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ОглавлениеFebruar 2000
Miss Tenner schob die vielen Ordner auf dem Beifahrersitz ihres Mercedes zur Seite und suchte nach dem Ordner des Klienten, dessen zweiten Besuch sie abstattete. Der Erste war einige Monate her, kurz nachdem Dennis im August zu der netten Familie gekommen war. Familie Reacher im Fall Dennis Lloyd, dachte Miss Tenner und fand nun endlich unter dem Stapel die richtige Akte.
Sie schob den schmalen Ordner in ihre Tasche, holte einen Kugelschreiber aus dem Handschuhfach und stieg aus. Doch schon beim Aussteigen fiel ihr etwas bedenkliches auf. Es war sechs Uhr am frühen Abend. Natürlich war es möglich, dass die Familie bei einem spontanen Besuch nicht zu Hause war und deswegen kein Wagen in der Einfahrt des schönen Hauses stand. Doch es waren eher die leeren Fenster, die sie stutzen ließen.
Keine Gardinen und der Blick durch die nicht verdeckten Fenster ließen in die kahlen Räume blicken, die von der Straße aus sichtbar waren. Miss Tenner fragte sich, ob die Familie umgezogen war. Sie kramte den Ordner aus ihrer Tasche und blätterte nach. Eigentlich war die Familie dazu verpflichtet einen Umzug zu melden. Vielleicht hatte sie diese Meldung übersehen oder vergessen. Doch beim Durchblättern des Ordners wurde schnell klar, dass kein Umzug vermerkt war.
Sie kramte ihr Handy hervor und wählte die Handynummer des Familienvaters. Kein Anschluss unter dieser Nummer, ein schrilles Tuten ertönte. Nun ziemlich irritiert, versuchte sie es auch auf der Nummer der Frau, doch es war das Gleiche. Ein ungutes Gefühl machte sich in ihr breit. Sie schob das Handy weg und ließ die Tasche in ihrem Wagen, ehe sie auf das Haus zu steuerte. Immer wieder sah sie sich um und fühlte sich etwas beklommen. Hoffentlich hielt sie niemand für einen Einbrecher.
An den Fenstern angelangt warf sie einen Blick in des Innere das Hauses. Es war fast völlig ausgeräumt. Vereinzelte Möbel standen noch vereinsamt an den Wänden. Doch der Rest war weg. Aber wie sollten sie das geschafft haben? Sie sah sich sorgfältig um, ging von Fenster zu Fenster. Doch in jedem Raum war es das selbe. Alle waren sie nahezu vollkommen leer.
„Kann ich Ihnen helfen?“ rief nun ein älterer Mann vom Nachbargrundstück, der einen Müllbeutel in der Hand hielt. Miss Tenner nickte, wusste aber nicht so recht wo sie anfangen sollte. Sie wich von den Fenstern zurück und ging dem Mann entgegen. Sie räusperte sich nervös. „Die Familie, die hier gelebt hat... ich wusste nicht, dass sie umgezogen waren“
Der alte Mann nickte keuchend, scheinbar fiel es ihm schwer sich auf den Beinen zu halten. „Da müssen sie aber lange keinen Kontakt mehr gehabt haben.“ Er zeigte auf das Haus. „Das Haus steht schon seit fast fünf Monaten leer.“
Miss Tenner keuchte entsetzt. Fünf Monate? Wie um Himmelswillen war das möglich? Sie versuchte ihre Fassung wieder zu erlangen und hakte weiter nach. „Und wissen Sie, wo die Familie hingezogen ist?“
Der Mann schnaubte. „Sie sind so plötzlich und schnell verschwunden, wie sie aufgetaucht waren“ „Plötzlich, sagen Sie?“
Sie begann zu grübeln. Laut der Papiere besaß die Familie das Haus schon seit sieben Jahren. „Wann genau war die Familie in das Haus eingezogen?“ „Mhh“, er grübelte, „Das muss Ende Juli gewesen sein... ja.“ Er nickte. „Das war kurz nach dem Geburtstag meiner Frau.“
Miss Tenner begann die Aussage des Mannes anzuzweifeln, obwohl er einen klaren Eindruck machte. Aber so war es manchmal mit älteren Menschen. Sie brachten Dinge und Daten durcheinander. Wie sonst sollte das möglich sein? Sie hatten ihr die Papiere gezeigt. Alles. Ihre Eheurkunde, die Kaufpapiere des Hauses. Und sie hatte es in den Datensätzen überprüft. Das sie erst im Juli eingezogen sein sollen, ergab keinen Sinn. „Wo ist die Familie hingezogen?“, fragte sie nun erneut.
Obwohl sie schon die Vermutung hatte, dass es sinnlos war, das zu fragen, sollte er wirklich verwirrt und senil sein.
Er schüttelte den Kopf. „Das weiß ich wirklich nicht. Sie haben über Nacht das Haus verlassen.“ „Über Nacht?“
Miss Tenner schnaubte und zweifelte das Gedächtnis des Mannes nun wirklich an. Es war zwecklos mit ihm zu reden. Wie sollten sie über Nacht ihre Möbel ausräumen und in einen Umzugswagen, oder wo immer sonst hin, verstaut haben?
Miss Tenner sah sich auf der Straße um und hielt Ausschau nach anderen Nachbarn, die sie fragen könnte.
„Stand jemand aus der Nachbarschaft in engerem Kontakt zu ihnen?“
Nun wendete sie ihre Aufmerksamkeit wieder dem älteren Mann zu. Dieser schüttelte den Kopf. „Nicht direkt. Ihr Sohn ging in die selbe Schule wie der Millers Junge.“ „Millers? Wo finde ich die?“ „Dort!“, er zeigte auf die andere Straßenseite, fünf Häuser weiter, „Aber er und der andere Junge haben sich nicht gut verstanden. Er hat ihn mal ziemlich böse gebissen.“
Miss Tenner klappte fast der Mund auf. All das waren Vorfälle, die gemeldet werden müssen. Wenn schon nicht von der Familie, dann von der Schule. Das würde ein Nachspiel haben, das wusste sie jetzt schon. In der Einfahrt des Hauses, das ihr gerade der ältere Mann gezeigt hatte, standen zwei Autos, was darauf schließen ließ, dass die Familie Miller zu Hause war.
Miss Tenner bedankte sich bei dem Mann und steuerte schließlich das Haus der genannten Familie Miller an. Als ihr die vermeidliche Familienmutter die Tür öffnet, sah sie diese verwirrt an. Sie schaukelt den schätzungsweise acht Monate alten Säugling auf ihrem Arm und wirft einen Blick über die Straße. „Kann ich Ihnen helfen?“ „Mistress Miller?“ fragte Miss Tenner nun sicherheitshalber.
Diese nickt. „Ja..“ nun wirkt sie alarmiert und verunsichert, „Ist etwas passiert?“ „Es geht um die Familie, die in Haus 84 gewohnt hat. Familie Reacher.“
Die Lippen der noch recht jungen Frau pressten sich etwas zusammen, was Missbilligung signalisierte. Sie kannte die Familie, doch ganz offensichtlich war das nicht positiv. „Was ist mit denen?“ fragte sie nun, ein patziger Unterton in der Stimme.
„Ich hatte gehofft Sie könnten mir ein paar Informationen zu deren Umzug geben."
Sie schüttelte gleich den Kopf. „Ich weiß nichts.“
Sie wollte Miss Tenner schon abwürgen, doch diese blieb hartnäckig „Bitte, Mistress Miller. Es ist wichtig. Es geht um Kindeswohl.“
Mistress Miller grunzte. „Kindeswohl? Das hätte man mal bedenken sollen, bevor man deren Sohn auf eine öffentliche Schule geschickt hat.“
Miss Tenner nickte. „Der Nachbar erzählte mir von einem Vorfall“ „Einem?“ Mistress Miller wirkte nun bestürzt, „Wenn es nur der gewesen wäre. Er hat meinen Sohn terrorisiert. Es war schrecklich.“
Sie gab ihrem Jüngsten, der auf ihrem Arm saß, einen Kuss auf den Kopf „Ich bin froh, das sie weg gezogen sind.“ „Wann genau war das?“
Nun holte Miss Tenner einen Stift und ein Klemmbrett hervor, auf dem sie alles notieren konnte. Mistress Miller zuckte die Schultern. „Es fiel zuerst niemandem auf. Ihr Sohn ging öfter nicht zur Schule. Er erzählte den anderen Kindern mal, dass er privat unterrichtet werden würde. Das erzählte Richard mir.“
„Ihr Sohn?“
„Ja. In viel wichtigeren Dingen, wie er behauptete. Ich glaube, sie haben ihm Kampfsport beigebracht und... schlimmeres.“
Miss Tenner runzelte die Stirn. „Was meinen Sie?“
Mistress Miller wedelte mit der freien Hand vor ihrem Gesicht, fächerte sich Luft zu. „Hören Sie, ich bin einfach nur froh das sie weg sind. Es war im September, wenn ich mich nicht irre.“
„Bitte“ Miss Tenner sah das es Mistress Miller schwer fiel, darüber zu reden, dennoch waren diese Informationen sehr wichtig für sie. „Wäre es möglich, sich in Ruhe zu unterhalten? Ich brauche diese Informationen wirklich dringend!“
Mistress Miller musterte sie. „Wer genau sind Sie eigentlich?“
Nun reichte Miss Tenner ihr die Hand. „Tenner, von der Jugendfürsorge Massachusetts. Ich bin für den Fall Dennis Lloyd zuständig.“
Mistress Millers Gesichtsausdruck wechselte von empört bis hin zu entsetzt „Dennis Lloyd? Ist das der Junge? Ich wusste ja gar nicht... mir war nicht klar das...“ „Die Familie Reacher adoptierte den Jungen im August letzten Jahres.“ erklärte Miss Tenner, obwohl sie es genau genommen nicht durfte. Doch sie hatte die Hoffnung, dass Mistress Miller durch ihre Offenheit kooperativer sein würde.
Diese seufzte nun und gab nickend den Weg frei. „Kommen Sie rein, Miss Tenner!“
Sie gingen vorbei an einem offenem Raum, in dem der Fernseher lief. Dann gelangten sie in die großzügige Küche, die für einen vierköpfigen Familienhaushalt viel Platz bot. Mistress Miller bot ihr einen Stuhl an, setzte ihren jüngsten Sohn in seinen Hochstuhl und kochte Wasser in einem Wasserkocher auf. „Darf ich Ihnen einen Tee anbieten?“ „Danke, nein.“
Miss Tenner war zu unruhig, als das sie noch in Ruhe einen Tee genießen konnte. Es gab viel zu viele Fragen, die ihr durch den Kopf schwirrten. „Wann genau zog die Familie Reacher in das Haus gegenüber ein?“
Mistress Miller lehnte sich an die Arbeitszeile. Dann griff sie nach einer Trinkflasche und stellte sie ihrem Sohn auf die Ablage des Hochstuhls. „Es war so im Juli, wenn ich mich recht entsinne.“
Miss Tenner fühlte sich, wie in einem schlechten Film. Hatte der alte Mann doch das richtige erzählt? Stetig wachsendes Entsetzen machte sich in ihr breit. Das war Urkundenfälschung. Aber wie hatten sie das geschafft? Und was war dann nun aus dem Jungen geworden, dem kleinen Dennis, der in die Obhut dieser betrügerischen Familie gegeben wurde?
„Sind Sie sich ganz sicher?“ Miss Tenner schüttelte den Kopf. „Ich meine, im Juli welchen Jahres?“ „Letztes Jahr.“ antwortete Mistress Miller selbstverständlich.
„Und wann waren Sie noch gleich verschwunden?“ Sie hakte weiter nach und fühlte sich wie in einem Alptraum. Das war einfach nicht möglich. Entsetzlich, grauenhaft. Sorge und Angst machte sich um den armen Jungen in ihr breit.
„Es war so im September. Wie gesagt, Dennis kam öfter nicht zur Schule, weil er von seinem Vater selbst unterrichtet wurde.“ „Sie sagten zuvor in Kampfsport und anderen schrecklichen Dingen. Was meinten Sie damit?“
Mistress Miller drückte ihre Hand auf ihren Bauch, als sei ihr nicht wohl bei der Erinnerung.
„Also... unser Richard ging mit ihm auf die gleiche Schule. Richard wollte nett sein. Mein Mann und ich haben ihn noch dazu ermutigen können, damit Dennis Anschluss findet. Hätte ich gewusst was... was er ihm antut...“ Sie brach ab und kämpfte mit den Tränen. „Mistress Miller, was hat er Ihrem Sohn Richard angetan?“ hakte Miss Tenner nach.
Mistress Miller holte tief Luft. „Sie fuhren gemeinsam zur Schule. Am Anfang hat es mich noch gefreut, dass sie sich gleich so gut zu verstehen schienen. Aber Richard wurde mit der Zeit immer verschwiegener. Sie verabredeten sich nach der Schule und gingen im nahegelegenen Wald spielen. Ein Mal, da kam Richard nach Hause und seine Hose war voller Blut. Ich dachte, er hätte sich beim Spielen verletzt, aber als ich ihn abends weinend hörte, als er schlafen sollte, erzählte er mir die Wahrheit.“
Wieder hielt sie inne. Der Wasserkocher sprudelte und sie hob ihn hoch und goss sich das heiße Wasser in eine Tasse. Dann gab sie einen Teebeutel dazu und nahm ebenfalls platz. Als sie mit einem Löffel Zucker einrührte, zitterte ihre Hand und der Löffel schlug klirrend an das Porzellan.
„Dennis hat Richard dazu gezwungen... sie haben einen Hasen gefangen, mit Stacheldraht. Er hat Richard gezwungen, den Hasen aufzustechen.“
Miss Tenner war zum Erbrechen zumute, bei dem Gedanken. Ihr ganzer Körper verkrampfte sich.
„Richard hat sich geweigert, also hat es Dennis selbst getan und ihn mit dem toten Tier beworfen und ihn als Weichei bezeichnet. Seit dem ging er ihm aus dem Weg. Dann prügelten sie sich mal in der Schule. Dennis ließ ihn in der Schule nicht in Ruhe. Er provozierte ihn und stichelte. Dann hat er ihn gebissen, als sich Richard wehrte.“
„Mein... Gott!“ stieß Miss Tenner erstickt hervor. Sie wusste um Dennis Akte und Vergangenheit. Aber dass es so furchtbar war, hatte sie nicht geahnt.
„Richard erzählte mir, dass Dennis ihm erzählte, dass sein Vater ihm das Jagen und Töten beibrachte.“ fuhr Mistress Miller fort. „Richard konnte viele Nächte nicht schlafen. Mein Mann und ich waren verzweifelt und haben einen Spezialisten hinzu gezogen.“
„Einen Psychologen.“ ergänzte Miss Tenner und schauderte erneut. Sie konnte gut verstehen, das diese Ereignisse Richard wirklich traumatisiert haben mussten.
„Halten Sie mich bitte nicht für herzlos.“ Mistress Miller sah Miss Tenner flehend an. „Aber ich bin wirklich erleichtert, das sie weg gezogen sind.“ „Ja...“
Miss Tenner war nun um so erleichterter, keinen Tee trinken zu müssen. Sie würde keinen Schluck herunter bekommen, angesichts dieser Informationen.
„Wie haben sie es geschafft, über Nacht das ganze Haus auszuräumen, ohne das es jemand mitbekommen hat?“ hakte Miss Tenner nun nach.
Mistress Miller schüttelte den Kopf. „Haben sie nicht. Es war die Stadt, die das Haus auflösen ließen. Sie haben alle Möbel und Kleidungsstücke zurück gelassen.“
Miss Tenner klappte der Mund auf. „Sie haben alles zurück gelassen?“ „Ja. Jetzt steht das Haus seit dem leer. Niemand in der Gegend möchte es kaufen, nachdem was dort gefunden wurde.“ „Gefunden?“
Miss Tenner dachte schon, dass es schlimmer nicht kommen konnte. Doch da irrte sie sich offensichtlich.
„Was wurde dort gefunden?“ „Im Keller waren Ketten an den Wänden befestigt. Überall auf dem Boden lag altes Blut. Tierkadaver und Knochen, Jagdwaffen.“ Mistress Miller schauderte heftig. „Richard weiß nichts davon. Er hat auch so schon genug zu verarbeiten.“
Entsetzt stand Miss Tenner auf. Sie musste etwas tun. Irgendetwas. Aber was genau wusste sie nicht. War sie zu nachlässig gewesen? Hätte sie schon viel eher nach ihnen sehen sollen? Hätte es sich so verhindern lassen können? Was hatten sie jetzt mit Dennis gemacht? Sie mussten den Jungen finden, wenn es nicht schon viel zu spät war.
Doch sie ahnte bereits, dass eine Suche nach fast fünf Monaten nahezu zwecklos war. Sie konnten mit ihm schon über alle Berge sein. Weit weg ins Ausland, wo sie ihre grausamen Erziehungsmaßnahmen fortführten.
Am liebsten hätte sich Miss Tenner übergeben, dachte sie nun, nicht zum ersten Mal, seit sie den Besuch begonnen hatte.
Wie hatte sie so furchtbar blind sein können.? Der augenscheinliche Lichtblick für eines von vielen verwaisten Kindern, war zu einem Horror ohne Ende geworden. Und sie hatte es unterstützt. Ahnungslos hatte sie eine zarte Seele in die Hände von grausamen Monstern gegeben und fühlte sich selbst wie eines.
Ihre Beine gaben unter ihr nach. Das musste ein Alptraum sein. Wie war all das möglich? Sie hatte ein armes, hilfloses und junges Leben für immer ruiniert und konnte nichts mehr daran ändern.
Sie hörte die Stimme der jungen Frau nur noch wie in Trance, weit entfernt. Eine Wahrheit, eine Wirklichkeit, die so entsetzlich und grauenhaft war, das es einem vorkam wie in einem Horrormärchen, wurde für sie zur Realität. Eine Tatsache, die sie nun tief und immer tiefer in ein schwarzes Loch fallen ließ.
Bald darauf arbeitete Miss Tenner schon nicht mehr für die Jugendfürsorge, sie zog sich zurück und spielte mit Selbstmordgedanken. Das Wissen, dass sie ein Kind in die Hände von Monstern gegeben hatte, ohne nur den Hauch einer Ahnung, was sie da tat, ruinierte auch ihr ganzes Leben