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4. Die Religionsgeschichte und ihre Quellen a) Geschriebenes und Gesprochenes

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Wie oben festgestellt, stand die Philologie am Anfang der Religionsgeschichte. Bis heute bildet sie ihr Rückgrat und ist für weite Teile religionswissenschaftlicher Forschung unabdingbar. Dies gilt in besonderer Weise für die Historische Religionswissenschaft und vor allem dort, wo sie es mit schriftlichen Quellen zu tun hat. Diese Quellen lassen sich nochmals nach bestimmten Haupttypen unterscheiden, wobei die Grenzen zwischen diesen Texttypen aber durchaus fließend sind.

heilige Schriften

Die bedeutsamsten religionsgeschichtlichen Quellentexte stammen aus dem Herzen der Religionen selbst. An erster Stelle stehen Quellen, die wir als „Heilige Schriften“ bezeichnen können. Sie haben für die jeweilige Religion grundlegende, konstitutive Bedeutung. Ihr Charakter kann aber durchaus unterschiedlich sein. Viele religiöse Traditionen kennen Offenbarungsschriften – also Texte, die nach dem Verständnis der jeweiligen Religionsgemeinschaft von einer höheren Macht offenbart („enthüllt“) und nach längerer oder kürzerer mündlicher Überlieferung schließlich schriftlich festgehalten wurden. Hierzu gehören etwa das Avesta, der Koran, die Tora, das Neue Testament, das Buch Mormon, das Kitâb-i Aqdas als – neben anderen Offenbarungsschriften – „Heiligstes Buch“ der Bahâ’î, das Ofudesaki der japanischen Tenrikyo oder „Die Göttlichen Prinzipien“ der Vereinigungskirche. Dabei gibt es allerdings erhebliche Unterschiede im Offenbarungsverständnis: So hat das abendländisch geprägte Christentum zu einem großen Teil die Lehre der Verbalinspiration, also des göttlichen Ursprungs jedes einzelnen Wortes der Bibel, nach und nach stillschweigend aufgegeben, während im Islam nur einzelne Querdenker einen solchen Schritt zu gehen wagen, die Vereinigungskirche hingegen eine aktive Mitwirkung ihres Stifters San Myung Mun bei der Offenbarung annimmt. In anderen Religionen gelten die „Heiligen Schriften“ nicht als geoffenbart – so etwa die Schriften des Buddhismus, die Schriften des Konfuzianismus oder der Âdi-Granth der Sikhs. Andere wiederum nehmen eine Art Zwischenstellung ein, wie etwa die Veden, denen ein nicht-menschlicher Ursprung zugesprochen wird und die in gewisser Weise als offenbart gelten, wobei jedoch über die genaue Form dieser „Offenbarung“ äußerst unterschiedliche Vorstellungen herrschen – so ist u.a. die Rede davon, dass Gott zwar Quelle, aber nicht Offenbarer der Veden sei.

In unmittelbarer Nähe zu solchen Schriften stehen Texte, die wir als „Heilige Schriften zweiten Grades“ ansehen könnten – so etwa im Judentum die Tora-Auslegungen wie die Tosefta oder der Midrasch (während nach rabbinischer Auffassung der Talmud als mündlich überlieferte göttliche Offenbarung der schriftlichen Tora gleichrangig ist) oder im Islam der Hadîth, die Sammlung der „Mitteilungen“ über die „Gewohnheit“ (sunna) des Propheten Mohammed, d.h. über seine Handlungen und seine Worte, die ebenfalls als z.T. göttlich inspiriert gelten (in diesem Falle wird von einem hadîth qudsî, einer „heiligen Mitteilung“ gesprochen) und in manchen volksislamischen Traditionen einen zumindest gleichartigen Rang neben dem Koran einnehmen.

religiöse Texte

Davon unterscheidbar bleibt eine weitere Gruppe schriftlicher Quellen, „Heilige Schriften dritten Grades“ gewissermaßen: Kommentare und Erläuterungen der zentralen religiösen Urkunden, Gebete, theologische Traktate, Bekenntnisse, Heiligenlegenden, Biographien von Religionsstiftern und bedeutsamen religiösen Persönlichkeiten usw. Diese Quellen wären dann nicht mehr „Heilige Schriften“ im eigentlichen Sinne, und so könnten sie etwa als „religiöse Texte“ bezeichnet werden. Doch auch hier lassen sich die verschiedenen Kategorien nicht strikt voneinander trennen: So besteht die wichtigste Textsammlung heiliger Schriften des älteren Buddhismus, der buddhistische Pâli-Kanon – so genannt nach der Sprache, in dem er abgefasst ist – neben Lehrreden des Buddha aus einer Sammlung von Ordensregeln sowie Texten, die wichtige Begriffe der buddhistischen Lehre erläutern. Diese Schriften dürften innerhalb des Buddhismus ihrem Stellenwert nach von größerer Bedeutung sein als etwa die Ordensregel des Benedictus oder die Summa theologica des Thomas von Aquin innerhalb des Christentums, obgleich wir sie entsprechend unserer Einteilung in dieselbe Kategorie – „religiöser Texte“ – einordnen müssten. Die Besonderheit religiöser Schriften besteht darin, dass sie in poetischer oder systematischer Form als „Bekenntnisse“ religiöse Überzeugungen dokumentieren und uns aus erster Hand Aufschluss über die persönlich geglaubte, erlebte, praktizierte oder theoretisch durchdachte Religion geben. Die Imitatio Christi des Thomas à Kempis gehört in diese Kategorie ebenso wie die Werke Nâgârjunas, des Begründers einer wichtigen buddhistischen Schule im 3. Jh. unserer Zeitrechnung, oder die Poesie der islamischen Mystikerin Râbi’a al-’Adawiyya.

Allen bisher genannten Quellen ist gemeinsam, dass es sich um religiöse Texte handelt, die direkt aus dem Traditionsstrom religiöser Gemeinschaften stammen und denen von diesen Religionsgemeinschaften selbst Autorität zugesprochen wird, wenngleich in unterschiedlichem Maße. Daneben gibt es aber auch einen Typ von Quellen, die als religionshistorische Dokumente Informationen über Religionen enthalten.

religionsgeschichtliche Dokumente

Zu diesen indirekten Quellen gehören zunächst Dokumente, denen nicht der „heilige“ oder zumindest religiöse Charakter der oben genannten Texte zukommt, die aber aus dem Umkreis der untersuchten Religionsgemeinschaft stammen und uns näheren Aufschluss über religionsgeschichtliche Entwicklungen geben können – Tagebücher, Tauflisten, juristische Texte wie etwa Staats-Kirchen-Verträge im Christentum oder Stiftungsurkunden über Schenkungen zu religiösen Zwecken (awqâf, Singular: waqf) im Islam, persönliche Notizen oder Briefe einzelner Religionsangehöriger etc.

Zu den religionsgeschichtlichen Dokumenten zählen aber auch Texte, die uns nichts aus der religiösen Innensicht mitteilen, sondern von Außenstehenden geschrieben wurden. Solche Texte können durchaus wiederum selbst religiös gefärbt sein, wenn sie etwa aus einer (anderen) religiösen Perspektive und Motivation heraus abgefasst sind – so etwa Berichte von christlichen Missionaren über fremde Religionen oder von islamischen Gelehrten zusammengetragene, umfangreiche Häresiographien, polemische Beschreibungen abweichender Schulmeinungen, oft die einzigen uns erhaltenen Quellen über verfemte Sondergruppen oder vom Hauptstrom der Religionsgemeinschaft verworfene Lehren. Einen großen Bestand an solchen Texten finden wir in den Kolonial- und Missionsarchiven: Viele Informationen über die Entstehung Neuer Religiöser Bewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts insbesondere in Afrika und Asien, die den Kolonialbeamten Kopfzerbrechen und den christlichen Missionaren Konkurrenz bescherten, sind hier aufbewahrt und bilden einen fast unerschöpflichen Fundus für religionsgeschichtliche Forschung auf diesem Feld.

Viele Dokumente, die auf den ersten Blick nichts mit Religion zu tun haben, können sich bei genauerem Hinsehen doch als wichtige indirekte, sekundäre Quellen erweisen: Reiseberichte arabischer Geographen enthalten Informationen über die Religionen der von ihnen dokumentierten Regionen; Namensregister oder Verwaltungsdokumente geben Auskunft über den Verlauf von religiösen Wandlungsprozessen; Inschriften, Titel oder Ernennungsurkunden verweisen auf die Akzeptanz von Religionen in der jeweiligen Gesellschaft usw. In einem Ensemble verschiedener religionshistorischer Dokumente könnten wir sogar wagen, moderne Literaturgattungen nach religionsgeschichtlich relevanten Informationen zu durchforsten – so z.B. Romane afrikanischer Autorinnen und Autoren. Dabei ist allerdings äußerste Vorsicht geboten, denn schließlich enthalten diese Texte ja Fiktionen, auch wenn beispielsweise die Beschreibung des kulturellen Kontextes einzelne religiöse Elemente in zutreffender Weise wiedergeben mag.

religionsgeschichtliche Quellen in mündlicher Überlieferung

Bisher war stets nur von schriftlichen Texten die Rede. Doch auch in mündlicher Form finden wir religionsgeschichtliche Quellen. „Heilige Texte“ können durchaus in Gestalt mündlich tradierter Überlieferungen existieren. Selbst „Heilige Schriften“ haben ja stets eine gewisse Phase der oralen Tradition durchlaufen. Beispielsweise haben die buddhistischen Mönche seine Lehre über mehrere Generationen mündlich weitergegeben, bevor sie nach ca. zwei- oder dreihundert Jahren aufgeschrieben wurde. Natürlich gibt es auch hier Ausnahmen – zumindest nach dem Selbstverständnis; so soll Josef Smith, der Begründer der „Kirche Jesu Christi der Heiligen der letzten Tage“, das ursprünglich auf goldenen Platten in „Reformägyptisch“ verfasste Buch Mormon mit der direkten Übersetzung ins Englische drei verschiedenen Schreibern diktiert haben.

Heilige Texte in mündlicher Form finden wir vornehmlich in schriftlosen Religionen. Sie werden von religiösen Experten oftmals über viele Generationen weitergegeben, bevor sie mit der Religion verschwinden, wenn die letzten Spezialisten ihr Wissen mit ins Grab nehmen – falls sie sich nicht dazu entschließen sollten, es entgegen aller Gepflogenheit schriftlich aufzeichnen zu lassen. Mündliche Traditionen sind in der Regel nicht ungenauer als schriftlich fixierte Überlieferungen. Hier wie dort kommt es jedoch auch zu „Überarbeitungen“ des tradierten Materials, und hier wie dort lassen sich diese Veränderungen zumindest teilweise dadurch identifizieren, dass verschiedene Varianten kritisch miteinander verglichen werden.

„Heiligen Schriften“ in mündlicher Tradition können äußerst unterschiedliche Gattungen umfassen, wobei die „Heiligkeit“ der Texte durchaus variiert. Als ein gewisser Gradmesser mag die Öffentlichkeit des tradierten Wissens gelten: Je höher die Bedeutsamkeit der überlieferten Inhalte, desto begrenzter der Kreis der Überlieferer, desto behüteter – und oftmals geheimer – die überlieferte Botschaft. In erster Linie gehören Mythen zu diesen heiligen Traditionen, aber auch Spruchformeln oder Gebete sowie das gesamte rituelle Wissen, das oft weit über den Bereich hinausgeht, den wir als „religiös“ bezeichnen würden und medizinische oder psychologische Kenntnisse umfasst.

Auch religiöse Texte finden sich vielfach in mündlicher Form. Im Unterschied zu schriftlich tradierten „Heiligen Texten“ handelt es sich hierbei zumeist um persönliche Bekenntnisse und Erfahrungen, aber auch Sprichwörter und religiöses Alltagswissen gehören in diese Kategorie. Hans-Jürgen Greschat nennt als Beispiel für diese Art religiöser Überlieferung die ursprünglich mündlichen Ausführungen von Tahca Ushte, einem Experten der traditionellen Lakota-Religion, die 1972 unter dem Titel „Lame Deer: Seeker of Visions“ veröffentlicht wurden. Ein anderes Beispiel wäre „Der Gesang von Sirao und die Ordnung der Welt“, den der Ethnologe Wolfgang Marshall während einer Forschungsreise auf der indonesischen Insel Nias aufgenommen, übersetzt und 1976 in dem Bändchen „Der Berg des Herrn der Erde“ publiziert hat. Zum Teil findet sich ähnliches Material in der von Henri Bocquene veröffentlichten Autobiographie von Ndoudi Oumarou, einem Angehörigen des großen westafrikanischen Nomadenvolkes der Fulbe oder Fulani, „Moi, un Mbororo“, 1986 in Paris erschienen. Das Buch enthält eine ganze Reihe von Informationen über Weltsicht und Religion der Mbororo aus der Innenperspektive. Hierbei ist allerdings die Grenze zur nächsten Kategorie fließend.

Mündliche Quellen für religionsgeschichtliche Forschung finden sich häufig in einer Form, die in etwa religionshistorischen Dokumenten entspricht. Zumeist stammen sie aus dem Umkreis der untersuchten Religionsgemeinschaft. Das wiederum bringt es mit sich, dass der Bekenntnischarakter und die individuelle religiöse Sichtweise stark ausgeprägt sind, wodurch der Übergang zur eben skizzierten Kategorie religiöser Texte in mündlicher Form recht durchlässig ist. Mündliche Quellen werden umso wichtiger, je weniger schriftliche vorhanden sind – und dies mag durchaus auch innerhalb einer religiösen Gemeinschaft der Fall sein: Enzykliken des Papstes oder die an katholischen theologischen Fakultäten vertretene Schultheologie können ja durchaus in krassem Widerspruch stehen zu dem, was beispielsweise die Mehrheit der bundesdeutschen katholischen Bevölkerung denkt, glaubt und tut. In der Regel wird mündlichen Quellen vor allem bei der Erforschung schriftlos tradierter Religionen besondere Bedeutung zukommen. Aber auch bei der religionsgeschichtlichen Erschließung Neuer Religiöser Bewegungen sind sie von großem Wert, da wir über diese häufig wenig schriftliche Quellen, aber auch kaum religionswissenschaftliche Sekundärliteratur zur Verfügung haben.

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