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Heute

Sie saß auf der untersten Stufe der Treppe, neben der sich gleich das Büro ihres Vaters befand. Er telefonierte, seine Stimme so leise, dass Carly es kaum verstehen konnte.

Ihr Rücken lehnte an dem hölzernen Treppengerüst und sie starrte zu den vielen Bildern auf, die wie eine Art Galerie den Flur zierten. Bilder zu Zeiten, zu denen noch alles in Ordnung war. Bilder ihrer Eltern, Bilder von Freunden der Familie, Bilder ihrer Tante mütterlicher Seite und Bilder von ihr. Ein paar Bilder ihrer Großeltern und ihres Onkels aus Anchorage.

Ihr Blick blieb an dem Bild hängen, auf dem sie ein Ballkleid trug. Ihre Eltern stolz links und rechts neben ihr positioniert, beide eine Hand auf ihren Schultern. Tränen brannten in ihren Augen. Die Aufnahme lag erst wenige Wochen zurück. Es war der Spring-Ball, der Erste, zu dem sie von einem Jungen ausgeführt werden durfte.

Ihr rotblondes Haar trug sie zu einem lockeren Zopf zur Seite geflochten. Das schöne Kleid aus cremefarbenem Satin hatte nur einen breiten Träger, der elegant über ihrer Schulter lag und ihren schlanken Hals betonte. Sie hatte ihren Vater nie wieder so lächeln sehen. Nicht seit dem Unfall.

Carly gab sich selbst die Schuld daran. Wäre sie selbst gefahren, wäre das alles nie passiert. Und sie war sich sicher, dass auch ihr Vater ihr dafür wohl die Schuld gab. Hätte sie nicht mitten in der Nacht angerufen und darum gebeten abgeholt zu werden, wäre ihre Mutter kein Auto mehr gefahren. Sie wäre nicht von einem anderen Wagen gerammt worden, der bei Rot über die Ampel gefahren war.

Sie erinnerte sich daran, wie ihr ihre Mom zum Abschied einen Kuss auf die Stirn gab, ehe Carly zu dem Ball aufbrach, ihr sagte wie lieb sie Carly hatte und dass sie wunderschön war. Es war Carly damals etwas peinlich vor dem Jungen gewesen, heute ärgerte sie sich über diese Art von Gefühlen. Hätte sie doch nur eher gewusst, dass dies der letzte liebevolle Kuss ihrer Mutter war. Stumme Tränen rannen über ihr Gesicht und tropften auf ihren dünnen Pullover.

Würde ihr Vater Carly nicht die Schuld geben, würde er sie jetzt nicht weg schicken. Doch er hatte sie seit jener Nacht nicht mehr ansehen können. Er war zu wütend, dachte Carly. Er hasste sie dafür, dass sie ihm das wertvollste in seinem Leben genommen hatte.

Sie erinnerte sich an die furchtbare Nacht, in der sie frierend vor der Schulaula gewartet hatte, dass ihre Mutter sie abholen kam. Doch sie kam nie an. Erst zwei Stunden später kam ihr Vater und schon da hatte Carly gewusst, das etwas nicht stimmte. Als sie eingestiegen war, hatte er kein Wort mit ihr geredet und war einfach stumm los gefahren.

„Wo ist Mom?“, wollte Carly wissen.

Doch er antwortete nicht. Also hatte sie ebenfalls nichts mehr gesagt, bis sie das Krankenhaus erreichten und Carly eine böse Gewissheit erlangte, die sie schon quälte, seit sie wusste, dass ihre Mutter nicht pünktlich kam.

Im Krankenhaus kämpfte man um ihr Überleben, als Carly und ihr Vater ankamen. Sie hatten schweigend im Warteraum gesessen.

Erst als ihre Tante Rachel kam und Carly in den Arm nahm, begann Carly laut zu weinen. Doch vor ihrem Vater hatte sie zuvor nicht geweint. Sie hatte keine Schwäche gezeigt, denn sie wusste, das er so etwas nicht mochte. Im Militär weinte man auch nicht. Man zeigte keine Schwäche, sagte er Carly immer. Und auch als ihre Tante da war, weinte Major Gereral Avery Havering nicht. Auch als Rachel Avery in den Arm nahm, weinte er nicht. Er saß stumm da und sah auf den Tisch im Warteraum, auf dem sich Zeitschriften stapelten. Fast so als studiere er der Reihe nach ihre Namen.

Selbst als sie Carlys Mutter beerdigten, weinte er nicht. Doch während der Trauerfeier sperrte er sich viele Stunden in seinem Büro ein, fast so lange, bis alle Gäste weg waren.

Tante Rachel nahm alle Beileidsbekundungen an und bedankte sich für das Erscheinen der Gäste. Das machte Carly wütend. Auch sie trauerte um ihre Mutter und auch Tante Rachel, die jüngere Schwester ihrer Mutter. Doch ihr Vater ließ sie damit alleine, so als würde es nur ihm schwer fallen, Abschied zu nehmen. Die vielen Gäste aushalten zu müssen und gezwungen zu sein, diese unabänderliche Tatsache akzeptieren zu müssen, dass sie für immer weg war.

Ihr Magen fühlte sich schwer, als Carly den Kopf hob. Ihr Vater hatte das Telefonat beendet. Es ging um einen Auftrag im Ausland. Nur wenige Wochen nach dem Tod ihrer Mutter ging er wieder arbeiten. Weit weg.

Und auch sie war bald weg. Als wäre das nicht schlimm genug, wusste Carly, dass sie nie wieder in dieses Haus zurück kommen würde. Ihr Vater hatte sich ein anderes Haus gekauft, in einem anderen Bundesstaat. Schon morgen würde die Firma kommen, die hier alles ausräumte und die meisten Sachen in das neue Haus brachte. Vielleicht würde Carly das Haus ja noch mal von außen sehen, wenn sie Tante Rachel im Nebenort besuchte. Der Gedanke tröstete Carly allerdings nicht sonderlich.

Er nahm ihr alles weg. Ob er sie damit bestrafen wollte? Er schickte sie auf eine Militärschule weit weg von ihm, er verkaufte das Haus. Und Carly blieb nichts mehr. Es war praktisch so, als hätte sie mit ihren sechzehn Jahren beide Elternteile verloren.

Gleich würde sie Conleth abholen, ein guter Freund ihres Vaters, der lange mit ihm gemeinsam in einer Einheit gedient hatte.

Conleth und seine Familie waren früher oft zu Besuch gewesen, oder sie hatten ihn und seine Familie besucht. Sie wohnten gut vierzig Autominuten entfernt, trotzdem waren sie jedes Wochenende zusammen. Auch von ihnen gab es viele Bilder in der Galerie. Bilder beim Grillen, beim Schwimmen. Bilder wie Carly mit Conleth Sohn Tate im Garten spielte und Fallen bauten. Oder wie sie versuchten Tate´s Hund zu dressieren und ihm Kunststücke beizubringen. Doch seit Conleth und seine Familie vor sieben Jahren weg gezogen waren und Tate auf die Militärschule gegangen war, hatte sie ihn nur noch ein mal gesehen.

Damals war er ihr bester Freund. Sie hatten alles miteinander geteilt und sich alles erzählt. Das einzige Wiedersehen lag ebenfalls schon fünf Jahre zurück, damals war ihr Vater fünfunddreißig geworden.

Sicher hatte sich Tate sehr verändert, besonders durch die strenge Schule, zu der er ging. Die, die auch Carly bald besuchen würde.

Ihre Mom würde das nicht wollen. Das hatte Carly in einem Streit vor Kurzem auch zu ihrem Vater gesagt, als sie erfuhr was er vorhatte. Hasste er sie so sehr, das er nun strategisch ihren Untergang plante? So fühlte es sich jedenfalls für Carly an.

Der einzige Trost, den das Ganz hatte, war dass sie Tate wieder sehen würde. Aber sicher würde es ganz anders sein ihn wieder zu sehen, davon war Carly überzeugt. Zu viel Zeit lag zwischen ihren Kindertagen und heute. Wenn sie jetzt zu dieser Schule gehen würde, hatte sie nichts mehr.

Nicht das sie hier in ihrem Heimatort derzeit viel mehr hatte. Ihre eigentlichen Freundinnen hatte sie in den letzten Wochen, seit dem Tod ihrer Mutter, gemieden. Carly wollte keine Mitleidsbekundungen, keine Beileidsprüche, kein Es tut mir so leid, das mit deiner Mom. Und sie wollte auch nicht darüber reden müssen, wie es ihr geht. Das wollte sie auch nicht, als ihre Tante Rachel sie zu einem Psychologen schickte, mit dem Carly über den Tod ihrer Mutter reden sollte. Vielleicht hatte sie, was das anbelangte, doch mehr von ihrem Dad, als sie zugeben wollte. Von dem Vater, der sie nun mehr zu hassen schien, als alles andere.

Zerbrochene Seelen

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