Читать книгу Zerbrochene Seelen - Kim Mevo - Страница 7

5

Оглавление

Dezember 1999, kurz nach Weihnachten

Es war kurz vor der Jahrtausendwende, doch für Thomas schien es keine Hoffnung auf ein gutes, neues Jahr zu geben. Nicht mal auf ein gutes Jahrtausend.

Während nun gerade kurz vor Weihnachten viele Kinder ein neues zu Hause gefunden hatten, saß er alleine und verwaist auf der Fensterbank in seinem kleinen Zimmer. Er hielt den Stoffhasen, ein Ankunftsgeschenk des Heimes, in das er kürzlich gekommen war, fest im Arm und hatte das Gefühl, nur er allein sei sein Freund.

Die Pflegefamilie in der er zuvor gelebt hatte, hatte ihn weg gegeben. Sie hatten selbst ein Kind zur Welt gebracht und da war ihnen Thomas zu lästig geworden. Eine einsame Träne rollte über sein Gesicht. Er hatte doch nur mit der kleinen Kate spielen wollen. So wie sonst auch. Er hatte sie bloß etwas gekniffen und ihre Hand ganz feste gedrückt, das hatte er schon öfter gemacht. Doch diesmal hatte seine Pflegemutter ihn dabei gesehen und war furchtbar wütend geworden.

Thomas drückte den Hasen fester an sich, während er den Schneeflocken dabei zu sah, wie sie zu Boden rieselten und den Asphalt der Straßen unter sich bedeckten.

Er hatte Kate schon nicht leiden können, als sie im Bauch seiner Pflegemutter war. Immer hieß es das Baby. Alles drehte sich um die kleine Kate, noch lange bevor sie überhaupt geboren war. Und Thomas war ihnen von da an völlig egal gewesen. Er hasste das kleine Mädchen dafür, dass sie ihm das Einzige genommen hatte, was er lieb hatte. Wäre sie nicht gewesen, dachte Thomas wütend, säße er jetzt nicht hier, ganz alleine.

Als es an der Tür klopfte schreckte Thomas hoch und hätte um ein Haar den Hasen fallen lassen. Eine der Mitarbeiterinnen öffnete langsam die Tür und lächelte. „Thomas?“, langsam trat sie ein, „Wie geht es dir?."

Thomas antwortete nicht. Seine Finger strichen nervös durch das borstige Fell des Stofftiers. Er setzte es auf seine Knie, so dass er es genau betrachten konnte. Obwohl es neu war, wirkte es schon über Jahre gebraucht und zerrupft. Thomas hatte seine Knopfaugen ausgerissen und am Hals klaffte ein Riss aus dem das Innenfutter heraus quill.

Die Frau räusperte sich und trat etwas näher heran. „Thomas, da ist jemand, der dich gerne kennen lernen würde.“

Nun wurde Thomas aufmerksam und sah die Frau neugierig an. Wer sollte ihn schon kennen lernen wollen? Er war erst drei Monate dort und doch kam es ihm wie eine Ewigkeit vor.

Als die Frau den zerrupften Hasen sah, bemerkte Thomas wie unbehaglich sie sich nun zu fühlen schien. Sie lächelte ihn traurig an. „Du mochtest den wohl nicht so gerne, was?“ Wieder antwortete Thomas nicht. Die Frau wirkte allmählich etwas verzweifelt. Sie knabberte auf ihrer Unterlippe und sah sich verzweifelt im Raum um, so als könne sie vielleicht dort etwas finden, das ihn dazu bewegen könnte, mit ihr zu sprechen. Doch egal nach welchem Strohalm sie auch griff, Thomas blieb stumm auf der Fensterbank sitzen.

Nach einer Weile lehnte sie sich an seinen alten, kaputten Schreibtisch und strich mit den Fingern über ein Bild, das Thomas dort liegengelassen hatte. Ein Bild seiner Pflegeeltern.

Sie kniff die Augen zusammen und hob es vom Tisch hoch, um es genauer betrachten zu können. Thomas sah wie sich ihre Augen weiteten. Doch es war ihm egal. Die Menschen reagierten oft so auf das, was er tat. Nun rutschte er von der Fensterbank und schritt zur Tür.

Die Frau sah ihn irritiert an und legte das zerkratzte Bild zurück, auf dem er mit einem spitzen Stift dort hin gestochen hatte, wo auf dem Bild ihre Herzen lagen. Auch ihre Gesichter hatte er zerkratzt.

Ohne ein Wort an sie zu wenden, ging er durch die Tür zur Treppe. Besuch wartete meist unten am Büro der Leitung, das wusste Thomas mittlerweile. So nahm er dem Büro gegenüber platz und wartete.

Die Frau war ihm nun gefolgt. Während sie noch sichtlich zerstreut wirkte, klopfte sie an die Tür. Der Leiter der Einrichtung öffnete ihr die Tür und lächelte, wendete ein paar Worte an sie und lächelte schließlich Thomas zu. Er bat ihn herein.

Thomas entdeckte zwei weitere Personen im Raum. Scheinbar ein Ehepaar. Sie trugen die gleichen Ringe an ihren Ringfingern und saßen dicht beieinander. Die Frau hatte streng zurück gebundene, blonde Haare und trug einen schicken Hosenanzug. Der Mann wirkte in seinem feinen Zwirn wie ein Geschäftsmann. Seine graumelierten Haare hatte er ordentlich zur Seite gekämmt, seine brauen Augen wirkten irgendwie weise, aber kühl und berechnend.

„Das ist Thomas“, erklärte der Leiter nun und legte seine Hand auf die Schulter von Thomas. Dieser spannte sich innerlich an.

„Thomas. Das ist Familie Bruce. Sie möchten gerne ein Kind aufnehmen und haben großes Interesse daran dich kennen zu lernen.“

Thomas sah zu dem Paar. Ob sie ihnen erzählt hatten, warum er hier war? Wussten sie, dass er seine Pflegeschwester gequält hatte? Er wusste dass es ein Psychologe mal sadistische Züge nannte. Was auch immer das bedeuten sollte.

Thomas war noch ein Kind, trotzdem war er nicht dumm. Und er hatte es satt mit sich spielen zu lassen. Sich benutzen und verletzen zu lassen. Er wollte so etwas nicht noch mal erleben, wollte nicht an eine Familie wachsen um dann durch das echte eigene Kind ersetzt zu werden.

Thomas sah kurz zu dem Leiter, dann musterte er erneut das Paar. Es sah ihm nicht aus wie ein übliches Ehepaar. Alle anderen Paare die er hier ein und aus gehen gesehen hatten, wirkten irgendwie... freundlicher. Die Frau, Mistress Bruce, räusperte sich, als sie sich erhob und dem Leiter der Einrichtung zu nickte. „Können wir vielleicht eben vor der Tür sprechen?.“

Dieser willigte ein und verließ schließlich mit ihr den Raum.

Thomas stand noch immer in der Mitte des Raumes. Er hörte die Wanduhr ticken, während er und der Mann einander ansahen. Der Mann legte den Kopf etwas schief als er nun zu Thomas sprach. „Du bist nun schon drei Monate hier, richtig?“

Thomas antwortete nicht. Trotzdem ließ sich Mister Bruce nicht beirren und sprach weiter. „Du bist neun Jahre alt, richtig? Sicher schon ein starker Bursche.“

Wieder antwortete wieder Thomas nicht. Der Mann, der ihm so völlig fremd war, schien doch schon einiges über ihn zu wissen. Doch etwas wusste er sicher nicht.

„Ich habe meiner Pflegeschwester weh getan.“

Er sah den Mann ungerührt an, beobachtete seine Reaktion auf dieses Geständnis.

Der Mann nickte. „Das weiß ich“ „Ich mochte sie nicht“

Der Mann lächelte. „Wer mag schon jemanden, der einem etwas weg nimmt?“ Es war als spräche er aus seiner Seele. Thomas nickte.

„Wenn du mit uns kommst, wird dir niemand etwas weg nehmen. Alle sind gleich.“ erklärte der Mann nun. Thomas zuckte die Schultern.

„Und wenn ich sie auch nicht mag?“

„Niemand wird dich zwingen deine Gefühle zurück zu halten. Wir würden dich deswegen nie weg geben.“

Thomas sah den Mann skeptisch an.

„Es macht dir Spaß, anderen weh zu tun, oder?“ Der Mann nickte langsam und lächelte. „Es ist interessant. Eine Wissenschaft für sich, dieses Gefühl, anderen Schmerz zufügen zu können. Es hat dir das Gefühl gegeben stärker zu sein, oder? Dieses Gefühl von Macht.“

Thomas wusste nicht, wie er darauf antworten sollte. Nun öffnete sich die Tür wieder und der Einrichtungsleiter und Mistress Bruce kamen zurück in den Raum. Der Leiter sah Thomas lächelnd an. „Ich denke, du könntest dich bei ihnen sehr wohl fühlen, Thomas. Mistress Bruce erzählte mir gerade von der tollen Schule, die du in ihrer Nähe besuchen könntest. Sie wäre wie geschaffen für dich. Möchtest du den Tag mit ihnen verbringen, um sie besser kennen zu lernen?“ Thomas schüttelte den Kopf. „Ich möchte mit ihnen gehen.“

Der Leiter der Einrichtung wirkte etwas verwundert und überrascht. Er sah das Paar zögernd lächelnd an, dann sah er wieder zu Thomas. „Bist... bist du dir sicher? Das ist keine Entscheidung die man mal eben so trifft“ „Ich mag sie. Mister Bruce ist wirklich nett.“

Thomas kannte diesen Mann nicht. Und doch hatte er das Gefühl, er würde ihn verstehen. Zum ersten Mal seit langer Zeit war da jemand, der wusste wie sich Thomas fühlte. Es war besser als das hier. Besser als dieses Heim, dachte Thomas. Hier wo ihn jeder nur verachtend ansah und Angst um die anderen Kinder hatte. Dort würden Mister und Mistress Bruce sicher keine Angst deswegen haben.

Thomas war sich sicher. Es würde anders werden, als in seiner letzten Pflegefamilie, aber es würde ihm gut gehen, da war er sich sicher.

Mister Bruce konnte genau sagen, wie es ihm damit ging. Er hatte das ausgesprochen, was Thomas nur zu denken gewagt hatte. Wer mochte schon jemanden, der einem etwas wichtiges weg nahm? Und genau das war es, was seine Entscheidung fest stehen ließ. Thomas fühlte sich zu ihm verbunden. Egal wie viele Familien hier auch ein und aus gingen, sie waren es, wo Thomas hin gehörte.

Und so ging alles auch ganz schnell. Das Jugendamt wurde informiert, Formulare wurden ausgefüllt, Erlaubnisse wurden eingeholt. Und dann war Thomas schon auf dem Weg in sein neues zu Hause. An einen Ort, an dem er sich nicht verstellen, verstecken, oder für seine Gefühle und Handlungen schämen musste. An einen Ort, an dem er verstanden wurde. Und an einen Ort, an dem mehr so waren wie er, als er dachte.

Zerbrochene Seelen

Подняться наверх