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Das Leben sehen

Der Frühling ist nun mit voller Kraft da. Allenthalben blüht, grünt und sprießt es.

Auch unser Kirschbaum steht jetzt in vollster Blüte. Vor strahlend blauem Himmel konnten wir ihn gestern bei schon sommerlicher Wärme bewundern.

Am letzten Montag fragte ich, als ich von meinem Blick auf die gerade sich erst öffnenden Kirschblüten sprach: „Was sehe ich da?

Gestern kam die Frage, angeregt und ausgelöst durch die Lektüre einer wunderbaren Darlegung zum Herz-Sutra – einem für die zenbuddhistische Tradition zentralen Text – von dem vietnamesischen Zen-Meister Thich Nhat Hanh41: „Woher kommen alle diesen Kirschblüten auf einmal?“ Eine kindliche Frage, so könnte es scheinen. Es ist aber – wie so viele von sog. Erwachsenen als kindliche Fragen abgetane Fragen – eine weit reichende, besser vielleicht: eine tief gehende Frage. Waren die Kirschblüten vorher nichts? Wo waren sie? Wir können dazu biologisch richtige Antworten geben, deren Einzelheiten hier nicht wichtig sind. Wichtig ist, dass wir dabei sehen, was jegliche Existenz von belebter und sog. unbelebter Materie, von fühlenden und von nicht fühlenden Dingen ausmacht: der laufend stattfindende Wechsel, der ständige Wandel, die endlose Transformation, in der alles, was existiert, nicht in nichts verwandelt werden kann. Und genauso wenig aus nichts geboren werden kann. Es gibt nur ein Fortdauern in stetem Wandel, in der (Un-)Beständigkeit des ständigen Wechsels von Augenblick zu Augenblick.

Dies hat – wie Thich Nhat Hanh zu Recht betont – „nichts mit dem Glauben an Reinkarnation zu tun, sondern es ist die Geschichte vom Leben auf der Erde“42, und zwar auch „unseres“ Lebens als Menschen auf dieser Erde.

„Nichts kann geboren werden, und folglich kann auch nichts sterben.“43

Um diese Natur der Welt, um dieses Geheimnis des Lebens nicht nur gedanklichphilosophisch, sondern im Wege einer Erfahrung zu erkennen, geht es im Zen. Zen tritt so nicht in Konkurrenz zu den verschiedenen Religionen und ihren Glaubensinhalten, sondern stellt ein Angebot dar für jeden, durch die Übungspraxis und die radikalen Impulse des Zen in seiner Tradition und/oder auch nur in seinen Lebensfragen tiefer „voran“ zu kommen. Wodurch? Durch ein Transparentwerden der Trennungen, wie sie unser „Subjekt-Objekt-Bewusstsein“ ständig wie von selbst vornimmt. So möchte ich es beschreiben.

Um wieder mit Thich Nhat Hanh zu sprechen, „wir müssen das Leben sehen.“ Wir sollten

„nicht vom Leben [zum Beispiel] eines Blattes [oder einer Kirschblüte] sprechen, sondern vom Leben in einem Blatt [oder in einer Kirschblüte] und Leben in einem Baum. Mein Leben ist nichts als Leben, ihr könnt es in mir und in dem Baum sehen.“ 44

Meine Bitte an uns alle ist, dem genau und genauer nachzugehen, es im Atemgeschehen zu ergründen: Mein Leben ist nichts als Leben. Nicht das Leben eines Menschen, einer Blüte usw., sondern Leben in dieser und in jener Form!

Und da es immer so weiter geht das Leben, selbst im Staub, selbst in der Asche, im Wasser, in der Erde, in der Luft, ist da eben immer und unendlich was? Leben! So transzendiert Leben Geburt und Tod und unsere Angst davor!

Das, was ich hier sage als Ausdruck dessen, was buddhistisch mit dem Begriff „Leere“ oder „Leerheit“ bezeichnet wird, d.h. nicht nichtexistent zu sein, sondern „leer von einem eigenständigen Selbst zu sein und daher voll von allem, erfüllt von Leben zu sein“45, soll bitte nicht als Gegensatz oder gar als Aufhebung zum Beispiel christlicher Glaubensvorstellungen zu Leben, Tod, Auferstehung, ewigem Leben verstanden werden, sondern als ein Hinweis dahin, durch ein Durchsichtigwerdenlassen unserer dualistisch geprägten Vorstellungen eines bloßen „Subjekt-Objekt-Bewusstseins“ zu einer (Ein-)Sicht zu gelangen, die – christlich gesprochen – dem entspricht, was die Jünger Jesu an Ostern erfahren haben: Dass es eine Überwindung des Todes und seiner Furcht vor ihm gibt, indem wir das Leben in uns, das göttliche Leben in uns vollständig, ohne jeden Vorbehalt und ohne jedes Unterscheiden- und Verstehenwollen bejahen, indem wir – anders geht es wahrlich nicht – alles „sausen“ lassen, was wir mit unserem „Subjekt-Objekt-Bewusstsein“ „auf Teufel komm raus“ (!) festhalten wollen. Die Aufgabe von allem vorher Vorgestellten und mit Eifer und Inbrunst Verfolgtem – das war das, was den Jüngern geschah an Ostern, so empfinde ich das.

Jeder von uns, egal, wo und wie er sich religiös oder nichtreligiös verortet, ist da aufgerufen, sich dieser Herausforderung, alles loszulassen, alles „etwas“ sterben zu lassen, zu stellen, weil wir doch alle teilhaben an diesem Leben in uns und allem anderen.

Welch ein Reichtum wartet da auf Entdeckung!

In diesem Sinne wünsche ich „Frohe Ostern“!

41 Thich Nhat Hanh, Mit dem Herzen verstehen, 6. Auflage, 1999.

42 A.a.O., S. 44.

43 A.a.O., S. 45.

44 A.a.O., S. 52.

45 A.a.O., S. 38.

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