Читать книгу Zwischensumme - Klaus-Gunther Häuseler - Страница 22

Vernissage

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Mir ist übel, speiübel. Stress pur. Erst dieses ewige Hin und Her. Vom Atelier zum Studio. Fotoshooting für den Ausstellungskatalog und die Versicherung. Ätzend die grellen Scheinwerfer. Ich hasse sie. Und das Klicken der Kamera, nervend. Dann erneut ins Auto und zurück ins Atelier. Ein paar Tage Ruhe. Und wiederum ins Auto, weiter zur Ausstellung: manchmal hunderte von Kilometern. Endlich angekommen. Eine neue Umgebung. Gewöhnungsbedürftig.

Pardon, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Mein Name ist „Weiblicher Akt I“. In meinem Steckbrief sind die Maße 70 x 90 cm verzeichnet. Besondere Merkmale: Acryl auf Leinwand, 390 Euro, ohne Rahmen. Vermutlich ist „ohne Rahmen“ mein Familienname. Hört sich doch gut an: Weiblicher Akt I ohne Rahmen, beinahe adelig.

Es gibt da noch die derer „mit Rahmen“. Sie machen einen etwas versnobten Eindruck. Kein Wunder, sind sie doch meist teurer. Geld verstellt eben häufig den Blick für die wahren Schönheiten. Und da brauchen wir „ohne Rahmen“ uns überhaupt nicht zu verstecken.

Etwas unglücklicher wirken die „ohne Titel“. Vermutlich fehlt denen noch der Vorname. Sie müssen wahrscheinlich noch getauft werden. Mal ehrlich, hört sich doch doof an: „Ohne Titel mit Rahmen“. Schlimmer noch: „ohne Titel ohne Rahmen“. Etwa wie: Nüchterner Antialkoholiker.

Im Großen und Ganzen haben wir „mit und ohne Rahmen“ miteinander keine größeren Probleme. Wir sind eben eine große Familie.

Doch zurück zu mir. Mir ist immer noch übel. Nach all den Aufregungen hänge ich mal wieder an der Wand in völlig fremder Umgebung. Links und rechts neben mir Gott sei Dank liebe Vertraute: „Männlicher Akt II ohne Rahmen“ und „Liebespaar I ohne Rahmen“. Alles sehr harmonisch.

Die Übelkeit ist beständig. Bis heute habe ich dagegen kein geeignetes Mittel gefunden. Meine Abneigung in Sachen Vernissage scheint unheilbar. Wenn sie gleich wieder alle herein strömen, diese „Kunstkenner“. Unentwegt bin ich den gierigen Blicken der Betrachter ausgeliefert.

Nicht, dass Sie mich falsch verstehen. Ich bin nicht prüde. Im Gegenteil. Ich bin in meiner Nacktheit schön. Stolz bin ich. Ich liebe Haut und Haar, Lust und Gier. Ich bin nicht „einfach nur ein Bild“. Ich bin ein Kunstwerk. Wenn ich erzählen würde. All diese Augenblicke im Atelier. Der Maler und sein Modell. Oh, là, là! Ganz viel davon ist in mir verewigt.

Das Unwohlsein hat Gründe. Diese vermeintlichen Kunstkenner sind es mit ihren schlimmen Kommentaren. Allen voran die Bürgermeister und Stadträte. Dankesworte an die Künstlerin oder den Maler, Grußworte an das zahlreich erschienene Publikum und die Partei und an Gott und die Welt! Keiner kann sich wehren, keiner kann entfliehen. Wir alle leiden unter diesen Verbalergüssen.

Doch es gibt noch eine Steigerung: Kulturamtsleiterinnen. Jawohl. Sie kommen mir häufig vor wie aufgetakelte unwissende Jungfern. Dabei sind es meist mittelalte ehemalige städtische Verwaltungsangestellte, die vermutlich nach ihrer ersten und letzten Entbindung sowie jahrelangem Erziehungsurlaub infolge völliger Entfremdung von geistiger Arbeit in der Verwaltung nicht mehr nutzbringend unterzubringen waren. Sie hätten besser keine Kinder bekommen und wären rechtzeitig in irgendeiner Abteilung untergetaucht. Kein Schaden für die Kunst, nur für den Steuerzahler. Aber jetzt sind sie da und schwafeln hanebüchenen Stuss.

Zum Beispiel: >>Man betrachte diesen das Gelb überlagernden Blauton. Diese Harmonie von Groß und Klein. Das völlige Weglassen von Weiß gibt diesem Werk eine ungeahnte Dunkelheit. Man spürt die Anspannung der Künstlerin im Spannungsfeld von Leinwand und Farben. Welch fragwürdige Stimmung beflügelte den Maler zu dieser Intransparenz?<< Und so weiter und so weiter.

Mit diesen Beiträgen könnte ich Bücher füllen.

Eine besondere Spezies sind Kunstkritiker. Ihre Fähigkeiten sind durchaus differenzierter zu bewerten. Da gibt es die Unwissenden, ähnlich den Kulturamtsleiterinnen. Und die Wissenden, oft Kunststudiumabbrecher. Natürlich können die mitreden, nur nicht von Kunst.

Ganz wenige sind wirkliche Kenner. So zum Beispiel Konstantin F. aus D. vom örtlichen Stadtanzeiger, Rubrik Kunst und Kultur. Seine Anwesenheit bei einer Vernissage lässt die Übelkeit langsam weichen. Glücksmomente! Leider selten.

Welche Medizin hilft gegen „Vernissageunpässlichkeit“? Ein Käufer müsste her. Das ist es. Warum eigentlich wollte bisher noch niemand „Weiblicher Akt I ohne Rahmen“? Gemach, gemach, jeden Besitzer möchte ich natürlich auch nicht. Es müsste schon ein richtiger Liebhaber sein. Mit Phantasie und dem Blick für das Wesentliche. Nur ein Traum?

Metallisches Klicken. Der Schlüssel dreht sich im Schloss. Es geht los. Meine Übelkeit ist noch nicht gewichen. Die Besucher strömen herein. Der klassische Ablauf. Es gibt kein Entrinnen.

Gleichwohl, so manche liebe Worte vernahm ich heute. So ab und an sind wahre Kenner doch dabei. Und schließlich tauchte Konstantin F. unter all den Gästen auf. Wohlbeleibt und gut gelaunt. Hier ein Pläuschchen, dort ein Small Talk. Er schien sich sehr zu amüsieren. Der Rotwein tat sein Übriges. Konstantin F. hatte heute besonders gute Laune. Das tat uns allen gut.

Zu guter Letzt noch eine faustdicke Überraschung. Gegen Ende der Vernissage näherte sich die Künstlerin und hielt den berühmten roten Punkt in Händen. Sie kam genau auf uns drei zu: „Männlicher Akt II ohne Rahmen“, „Weiblicher Akt I ohne Rahmen“ und „Liebespaar I ohne Rahmen“. Was nun? Wen von uns dreien würde es treffen? Mehr noch: Wer ist der Käufer?

Zack, das saß. Mit geübter Hand platzierte die Malerin den roten Punkt auf meinem Namensschild. Gut oder schlecht? Ende oder Beginn einer Leidenszeit?

Die Auflösung des Rätsels ergab sich erst am Ende der Ausstellung. Der Käufer und mein neuer Besitzer war kein geringerer als Konstantin F. aus D. vom örtlichen Stadtanzeiger.

Die Übelkeit war plötzlich fort. Eine endlose Freundschaft vor Augen? Gewiss! Und eines wurde mir immer klarer:

Ein etwas, irgendwann entstanden,

verweilt oft lang an unbekanntem Ort.

Doch dann kommt überraschend jemand,

entdeckt die Schönheit, will es sofort.

Das gilt für vieles hier auf Erden.

Drum niemals ungeduldig werden.

Zwischensumme

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