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Das Wunder, auf der Erde zu leben

Neulich suchte ich meinen Änderungsschneider auf. Eine Hose musste gekürzt werden. Das mag verwunderlich klingen, wenn man wie ich 1,98 m lang ist. Aber das gibt es. Also ging ich zu meinem Änderungsschneider in dem kleinen Geschäftszentrum, welches sich bei uns in Laufnähe befindet. Vor mir eine (Über-)Mutter mit ihrer Tochter, die offenbar einen Schulabschluss feiern wollte, wie das heutzutage so üblich geworden ist, in einem langen Kleid.

Es dauerte und dauerte. Ich setzte mich auf einen klapprigen Stuhl neben dem Eingang und tat, was ich immer in solchen Situationen tue. Ich nahm mein iPhone und öffnete meine Bibliothek, wählte Thich Nhat Hanh: Der furchtlose Buddha, den ich zur Zeit in solchen Wartepausen lese, und vertiefte mich in ein kleines Kapitel, während ich natürlich das ganze „dramatische“ Geschehen um die richtige Länge des Kleides gleichzeitig auch mitbekam.

Dann die Mutter in gespielter Rücksichtnahme: „Oh, haben Sie die ganze Zeit warten müssen?“ (Was denn sonst?) Ich sagte: „Kein Problem.“ Der Schneider: „Ein geduldiger Mensch.“

Als Mutter und Tochter gegangen waren und nur noch ein Schleier ihrer Aufregung und Wichtigkeit in dem auf einem Bügel deponierten Kleid und im Raum hing, las ich dem Schneider, der allseitig interessiert und (leider) auch sehr redselig ist, dann folgenden Satz vor, den ich gerade bei Thich Nhat Hanh gelesen hatte:

„Wir sollten jeden Tag so leben wie Menschen, die gerade dem Tod auf dem Mond entronnen sind.“57

Der Schneider verstand – natürlich – nichts.

Ihr versteht vielleicht etwas mehr. Aber auch ihr bedürft – nehme ich an – dazu einer Erläuterung.

Der zitierte Satz steht in einem Kapitel mit der Überschrift: Würdigen, wo wir sind. Es beginnt mit der Aufforderung, man solle sich vorstellen, dass zwei Astronauten zum Mond fliegen. Sie sind nun auf dem Mond. Da geschieht ein Unfall. Ihr Sauerstoffvorrat reicht noch für zwei Tage. Sie können nicht zurück zur Erde. Es besteht keine Hoffnung, dass jemand rechtzeitig von der Erde zu ihnen gelangt, um sie zu retten. Sie haben also nur noch zwei Tage zu leben.

Thich Nhat Hanh fährt dann fort:

„Würden Sie die Männer in diesem Augenblick fragen: ‚Was wünscht ihr euch am meisten?‘, bekämen Sie zur Antwort: ‚Wieder zu Hause zu sein und auf diesem wunderbaren Planeten zu wandeln.‘ Das wäre ihnen genug! …

Sie würden sich nur wünschen, wieder hier zu sein – auf der Erde zu wandeln, jeden Schritt zu genießen, den Klängen der Natur zu lauschen oder die Hand des geliebten Menschen zu halten, während sie nachts den Mond betrachten.“

Und dann folgt der schon zitierte Satz:

„Wir sollten jeden Tag so leben wie Menschen, die gerade dem Tod auf dem Mond entronnen sind.“

Dem setzt Thich Nhat Hanh später noch hinzu:

„Zen-Meister Linji (Rinzai) sagte, dass das Wunder nicht darin bestehe, übers Wasser oder durchs Feuer zu gehen, sondern darin, auf der Erde zu gehen.


Einfach nur zu gehen. Wenn wir so gehen, können wir andere inspirieren, es uns gleichzutun. Wir können jede Minute unseres Lebens genießen.“ 58

Gehen wir gut durch die Woche. Danke!

57 Thich Nhat Hanh, Der furchtlose Buddha, S. 46 (E-book).

58 A.a.O.

Wach da sein

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