. «Bis auf Augen- und Haarfarbe seht ihr euch gar nicht ähnlich», bemerkte Rebecca.
«Genau genommen sind wir Stiefgeschwister. Aber …» Ein Schatten huschte über Rosies Gesicht.
Rebecca griff nach ihrer Hand. «Wenn ich etwas Falsches gesagt habe, dann tut es mir leid, Rosie.»
Aarons Schwester schüttelte ihr energisch Wuschelhaar. «Nein, ist schon okay. Es hat nur Erinnerungen in mir geweckt. Ich habe Aaron mein Leben zu verdanken. Als ich zehn war, brannte unser Haus. Aaron konnte mich retten, aber meine Mutter und mein Bruder kamen ums Leben.»
Sie lächelte wehmütig. Rebecca schluckte und empfand augenblicklich tiefes Mitleid. Daher stammten ihre Narben also. Gleichzeitig bewunderte sie Aaron, der unter Einsatz seines Lebens das seiner Schwester gerettet hatte.
«Das muss furchtbar für euch gewesen sein.»
«Ja», antwortete Rosie leise.
«War es Brandstiftung oder ein Unfall?» Rebecca konnte Rosies Trauer fühlen, als sie ihre Hand berührte.
«Brandstiftung.»
«Du bist eine sehr starke Frau, Rosie.»
«Das verdanke ich meinem Bruder. Nach dem Tod unserer Mutter habe ich ein halbes Jahr bei meinem Vater gelebt, einem Säufer, der mich oft geschlagen hat. Aaron hat mich fortgeholt und sorgt seitdem für mich.»
«Du bist sicher sehr stolz auf deinen Bruder.»
«Das bin ich. Er war damals erst achtzehn, als er sich meiner angenommen hat.»
Aaron stieg noch weiter in Rebeccas Ansehen. Kaum war er den Teenager-Schuhen entwachsen, hatte er Verantwortung für seine Schwester übernommen. Eine schwere Last. Das erklärte sein fürsorgliches Verhalten.
«Das war sicher eine sehr schwierige Zeit für euch. Aber ihr habt es gemeinsam gemeistert.»
«Aaron hat nie mehr über damals gesprochen, aber ich spüre jeden Tag, dass er es nicht vergessen kann.»
«Jeder reagiert anders nach einem Trauma.»
Rebecca stocherte nachdenklich in ihrem Rührei herum. Der gestrige Tag hatte auch sie traumatisiert, und die Unterhaltung mit Rosie ließ alles wieder aufleben. Immer wieder stellte sich ihr die Frage nach dem Warum. Aber sie fand keine Antwort darauf.
«Schmeckt es dir nicht?», fragte Rosie.
«Doch, doch, entschuldige, ich musste an meine Entführung denken. Diese Kreaturen wollten meine Seele. Man kann jemanden beeinflussen und seinen Geist manipulieren, aber doch nicht die Seele rauben.»
«Die Mitglieder der Sekte leben unter Luzifers Einfluss, sie rauben, intrigieren und töten in seinem Namen. Ihr Leben verliert an Bedeutung und sie werden zum Spielball seiner Herrschaft. Es geht so weit, dass sie sich für ihn mit Freuden in den Tod stürzen. Ist das kein Seelenraub?»
Es erschütterte Rebecca, dass Menschen einen derartigen Fanatismus zeigten und ihr Leben für den Glauben hinwarfen. Wie konnte jemand sich so selbst zerstören? Sie ließ die Gabel sinken.
«Nach dem gestrigen Erlebnis glaube ich langsam an alles, auch wenn mein Verstand protestiert. Es macht mir Angst. Gehören zu dieser Sekte nur Nephilim?»
«Nein, auch viele Menschen. Aber die Nephilim sind durch ihre Mischnatur zwiespältiger und leichter empfänglich für die dunkle Seite.»
Ein eisiger Schauer lief Rebeccas Rückgrat hinab.
«Rebecca, ist dir denn vorher noch nie in deinem Leben etwas Unerklärliches begegnet, etwas, das es eigentlich nicht geben dürfte?» Rosie sah sie forschend an.
«Doch, sicher, aber ich habe bislang immer versucht, dafür eine rationale Erklärung zu finden.»
Durch ihr Medizinstudium war sie sehr wissenschaftlich geprägt. Harte, nachprüfbare Fakten waren alles, was zählte. Dennoch blieb ihr der Feuertod des Jungen im Krankenhaus ein Rätsel. Selbst ihre Gabe erschreckte sie oft. Als Kind hatten ihre Eltern ihr eingebläut, niemals darüber zu sprechen, damit sie sich keinem Gespött aussetzte. Sie zögerte nur einen Moment lang, bis sie Rosie von dem Jungen im Krankenhaus erzählte.
«Diese Narben glichen Stümpfen von Gliedmaßen. Ich habe Ähnliches bei Vogelkadavern gesehen. Als hätte der Junge ebenfalls Flügel besessen, die abgebrannt waren. Es ist mir immer noch schleierhaft, weshalb er in Flammen aufging. Es muss an dieser grünen Substanz gelegen haben.»
Rebecca legte das Besteck auf den Teller und schob ihn von sich. Rosie sah sie prüfend an. «Vielleicht war er ein Engel oder ein Gefallener?»
Rebecca kniff die Augen zusammen und musterte ihre Gesprächspartnerin. Weshalb erklärten sie und Aaron alles immer mit Engeln?
«Tja, im Nachhinein wäre das eine Erklärung. Aber sein Körper war so menschlich.»
«Damit sie sich vom Äußeren her nicht von uns unterscheiden. Schließlich würden die Flügel jedem auffallen. In vielen von uns fließt Engelsblut, auch wenn es Generationen zurückliegt.» Rosie senkte den Blick.
«Du und Aaron habt es bestimmt, ihr seid so was wie meine Schutzengel», sagte Rebecca und zwinkerte ihr lächelnd zu. Rosie antwortete nicht, sondern sah aus dem Fenster. «Woher wisst ihr eigentlich so viel über diese Wesen und die Sekte?», sprach Rebecca endlich aus, was sie seit Anfang des Gespräches bewegte.
Rosie sah sie wieder an, ihr Blick war wachsam. Sie zögerte mit einer Antwort, als müsse sie sich ihre Worte genau überlegen. «Ein Engel setzte unser Haus in Brand.»
Rebecca ließ die Gabel sinken. «Ein Engel? Aber sind die nicht die Guten?» Rosie sprach über Engel, als wären sie die selbstverständlichste Sache der Welt.
«Er wurde ausgestoßen und schwor Rache. Ich weiß bis heute nicht, was meine Mutter damit zu tun hatte. Werde ich wohl nie rauskriegen. Aber es ist nicht mehr zu ändern.»
«Und dieser Engel?»
Es wurde immer unglaublicher
«Er fristet sein Dasein an einem Ort, den Menschen und Nephilim niemals betreten dürfen.»
Rebecca öffnete sich eine Welt, von deren Existenz sie nie etwas geahnt hatte. Wenn sie sich hätte entscheiden können, diese dunkle Welt kennenzulernen oder besser darauf zu verzichten, hätte sie sich für Letzteres entschieden.
«Aaron arbeitet seitdem als Bodyguard.»
Das erklärte auch sein spektakuläres und gekonntes Eingreifen. Jedoch wurde Rebecca das Gefühl nicht los, dass Rosie ihr etwas Wichtiges über ihn verschwieg. Bevor sie sie weiter ausfragen konnte, öffnete sich die Küchentür und Aaron kam herein. Sofort beschleunigte sich ihr Puls.
«Hallo.»
Aaron ging zur metallenen Kaffeekanne, die auf dem Herd stand. Rebecca bemerkte seine eingefallenen Wangen und die tiefen Schatten unter seinen glanzlosen Augen. Er sah aus, als hätte er die ganze Nacht nicht geschlafen. Irgendetwas stimmte nicht.
Auch in Rosies Augen trat ein besorgter Ausdruck. «Wenn du magst, mache ich dir Eier, Speck und Toast», schlug sie vor.
«Danke, aber ich habe keinen Hunger.»
Rebecca war beunruhigt durch die besorgten Blicke, die Schwester und Bruder miteinander tauschten, und fühlte sich ausgeschlossen. Was hatte sie erwartet? Sie war hier nur eine Fremde, die vom Schicksal zu ihnen geführt worden war. Sie wusste praktisch nichts über das Leben der beiden, nur dass sie gemeinsamer Schmerz verband.
Aaron lehnte sich mit der Tasse dampfenden Kaffees an die Vitrine neben dem Tisch. «Noch Kaffee?», fragte er nach einem Blick in ihre Tasse.
«Ja, danke, nur schwarz ohne Schnickschnack.»
Die plötzliche Spannung im Raum stach auf Rebeccas Haut. Aarons Gesichtszüge waren angespannt, seine Kiefer fest aufeinandergepresst. Irgendetwas bedrückte ihn. Sie wäre am liebsten aufgesprungen, um ihn zum Trost zu umarmen, aber Rosies Gegenwart hielt sie zurück.
«Ist was passiert?», fragte Rosie.
«Nein, nein», sagte er und senkte den Blick.
Rosie hob zu einer weiteren Frage an, als es an der Haustür klingelte. «Ich geh schnell mal nachsehen.»
Sie verließ die Küche. Aarons Schweigen bedrückte Rebecca. «Ich glaube dir nicht, dass nichts geschehen ist. Aber du wirst schon deine Gründe haben. Wenn du jemanden zum Reden brauchst, ich bin eine gute Zuhörerin.»
«Danke», sagte er leise und trank weiter seinen Kaffee.
Wieder senkte sich Schweigen über sie. Das war ja nicht zum Aushalten. Warum sprach er denn nicht? Ihre Blicke tauchten ineinander. Sie spürte den Gefühlssturm in seinem Innern. Schmerz, Wut und Hass. Bilder stiegen in ihr auf. Eine Frau, die sterbend in seinen Armen lag. Plötzlich wurde Rebecca schwarz vor Augen und der Bilderstrom riss abrupt ab. Sie spürte Aarons Widerstand.
«Ich kann spüren, dass etwas Furchtbares geschehen ist», brach sie das Schweigen.
Er atmete tief ein und nickte. «Gestern Nacht wurde eine Frau ermordet, die ich gut kenne», gab er zu.
Es war offensichtlich, dass ihr Tod ihm sehr nahe ging. «Wer war sie?»
Sein Lächeln besaß einen bitteren Zug. War sie etwa seine Freundin gewesen? Rebecca schluckte. Klar, ein Mann wie Aaron hatte bestimmt eine Frau oder Geliebte.
«Sie war eine Prophetin, die verhindern wollte, dass sich noch mehr Nephilim der Sekte anschließen. Es kam zu einem Tumult, bei dem sie gestorben ist.»
Er schüttete den Rest seines Kaffees ins Waschbecken und zog eine Grimasse. Rebecca schauderte. Sie kannte die Frau nicht, dennoch empfand sie Mitleid mit ihr. Vielleicht hätte sie das gleiche Schicksal ereilt. Doch ihr Tod war nicht das Einzige, was ihn bedrückte.
«Du machst dir ihretwegen Vorwürfe?»
Er sog scharf die Luft ein, seine Nasenflügel bebten. Sie hatte ins Schwarze getroffen. «Ich konnte sie nicht beschützen, und sie ist in meinen Armen gestorben …», stieß er hervor.
Rebecca spürte, wie sehr er sich mit Selbstvorwürfen quälte. «Sicher hast du dein Möglichstes getan, aber das Schicksal hat es anders gemeint.» Sie sah zu ihm auf. «Du bist stark genug, darüber hinwegzukommen», flüsterte sie.
«Du hast recht.»
Als sein Blick sich verhärtete, ahnte sie, dass er auf Rache sann. «Du willst Vergeltung, stimmt’s?»
«Ja. Wie kannst du dich so gut in andere einfühlen?»
«Empathisch veranlagt.» Er hob die Augenbrauen und schien eine Erklärung zu erwarten. «Als Kleinkind bin ich sehr krank gewesen und wäre fast gestorben. Ich hatte dieses bekannte Tunnelerlebnis mit dem Licht am Ende. Die Ärzte haben mich wieder ins Leben zurückgeholt. Seitdem spüre ich das und auch Krankheiten.»
Sie konnte sich nicht mehr genau an diese Zeit erinnern. Ihre Eltern hatten ihr erzählt, dass sie an einem Virus erkrankt und während eines Fieberkrampfes ihr Herz stehen geblieben war. Aaron musterte sie nachdenklich. Was mochte er jetzt wohl denken?
***
Eben hatte er sich Rebecca nahe gefühlt, näher als jedem anderen. Diese Sensibilität besaßen nur wenige. Eine Engelsgabe, die ihr an der Schwelle des Todes gegeben oder bei der Geburt verliehen worden war. War sie vielleicht ein Nephilim und wusste es nicht?
Nein, ihr fehlte die innere Zerrissenheit, die jedem Mischwesen eigen war. Bestimmt waren die Apokalyptiker wegen ihrer Gabe hinter ihr her. Aaron kannte Menschen, die reanimiert worden waren und deren Begegnung mit dem Tod ihr Leben radikal verändert hatte und sie seitdem über eine besondere Feinfühligkeit verfügten, manchmal auch über außergewöhnliche Fähigkeiten. Gerade diese Sensibilität schätzte er auch an Rebecca.
«Behalte das als Geheimnis, denn Seelen wie deine sind sehr begehrt.»
«Nur du weißt davon.»
Es bedeutete ihm viel, dass sie sich ihm anvertraut hatte. «Und die Apokalyptiker anscheinend. Du hast erlebt, wozu sie fähig sind. Sie sind auch verantwortlich für den Tod der Prophetin.»
«Aaron!», rief Rosie aus dem Flur.
«Oh, ich glaube, Rosie braucht mich. Danke», sagte er und drückte liebevoll ihre Hand. «Wir sehen uns später.»
Er stellte die Kaffeetasse in die Spüle und eilte aus der Küche.