Читать книгу Black Heart - Die gesamte erste Staffel - Kim Leopold - Страница 7
Kapitel 2
ОглавлениеEin kleines Dorf in Norwegen, 1768 n. Chr.
Freya
❤
Das Gefühl von rauem Backstein unter meinen Fingerspitzen wiegt mich in Sicherheit. Ich lasse meine Finger an der Hauswand entlanggleiten, bis ich schließlich den kleinen Vorsprung spüre und die Wand loslasse, um vierunddreißig Schritte geradeaus zu gehen. Mein Weg führt mich vom Schatten in die Sonne, und ich verharre einen Augenblick bei dreiundzwanzig Schritten, um das warme Gefühl auf meinem Gesicht zu genießen. Anschließend setze ich meinen Weg fort, elf Schritt vor, zehn nach links, dann zwanzig nach rechts, bis ich nur noch die Hand ausstrecken muss, um die gewohnten Steine des Brunnens unter meinen Händen zu-
Ein Ruck reißt mich zu Boden. Dumpfe Schmerzen jagen durch meinen Oberarm und mein Eimer fällt mit einem lauten Poltern zu Boden.
»Oh nein, entschuldige bitte.« Eine angenehme Stimme füllt mein Ohr, während ich mich aufrichte. »Habe ich dir wehgetan?«
Ich schüttle den Kopf und reibe meinen Oberarm. Die Stimme ist tief und männlich, und ich würde gerne das Gesicht dazu sehen. Jemand, der klingt wie er, muss einfach hübsch sein.
»Es geht schon«, murmle ich verlegen.
»Ich«, setzt der Mann an und scharrt mit den Füßen. Mir wird bewusst, dass mein Anblick ihn nervös machen muss, also schließe ich die Augen.
»Ich bin Mikael«, stellt er sich plötzlich vor.
Verwundert öffne ich die Augen wieder, obwohl ich ihn sowieso nicht sehen kann. Wieso läuft er nicht weg? Wieso bleibt er hier und stellt sich vor? Hat er keine Angst vor einem Krüppel wie mir?
»Freya«, erwidere ich schüchtern und erstarre, als er nach meiner Hand greift. Seine Finger sind schlank und lang, die Haut weich und trocken. Sein Griff verleiht mir ein merkwürdiges Gefühl von Sicherheit, und als ich dann noch seine zarten Lippen auf meinem Handrücken spüre, ist es um mich geschehen. Noch nie hat sich ein Mann die Mühe gemacht, sich mir vernünftig vorzustellen, geschweige denn, mir einen Handkuss zu geben. Für alle anderen bin ich nicht viel besser als Garall, der mit seinem fehlenden Bein ein noch größerer Krüppel ist.
»Du bist nicht von hier«, stelle ich fest, während er sich wieder von mir löst. »Ich … ich erkenne deine Stimme nicht.«
»Du hast gute Ohren. Ich bin aus Christiania«, antwortet er. Seine Stimme entfernt sich kurz. Er hebt den Eimer auf, bemerke ich verblüfft. Ohne seine Hilfe hätte ich mich auf den Boden hocken und jeden Zentimeter absuchen müssen, bis ich den Eimer wiedergefunden hätte. Und dann hätte ich vielleicht die Orientierung verloren und wäre noch weiter umhergeirrt.
Plötzlich spüre ich seine Hand an meinem Ellbogen. Zögernd wartet er darauf, dass ich ihm die Erlaubnis gebe, mich zu begleiten. Mein Herz klopft schneller, während ich die Kontrolle in seine Hände übergebe und mich von ihm zum Brunnen leiten lasse.
»Was verschlägt dich hierher?«, frage ich ihn, um mich von meiner Aufregung abzulenken.
»Der Dienst am königlichen Hof.« Seine Stimme ist genau die richtige Mischung aus sanft und männlich. Wenn ich mir den Menschen dazu vorstelle, sehe ich einen hochgewachsenen, schlanken Mann, ein paar Jahre älter als ich vielleicht. Mit blondem Haar und blauen Augen, wie das hier im Norden so üblich ist. Wie blondes Haar aussieht, weiß ich nicht. Ich weiß nur, wie es sich anfühlt, wenn ich meine eigenen Haare bürste und flechte.
»Du kennst den König?«, frage ich aufgeregt. Ich habe noch nie jemanden kennengelernt, der dem Hof so nah war. »Ist es wahr, was man über ihn sagt?«
Er lässt meinen Ellbogen kurz los, um den Eimer mit Wasser zu füllen, bevor er mir wieder seine Führung anbietet, um mich zurück zum Haus zu bringen. Ich werde das Gefühl nicht los, dass ich nicht die erste Blinde bin, die er führt. Er wirkt erfahren, was das angeht.
»Hm«, macht Mikael belustigt. »Was sagt man denn über ihn?«
»Du weißt schon.« Verlegen beiße ich mir auf die Unterlippe. Hätte ich doch bloß nicht von dem Thema angefangen. Jetzt denkt er, ich bin eins von diesen Klatschweibern. »Man sagt, er wäre … geistig nicht ganz beisammen.«
»Ich wusste nicht, dass sein Zustand sich schon so weit herumgesprochen hat.« Mikael spricht in gedämpftem Ton weiter: »Seine Verwalter haben mich hergeschickt, um nach jemandem zu suchen, die ihm vielleicht helfen kann.«
»Bei uns?« Erstaunt horche ich auf und gehe die Menschen des Dorfes in Gedanken durch. Die Einzige, die Krankheiten heilen kann, würde diese Grenze niemals überschreiten. Es ist unmöglich, dass er am Hof von ihr gehört hat.
»Vielleicht fällt dir jemand ein.« Er bleibt stehen. »Mir ist gerade klargeworden, dass ich keine Ahnung habe, wo ich dich hinführen soll.«
»Es ist das rote Haus«, erwidere ich und unterdrücke ein Lächeln. Meinetwegen hätte er mich gerne noch ein bisschen länger durchs Dorf führen können. »Mutter hat es rot gestrichen, damit ich immer weiß, wie ich unser Haus beschreiben soll.«
»Das hört sich nach einer sehr lieben Mutter an«, antwortet er ernst und führt mich zur Haustür. Er stellt den Eimer ab, bevor er nach meiner Hand greift. »Es hat mich sehr gefreut, dich kennenzulernen, Freya.«
Freude durchströmt meinen Körper, weil ich spüre, dass er seine Worte ehrlich meint. Auf meinen Lippen breitet sich ein Lächeln aus. »Die Freude ist ganz meinerseits, Mikael.«
❤
Drinnen lege ich Holz nach und bringe anschließend etwas altes Brot hinters Haus, um es für die Hühner zu verteilen, die nie genug davon kriegen können. Danach räume ich die Kräuter und Tücher auf dem Esstisch weg, die Mutter dort liegen lassen hat, weil sie heute Morgen zur Geburt gerufen wurde. Ich weiß genau, dass sie sich über ein aufgeräumtes Haus und eine heiße Tasse Tee freuen wird, um ihre angestrengten Glieder aufzuwärmen.
Während ich schließlich ein einfaches Abendessen zubereite, wandern meine Gedanken wieder zurück zu Mikael und seinen sanften Händen. Der melodische Klang seiner Stimme geht mir nicht aus dem Kopf. Ich frage mich, ob er nach meiner Mutter sucht. Wenn es eine Frau in diesem Dorf gibt, die Krankheiten heilen kann, dann ist es meine Mutter. Aber sie wird ihm nicht helfen. Sie hat ja nicht einmal Vater geholfen, als er vor ein paar Jahren krank geworden ist und schließlich starb.
Krankheiten und der Tod gehören zum Leben dazu, hat sie gesagt. Mit dem Schicksal soll man nicht spielen, um das Leben von Menschen zu verändern.
Bauchschmerzen kurieren, Schwangere untersuchen und sie bei der Geburt begleiten – das sind die Dinge, für die sie im Dorf bekannt ist. Ich frage mich, was ich tun würde, wenn ich so viel wüsste wie sie. Würde ich dem König helfen? Hätte ich meinen Vater gerettet? Was hätte das geändert? Wäre mein Leben dann grundsätzlich anders verlaufen?
Ein Rumpeln an der vorderen Tür lässt mich aufhorchen. Kurz darauf stößt jemand die Haustür auf und stolpert ins Haus. »Freya? Freya!«
»Mutter?« Überrascht über den panischen Ausruf stehe ich auf und gehe meiner Mutter entgegen. Sie fällt mir um den Hals und drückt mich fest an sich. Sie riecht nach dem Schweiß anderer und ihren eigenen Sorgen.
»Den Göttern sei Dank, dir geht es gut.«
»Was ist passiert?«, frage ich beunruhigt. Mutter lässt mich los und eilt durch den Raum, um einige Sachen zusammenzusammeln.
»Wir müssen verschwinden.«
»Was? Wieso?«
»Jetzt ist nicht die Zeit für Fragen. Nimm, was du tragen kannst. Na los!«, feuert sie mich an. Mir liegen tausend Fragen auf der Zunge, doch ich befolge ihre Anweisung und eile zum Alkoven, um meinen Geldbeutel und das Märchenbuch einzupacken, aus dem sie mir immer vorgelesen hat. Der Geldbeutel fällt klimpernd zu Boden. Ich gehe auf die Knie, um danach zu tasten. In dem Augenblick höre ich die ersten Stimmen vor dem Haus. Aufgeregtes Getuschel, das sich schnell zu einem Singsang aus Anklagen erhebt.
Mörderin.
Hexe.
»Mutter, was ist passiert?«, frage ich. Meine Hände schließen sich um den Geldbeutel. Schnell springe ich auf.
»Jetzt nicht, mein Schatz«, erwidert Mutter, deren Schritte immer noch durch den Raum trippeln, während sie weitere Sachen einpackt. Sie drückt mir ein weiteres Buch in die Hand.
»Hedda, wir wissen, dass du da drin bist!« Jemand pocht mit der Faust gegen die Haustür. Einmal, dann noch einmal, immer lauter. Schon bald verschwimmen die Geräusche zu einer undurchdringlichen Wand aus Lärm. Ich kneife die Brauen zusammen, überfordert damit, die Stimmen den Personen zuzuordnen, und versuche mich auf meine anderen Sinne zu verlassen, während Mutter mich zur Hintertür führt.
Anders als erwartet laufen wir nicht sofort los, sondern bleiben stehen. Mutter umarmt mich und drückt mir einen hektischen Kuss auf die Stirn, der sich zu sehr nach Abschied anfühlt. »Das Buch, das ich dir gegeben habe. Verlier es nicht.«
»Aber …«, setze ich an. Die Stimmen werden immer lauter.
»Und vergiss nicht, was ich dir über das Schicksal beigebracht habe.«
Die vordere Tür fliegt mit einem lauten Knall auf. Die schweren Schritte auf dem Holz lassen mich zusammenzucken. So viele Menschen.
»Ich liebe dich, mein Schatz«, flüstert sie noch, bevor man meine Mutter von mir reißt. Ich kann die Geräusche nicht mehr zuordnen, das Klatschen, das Reißen und Zerren, die Schreie, all die Wut und die Angst … Alles, was ich weiß, ist, dass meine Mutter in Gefahr ist. Sie werden ihr wehtun.
»Du hast sie getötet«, erhebt sich schließlich eine Stimme aus dem Pulk. Ich erkenne sie sofort. Isak. Der Vater, dessen Kind heute das Licht der Welt erblicken sollte. »Du hast sie mit deinen Kräutern umgebracht.«
»Ich war das nicht.« Mutter weint, was mir nur noch mehr Angst einjagt. Sonst ist sie immer die Stärkere von uns beiden. »Bitte, Isak. Du kennst mich. Ich habe Thea wie eine Schwester geliebt.«
Mir wird klar, dass die Geburt nicht gut gelaufen ist. Das Kind und seine Mutter haben es nicht überstanden und ihr Vater gibt meiner Mutter die Schuld daran. Ich muss zu ihr, ich muss ihm sagen, dass sie nichts dafür kann. Dass das Schicksal ihm einen miesen Streich gespielt hat.
Aber jemand packt meinen Arm und hält mich zurück.
»Lass mich los«, fauche ich und reiße an meinem Arm.
»Hexe!«, brüllt jemand. »Sie soll brennen für ihre Taten!«
Der Pulk übernimmt den Ausruf, um daraus einen Gesang zu machen. Entsetzen breitet sich in meinen Gliedern aus, weil sich unser Wohnraum mit dem schrecklichen Wunsch füllt, Mutter für ihre Taten hinzurichten.
Als sich die Stimmen der anderen entfernen und man meine weinende Mutter auf den Dorfplatz trägt, schiebt mich jemand vor sich her. Ich stolpere mehrmals über meine eigenen Füße und werde schließlich unsanft zu Boden gestoßen.
Um mich herum sind so viele Geräusche, dass es mir schwerfällt, die Orientierung zurückzugewinnen und aufzustehen. Immer wieder rempelt mich jemand an und ich stolpere zurück zu Boden, während sich die Schreie meiner Mutter in meinen Kopf fressen.
Es könnten Sekunden vergangen sein, Minuten oder sogar Stunden, bis ich schließlich den Geruch von Feuer vernehme.
Mir wird schlecht. Das können sie nicht ernst meinen. Sie wollen sie nicht wirklich brennen lassen.
Die Schreie werden schriller, schmerzvoller. Setzen sich in meiner Erinnerung fest, bis mir der Atem wegbleibt und die Galle hochkommt. Als sie plötzlich ganz verstummen, muss ich mich übergeben. Der Singsang der Menge lässt nach … sie merken, was sie getan haben.
Ich kauere mich zusammen, die beiden Bücher meiner Mutter an meine Brust gepresst, mein Tuch um den Kopf geschlungen, um mich so vor dem Zorn der Dorfbewohner zu verstecken. Oder vor den Todesqualen meiner Mutter.
Es funktioniert nicht, denn es dauert nicht lange, da reißt mich jemand auf die Füße. Die Bücher fallen zu Boden, während er mich zum Feuer zerrt. Der Geruch von verbranntem Menschenfleisch frisst sich in meine Schleimhäute. Ich würge.
»Was machen wir mit ihrer Tochter?«, fordert derjenige zu wissen, der mich festhält.
Jonas.
»Lass mich los«, fauche ich ihn an und reiße mich los. Hilflos versuche ich einen Ausweg zu finden, doch in meinem Rücken spüre ich das knisternde Feuer und vor mir wütet die Menge. Entschlossen wähle ich den Weg nach vorne. Ich werde nicht kampflos sterben.
»Nein!«, schreie ich. Mehrere Hände greifen nach mir, um mich festzuhalten. Mein Schrei ist so laut, dass er von den umliegenden Hauswänden zurückgeworfen wird. Die Hände verschwinden, die Stimmen verblassen. Es wird still um mich herum, so still, dass sich die Härchen auf meinem Rücken aufstellen.
Ich strecke meine Hände aus, um nach den Körpern zu tasten, die gerade noch mein Gefängnis waren, doch ich greife ins Leere. Mein Fuß stößt gegen etwas Warmes. Entsetzen breitet sich in mir aus. Meine Beine geben nach, und ich stürze zu Boden. Meine Hände landen auf einem weichen Gegenstand.
Nein, kein Gegenstand.
Ein Mensch.
Meine Fingerspitzen gleiten über den Stoff, das Leder seines Gürtels, die warme Haut an seinem Hals und die kratzigen Barthaare, aber seinen Herzschlag fühle ich nicht.
»Oh Gott«, flüstere ich und rapple mich auf, weg von dem leblosen Körper, weg von dem Grauen, das sich um mich herum ausgebreitet hat. Ein anderer regungsloser Körper beendet meine Flucht. Hilflos falle ich erneut auf die Knie und raufe mir die Haare. Noch nie in meinem Leben habe ich mir dringlicher gewünscht, sehen zu können.
»Ist da jemand?«, presse ich schließlich hervor. Die aufkeimende Panik legt sich wie eine eiskalte Hand um mein Herz. »Irgendjemand?«