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Die Augen offenhalten

In der letzten Woche waren Ulrike, Frank und ich zu Besuch bei einer Zen-Gruppe in Köln, die als Regionalgruppe unserem Programm „Leben aus der Mitte“ angeschlossen ist und dort in einem sehr schönen (aber bitter kalten) Raum mit einem kleinen Häuflein regelmäßig jeden Mittwochabend zusammenkommt, umzingelt von Verkehrsadern und eingepfercht in die wiederum enge Wohnbebauung rund um das Gemeindehaus. Das zu erleben hatte schon etwas Anrührendes und zeigte sehr schön symbolhaft auf, wie es um all die Menschen steht, die sich der Meditation verschreiben.

In dem Gespräch, welches wir vor der Meditation gemeinsam führten, kam u. a. die Frage nach der Augenhaltung während der Sitzmeditation, dem Zazen, auf.

Es ist ja so, dass allgemein empfohlen wird, die Augen geöffnet zu halten, sie also nicht zu schließen. Andererseits aber soll man mit dem Blick nicht „wandern“ oder etwas fixieren, die Augen also nicht auf etwas Bestimmtes fokussieren. Deshalb ist es am besten, die Augen nur halb zu öffnen und den Fokus auf „unbestimmt“ einzustellen. Wenn wir die Augen schließen, geraten wir regelmäßig ins Träumen und hängen inneren Bildern nach. Allerdings geschieht es nahezu jedem Meditierenden, dass sich die Augen schließen, sei es, weil er unruhig ist und er so erst einmal zu einer gewissen Ruhe finden kann, sei es, weil er gerade in eine tiefe Phase seiner Meditation eintaucht. Das alles ist vollständig in Ordnung. Dennoch sollten wir, wenn uns das bewusst wird, uns sanft ermahnen und die Augen wieder leicht öffnen, ohne uns davon wiederum allzu sehr ablenken oder irritieren zu lassen.

Neben diesen eher „technischen“ Gründen, die Augen möglichst geöffnet zu halten und sich gleichzeitig nicht auf etwas Bestimmtes zu konzentrieren (was unsere Augen gewöhnlich zu tun versuchen bzw. korrekter: unser Geist), gibt es auch einen für mich immer deutlicher werdenden Grund dafür, die Augen nicht zu schließen bzw. immer wieder leicht zu öffnen. Diese Ausrichtung sollte Ausdruck dafür sein, dass Zen-Meditation nicht dazu führen sollte, die Augen vor der uns umgebenden phänomenalen Welt mit ihren Sorgen, Nöten, Problemen – aber auch mit ihren lebenswerten, liebenswerten und Freude schenkenden Dingen und Umständen zu verschließen.

Der sog. leere Blick, den wir im Zazen üben sollten, steht auch für den Blick, den wir im Leben auf das Leben einüben sollten, einen nicht einengenden Blick, einen nicht ausschließenden Blick in genauer Wahrnehmung dessen, was ist – in „warmer“ Wahrnehmung! Einen Blick also auf die Welt in nachsichtigem Bewusstsein, in nachsichtigem Gewahrsein, in „merciful awareness“ also. Eine solche Bewusstheit zu kultivieren sehe ich, motiviert durch meinen Lehrernamen, der mir von meinem Meister, P. Johannes Kopp (Hôun-Ken Roshi), gegeben wurde, als mein tiefstes Motiv an für all das, was mir im Leben (und „Lehren“) noch möglich sein wird. Ich sehe das Wachsen dieser Bewusstheit auch in jedem ernsthaft Übenden. Man kann dem irgendwann auch gar nicht mehr entgehen. Das ist dann einfach so.

Das ist dann auch der Unterschied zu all den vielen unversöhnlichen, ab- und ausgrenzenden, von Vorurteilen, falschem Selbstbewusstsein und Macht- und Geltungsansprüchen geprägten Äußerungen und Handlungen, die wir in letzter Zeit immer mehr und verstärkt in Staaten und Gesellschaften und zum Teil in Religionsgemeinschaften auch und gerade in Europa und den USA feststellen müssen.

Es darf doch nicht sein, dass eine Religionszugehörigkeit darüber entscheiden soll, ob ich in ein Land einreisen darf oder nicht – so aber Steve Bannon, US-Präsident Donald Trump sowie der damalige AfD-Vorsitzende Alexander Gauland in einem Interview vom 4. 3. 2017 in der WAZ. So etwas ernsthaft zu propagieren oder gar zu versuchen, es umzusetzen, kann nur durch ein und in einem Bewusstsein geschehen, das, auf Vergangenheit, auf vermeintliche Größe, auf Glanz und Ruhm alter Zeiten und kämpferische, kriegerische und ideologische Auseinandersetzungen fixiert, diese alte Geltung von sich selbst, des Staates, der Gesellschaft, der Religion wieder herstellen, und sich so vollständig aus der Wirklichkeit des wahren Lebens, der Lebens-Wirklichkeit jetzt, entfernen will. Die „Kürbisse“ streiten sich und bekämpfen sich. Sie wollen sich gegenseitig den Platz streitig machen. Sie sehen nicht, sie ahnen oftmals nicht einmal, dass sie miteinander verbunden sind. Anders als jene Kürbisse in der wunderbaren Geschichte von Kosho Uchiyama Roshi6, mit der ich mein letztes Buch abgeschlossen habe7. Nachdem jene von dem Tempelmönch, auf dessen Feld sie hinter dem Tempel wuchsen, zum Zazen verdonnert worden waren und dabei verwundert feststellten, dass es eine Pflanzenstrippe gab, die von einem zum anderen verlief und sie zusammenhielt, kommen diese „Kürbisse“ nicht zur Erkenntnis:

„Das ist doch merkwürdig. Wir sind alle miteinander verbunden und leben ein einziges Leben: dabei sind wir uns törichterweise in die Haare gefahren. Was für eine Dummheit!“

Ja, wie töricht und dumm. Wie traurig! So werden weiterhin fixe Ideen, zu Dogmen erhobene Vorstellungen und verklärende „Erinnerungen“ sowie letztlich rein begriffliche Hirngespinste mit einem Scheinleben aufgeblasen und auf diese Weise versucht, das dynamische wahre Leben, das immer etwas Gegenwärtiges und Unbegrenztes ist, zu ersticken, anstatt das Leben aus seiner Wirklichkeit, die nicht mein ist, zu erleben8.

Kannst Du in Samadhi, in der Versenkung des Zazen wirklich jemanden als einen Anderen sehen, gar jemanden als deinen „Feind“ betrachten?

Eben!

Und deshalb ist es so wichtig, was wir hier tun und was wir in das Leben hinaustragen.

Danke!

6 Kosho Uchiyama Roshi, Weg zum Selbst – Zen-Wirklichkeit, 1973, S. 92-96.

7 Zen – inmitten des Alltags; 52 Wünsche für einen guten Heimweg, 2018, S. 237 ff.

8 Vgl. dazu auch Kosho Uchiyama, a.a.O., S. 42 – 44.

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