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a) Ursprung und Entwicklung von Religionen

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Im 19.Jh. beginnt außerhalb theologischer Entwürfe die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Frage nach Ursprung und Entwicklung der Religionen. Dies geschieht jedoch nicht im luftleeren Raum, sondern vor dem Hintergrund von zwei gewichtigen theoretischen Ansätzen, die sich zudem vielfach gegenseitig beeinflussten – dem philosophischen Entwicklungsdenken und dem naturwissenschaftlichen Evolutionismus –, und die Fortschrittsgläubigkeit des industriellen Zeitalters mag ein Übriges dazu beigetragen haben, solchen Denkmodellen zu einer gewissen Attraktivität zu verhelfen.

Einfluss des Evolutionismus

Hegel selbst hatte mit seinem Entwicklungsmodell (These – Antithese – Synthese) weit über die Philosophie hinaus insbesondere auch auf die im 19.Jh. neu entstehenden Disziplinen eingewirkt. Besonders deutlich ist dies bei dem französischen Sozialphilosophen Auguste Comte (1798–1857) zu sehen, der ja als „Vater“ der modernen Soziologie gilt. Er rechnete mit drei Phasen der Menschheitsgeschichte, die sich vom Stadium der Religion über das der Metaphysik bis zu dem der positiven Wissenschaft entwickelt. Noch einflussreicher aber war das 1859 erschienene zweibändige Werk Charles Darwins, Über den Ursprung der Arten, das zur Grundlage des naturwissenschaftlichen Evolutionismus werden, aber auch andere Wissenschaftszweige prägen sollte. Eine wichtige Bedeutung kam dabei dem Sozialphilosophen Herbert Spencer (1820–1903) zu. Er wies den Weg, das Modell des Evolutionismus in außerphilosophischen Zusammenhängen anzuwenden, indem er es zunächst auf die Erkenntnistheorie übertrug. Hinsichtlich der Religionsgeschichte vertrat er die Ansicht, die Religion habe sich im Rahmen eines primitiven Totenkults aus der Verehrung der Manen, dem Ahnenkult entwickelt („Manismus-Theorie“).

Religionsgeschichtliche Theorien über Ursprung und Entwicklung von Religion

Auf besonders fruchtbaren Boden fiel das evolutionistische Modell in der Ethnologie, die sich im Zeitalter der kolonialen Expansion zunehmend als aufstrebende Wissenschaft etablieren konnte. Sie wollte das ethnographische Material der außereuropäischen Kulturen dazu nutzen, verschiedene kulturelle Entwicklungsstufen der Menschheit nachzuzeichnen und ihren Ursprung zu rekonstruieren. Auf den Bereich der Religionsforschung angewandt, versuchte die Religionsethnologie in entsprechender Weise den Ursprung der Religion festzustellen und Gründe für ihre Entstehung zu beschreiben. Ihre Theorien basierten auf der Annahme, dass die religionsgeschichtliche Entwicklung geradlinig von einfacheren zu komplexeren Religionsformen verlaufe und die „ursprüngliche“ Religion sich entsprechend in der elementarsten Form von Religion finden müsse. Schon die ersten Ansätze hierzu sollten wissenschaftsgeschichtlich einen großen Einfluss auf die spätere religionsethnologische Theoriebildung ausüben. Beispielsweise hatte der Rechtsethnologe John Ferguson McLennan (1827–1881) eine frühe „Totemismus-Theorie“ formuliert: Er sah den Ursprung der Religion in der engen Beziehung zwischen einer Gruppe und einem Tier, einer Pflanze oder auch einem Gegenstand, woraus sich ein bestimmtes Verhalten gegenüber diesem „Totem“ (aus der Sprache der nordamerikanischen Ojibwa-Indianer: oteman, „es gehört zu meiner Gruppe“) ableite. William Robertson Smith (1846–1894) wiederum betrachtete das kultische Opfermahl als Urgestalt der Religion: Religion vollziehe sich im gemeinschaftlichen Handeln des Ritus, von dem der Mythos als Interpretation oder deutende Nacherzählung lediglich abgeleitet sei.

Tylors Animismus-Theorie

Als besonders prägend für die damalige religionsethnologische Theoriebildung erwies sich das Werk Edward Burnett Tylors (1832–1917) mit seiner sog. Animismus-Theorie. Ausgangspunkt war Tylors Interpretation des Umgangs der Menschen mit der Grunderfahrung des Todes und mit Erfahrungen wie Schlaf und Traum: Im Traum erlebe der Mensch, dass sich ein nichtkörperlicher Teil seiner Persönlichkeit vom Körper vorübergehend löst und auf Wanderung geht, oder dass ihm bereits längst Verstorbene begegnen; der Tod wiederum, bei dem nur der leblose Körper zurückbleibt, vermittle dem Menschen den Eindruck, dass dieses Nichtkörperliche nun endgültig den Menschen verlassen habe. Wie Tylor weiterhin an vielen Beispielen zu zeigen versucht, sei die Vorstellung einer nichtkörperlichen Lebendigkeit, der „Seele“ (lat. anima), auch auf Tiere und Pflanzen, ja sogar auf Gegenstände übertragen worden und habe im Erklärungsmodell einer „All-Beseeltheit“ Gestalt gefunden. Hieraus sei der Geisterglaube, dann der Glaube an viele Götter, der Polytheismus, und schließlich der Glaube an einen Gott, der Monotheismus, entstanden. Animismus dient Taylor dabei als Bezeichnung jenes Ursprungsstadiums der Religionsgeschichte, in dem der Glaube an die „All-Beseeltheit“ vorherrschend gewesen sei: Der „Glaube an geistige Wesen“ bilde den Ursprung der Religion. Nach Tylors Ansicht ist allerdings in verschiedenen Regionen der Welt die religionsgeschichtliche Entwicklung unterschiedlich schnell verlaufen. Die Frühphase der religiösen Menschheitsentwicklung lasse sich am besten durch das Studium der sog. „primitiven Kulturen“ erschließen, in denen zahlreiche Elemente jener Urreligion bewahrt seien. Aber auch auf allen späteren Stufen der religionsgeschichtlichen Evolution seien noch Relikte früherer Entwicklungsstufen, sog. survivals, erhalten, die uns erlauben könnten, Ursprung und Entwicklungsverlauf der Religion zu rekonstruieren.

Frazers Magie-Theorie

Ein weiterer, äußerst einflussreicher evolutionistischer Entwurf findet sich in Gestalt der Magietheorie von James George Frazer (1854–1941). Frazer beginnt mit der Feststellung, dass es dem Menschen stets darum ginge, seine Umwelt zu beherrschen. Zu diesem Zweck habe er gewisse Techniken entwickelt. Dabei handle er durchaus „rational“, indem er nach dem Zusammenhang von Ursache und Wirkung fragt und deren Gesetzmäßigkeit aufzuspüren sucht. Auch die verschiedenen Formen von Magie dienten dem Ziel der Weltbeherrschung: Die kontagiöse Magie folge dem „Gesetz des Kontakts“ und versuche, die gewünschte Wirkung durch eine ursächliche Berührung herbeizuführen – so, wie etwa Jesus nach dem Bericht der Bibel einen Blinden mit seinem Speichel heilt; die homöopathische oder sympathetische bzw. imitative Magie orientiere sich am „Gesetz der Ähnlichkeit“ und sei bemüht, entsprechende Effekte durch analoge Handlungen auszulösen – indem beispielsweise Manipulationen an einer Puppe oder einem Bild des Feindes diesem selbst Schaden zufügen sollen. Nach Frazers Meinung unterscheidet sich die Magie in ihrem logischen Verfahren nicht von der Wissenschaft – beide fragen nach der kausalen Gesetzmäßigkeit, dem gültig wirksamen Zusammenhang von Ursache und Wirkung. Im Gegensatz zur Wissenschaft beruhe die Magie allerdings auf einer falschen Zuordnung von Ursache und Wirkung. Die Erfahrung der Erfolglosigkeit des Bemühens, mit der Magie die Welt zu beherrschen, habe dann zu einer Krise der Magie geführt, die im Rahmen der religionsgeschichtlichen Entwicklung durch den Animismus abgelöst worden sei: Nun rechne der Mensch mit „geistigen Wesen“, die über die Welt Macht ausüben. Folglich sei er darum bemüht gewesen, sich ihnen gegenüber so zu verhalten, dass sie ihm gewogen sind. Aus dem unterschiedlichen Umgang mit diesen „höheren Wesen“ hätten sich die verschiedenen Entwicklungsstufen der Religionsgeschichte ergeben. Für Frazer ist eine neue Phase durch das Aufkommen der neuzeitlichen Wissenschaft markiert. Diese habe dem Menschen die Einsicht in den richtigen Zusammenhang von Ursache und Wirkung eröffnet und somit den Durchbruch zur tatsächlichen Weltbeherrschung ermöglicht.

J. G. Frazer arbeitete auf der Grundlage umfangreichen religionsethnologischen und religionsgeschichtlichen Materials, knüpfte bei der Ausformulierung seiner Theorie jedoch an A. Comte und H. Spencer an. So teilte er die Geschichte der Menschheitsentwicklung in drei Stadien ein: Magie – Religion – Wissenschaft. Im Gegensatz zu Magie und Wissenschaft, die laut Frazer den Menschen dazu anregen, durch aktives Handeln Macht über seine Umwelt zu erlangen, habe die Religion eine Weltsicht vertreten, die nur in mittelbarer und passiver Weise auf Weltbeherrschung ziele; von daher repräsentiere sie eine vergangene Phase der Menschheitsentwicklung, die sich zunehmend von selbst erledige.

Maretts Dynamismus-Theorie

Bis ins 20. Jahrhundert hinein fanden Tylors Ansichten Eingang in unterschiedliche religionsethnologische Ansätze bzw. wurden von ähnlichen Entwürfen abgelöst. Zu den bekanntesten gehört die auf Robert Ranulph Marett (1866–1943) zurückgehende Theorie des Dynamismus oder Animatismus bzw. Prä-Animismus. Die Entwicklung seines Entwurfs muss dabei vor dem Hintergrund religionswissenschaftlicher Debatten gegen Ende des 19. Jahrhunderts verstanden werden: Bereits 1878 hatte der englische Missionar Robert H. Codrington (1830–1922) Friedrich Max Müller, der weithin als Begründer der modernen Religionswissenschaft gilt, seine Beobachtungen über ein auffälliges Phänomen der melanesischen Religion mitgeteilt, die er dann in seiner 1891 veröffentlichten Studie „Die Melanesier“ weiterentwickelte: Grundlegend für die Religion der Melanesier sei der Glaube an eine Macht, das mana, die mit Menschen oder Gegenständen eine Verbindung eingehe und auf diese Weise eine große Wirksamkeit entwickeln könne. Das gesamte religiöse Leben der Melanesier sei darauf ausgerichtet, mit dieser Macht zu verkehren und sie sich nach Möglichkeit dienstbar zu machen. Auf der Grundlage der Analyse dieses sowie weiteren religionsethnologischen Materials entwickelte Marett in der Folge seine ebenfalls evolutionistisch ausgerichtete Religionstheorie: Nicht der „Glaube an geistige Wesen“, wie Tylor lehrte, sei der Ursprung der Religion, sondern der Glaube an eine unpersönliche Macht (griechisch: dýnamis) gehe dem Animismus voraus (daher „Prä-Animismus“), weshalb die Bezeichnung „Animatismus“ (lateinisch: animatus, „beseelt“) angemessener sei.

Dekadenztheorien

Während Ansätze wie die von Tylor, Frazer oder Marett die Religionsgeschichte im Sinne einer positiven Evolution beschreiben, beurteilen andere Theorien die religionsgeschichtliche Entwicklung im Sinne eines Verfalls (deshalb auch Dekadenz- oder Deprivationstheorien genannt). Solche Vorstellungen reichen in ihren Anfängen bis in die Frühzeit der Christentumsgeschichte zurück und fanden später auch in nichttheologische Entwürfe ihren Eingang. So hatte beispielsweise im 18.Jh. der französische Historiker und Geograph Charles de Brosses (1709–1777), der den Begriff „Fetisch“ prägte und verbreitete, die Menschheitsgeschichte als Abirrung von der reinen Uroffenbarung Gottes gebrandmarkt: Der Fetischismus versuche, die in Gegenständen gegenwärtig geglaubten Kräfte zu manipulieren und sich dienstbar zu machen, anstatt auf Gott zu vertrauen. Ende des 19. Jahrhunderts wurde eine solche Verfallstheorie dann auf der Grundlage von ethnographischem Material neu formuliert: Andrew Lang (1844–1912) hatte entdeckt, dass in vielen der sog. „primitiven“ Kulturen neben dem Glauben an Geister oder an die Wirksamkeit unpersönlicher Kräfte auch unterschiedliche Gottesvorstellungen lebendig sind. Auf dieser Grundlage entwickelte er seine Theorie des Hochgottglaubens als Ur-Religion: Der Glaube an einen Hochgott sei unabhängig von Machtvorstellungen, Geisterglaube, Magie etc. und stelle die ursprüngliche Religion in ihrer reinsten Form dar. Alle anderen Religionsformen seien als spätere, vom Ideal des Hochgottglaubens abweichende Entwicklungen zu beurteilen.

P. W. Schmidts Urmonotheismus-Theorie

Eine Weiterentwicklung fand Langs Entwurf in der Urmonotheismus-Theorie von Pater Wilhelm Schmidt (1868–1954). Sein Ansatz ist im Zusammenhang der sog. Kulturkreis-Lehre zu sehen, als deren Begründer der Geograph und Ethnologe Friedrich Ratzel (1844–1904) gilt. Die Kulturkreislehre versucht das Vorhandensein von auffälligen Parallelen in verschiedenen Kulturen aus ihrer geschichtlichen Verbreitung („Diffusion“) zu erklären: Sie geht davon aus, dass es durch Handel, Wanderung, Schifffahrt etc. zu einem ständigen Kontakt und Austausch zwischen den Kulturen gekommen ist, weshalb ähnliche Kulturelemente in geographisch weit auseinander liegenden Regionen zu finden sind. Dabei lassen sich nach Meinung der Vertreter dieser Theorie verschiedene „Kulturkreise“ voneinander abgrenzen, in denen jeweils bestimmte kulturelle Prägungen vorherrschend sind. Der Ethnologe Fritz Graebner (1877–1934) betonte in diesem Zusammenhang mehr die Bedeutung einzelner Kulturelemente, während der Afrikanist Leo Frobenius (1873–1938) Kulturen als organische Größen verstand, bei der die einzelnen Elemente stets in einem dynamischen Zusammenhang stehen und an das Paideuma, das Wesentliche einer Kultur oder ihre „Kulturseele“, rückgebunden bleiben. Wilhelm Schmidt, der Begründer der sog. „Wiener Schule“, knüpfte einerseits an die Kulturkreislehre an, andererseits nahm er Elemente von Verfalls- oder Dekadenztheorien auf. So bemühte er sich, verschiedene Kulturtypen historisch einzuordnen und in diesem Zusammenhang eine „Urkultur“ zu rekonstruieren, aus der sich alle Kulturformen entwickelt haben sollen. Zu den verschiedenen Merkmalen dieser Urkultur gehören nach Schmidt neben besonderen wirtschaftlichen, sozialen oder politischen Formen auch spezifische religiöse Eigenheiten, eine „Urreligion“. Diese Urreligion sei durch den Glauben an einen Gott gekennzeichnet; alle späteren Religionsformen hätten sich aus diesem „Ur-Monotheismus“ entwickelt.

zur Kritik evolutionistischer Religionstheorien

Alle genannten Theorien wurden heftigster Kritik unterzogen und sind heute nicht mehr aktuell. Der Anspruch, aus dem ethnographischen Material zeitgenössischer schriftloser Kulturen den geschichtlichen Ursprung der Religion rekonstruieren zu können, musste bloße Behauptung bleiben; er ließ sich nicht einlösen, da diese Kulturen weder am Anfang der Menschheitsgeschichte stehen, noch ohne eigene Geschichte sind. Gleichermaßen hat sich die Vermutung einer geradlinigen Menschheitsentwicklung, der eine ebenso geradlinige religiöse Evolution entspricht, als nicht tragfähiges theoretisches Konstrukt erwiesen. Es kann der Kritik nicht standhalten, wenn es mit dem vielfältigen – und widersprüchlichen – religionsgeschichtlichen Datenmaterial konfrontiert wird. Denn Ähnlichkeiten der religionsgeschichtlichen Entwicklung zwischen manchen Kulturen können nicht auf die Religionsgeschichte insgesamt übertragen werden. Selbst wenn sich Entwicklungsabläufe nachzeichnen lassen, gehen sie nicht in geradliniger Gesetzmäßigkeit vor sich, sondern nehmen einen je nach Kultur und religionsgeschichtlichem Kontext äußerst unterschiedlichen Verlauf.

Was bleibt dann von allen diesen Theorien? Einige Perspektiven, die sie eröffnet haben, waren berechtigt und sind auch heute noch von Bedeutung. So ist z.B. das von der Kulturkreislehre bevorzugte Bemühen, die Existenz von ähnlichen Elementen in räumlich weit auseinander liegenden Regionen geschichtlich zu erklären, in vielen Fällen sicherlich zutreffend; die Verbreitung des Rosenkranzes, der Lotus-Symbolik oder einzelner mythologischer Motive lässt sich jedenfalls aus historischen „Wanderbewegungen“ erklären. Weiterhin wurden im Rahmen dieser Theorien Begrifflichkeiten ausgebildet, die zum Teil bis heute dazu verwendet werden können, religionsgeschichtliche Phänomene in einem ersten Schritt zu erfassen und vorläufig zu klassifizieren, solange es alternativer, exakterer Begriffe ermangelt; Beispiele hierfür wären etwa Termini wie „Hochgott“, „mana“ oder „survival“. Gerade die letztgenannten Begriffe sind jedoch nicht unproblematisch und entbehren nicht einer gewissen Ambivalenz, wenn sie unkritisch gebraucht werden. Noch schwieriger ist dies bei Begriffen wie „Animismus“: Besonders Missionare und Missionstheologen sprechen gerne an der Stelle von „Animisten“, wo früher von „Heiden“ die Rede war, und die Angehörigen ethnischer Religionen oder kleinerer, lokal begrenzter traditioneller Religionen werden häufig unter der Kategorie „Animismus“ erfasst. Doch bei dem vermeintlichen „Animismus“ handelt es sich um eigenständige Religionen und komplexe religiöse Traditionen, die nicht in dem aufgehen, was der Begriff des Animismus als Terminus technicus für „Geisterglauben“ abdecken soll.

Die evolutionistische Sicht der Religionsgeschichte ist allerdings nicht erst in jüngster Zeit in die Kritik geraten. Bereits die Kulturkreislehre stellt sie ja in Frage, indem sie kulturelle Ähnlichkeiten nicht auf dem Hintergrund der Folie einer geradlinigen Entwicklung, sondern aus ihrer geschichtlichen Verbreitung zu begreifen versucht. Bei Bronislaw Malinowski schließlich ist die Kritik erstmals auf die Spitze getrieben: Nicht die Stellung in einem Evolutionsprozess, sondern funktionale Zusammenhänge bestimmen die einzelnen Kulturen. Folglich stehen Magie, Religion und Wissenschaft nicht für verschiedene Stadien im Entwicklungsprozess der Menschheitsgeschichte, sondern können in ein und derselben Kultur gleichzeitig nebeneinander existieren.

Moderne entwicklungstheoretische Entwürfe aus der Religionssoziologie

Doch das bedeutete nicht das Ende evolutionstheoretischer Ansätze in der Religionswissenschaft. Allerdings lassen sich die heutigen Entwürfe nicht mehr mit den oben vorgestellten vergleichen. Sie teilen weder deren Fortschrittsoptimismus, noch nehmen sie eine strikte Gesetzmäßigkeit linear verlaufender Entwicklungsprozesse an. Entsprechende Theorien werden insbesondere aus soziologischer Sicht vorgetragen, und wir werden später noch etwas detaillierter auf diese Entwürfe zu sprechen kommen. Ausgangspunkt von Entwicklungsmodellen sind dabei die sog. segmentären Gesellschaften, die in „Segmente“ von – meist verwandtschaftlich einander zugeordneten – Personengruppen unterteilt sind. Hieraus entwickelten sich zunächst die stratifizierten, also nach hierarchischen Schichten gegliederten, und schließlich die funktional differenzierten, komplexen Gesellschaften der Moderne. Aufgrund der engen Beziehung von Religion und Gesellschaft habe die gesellschaftliche Entwicklung unmittelbare Auswirkungen auf die Entwicklung der religiösen Systeme: Mit zunehmender Komplexität einer Gesellschaft verliert die Religion ihre zentrale Stellung – sie wird ein untergeordnetes Teilsystem neben vielen anderen.

Weitere Entwürfe finden sich, wenngleich auf ungleich höherer Abstraktionsebene als hier in aller Kürze angerissen, beispielsweise bei Thomas Luckmann (geb. 1927), insbesondere aber bei Niklas Luhmann (1927– 1998). Schon zuvor hatte der amerikanische Soziologe Robert N. Bellah eine Fünf-Stufen-Theorie vertreten, in der er der Ausbildung komplexerer Gesellschaftsformen entsprechende religiöse Entwicklungsstufen zuordnete: von der „primitiven“ und „archaischen“ Religion über die „historischen Religionen“ zur „frühmodernen“ und „modernen“ Religion. Das hört sich sehr nach einem Schema an, das die Religionen in ein evolutionistisches Korsett zwängen will. Doch das ist nicht der Fall. Auch Bellah begreift die Entwicklung von Religionen nicht als naturgesetzliche Gegebenheit. Er will Tendenzen beschreiben, nicht ein Evolutionsmodell normativ festschreiben. Hierin unterscheidet er sich um Welten von den Evolutionstheoretikern des 19. und frühen 20.Jahrhunderts.

Vielleicht bleibt bei Bellah – wie auch bei vielen seiner Fachkollegen –allerdings ein Aspekt zu wenig beachtet: dass er nicht lediglich Sachverhalte beschreibend darstellt, die im Datenmaterial selbst, gewissermaßen „objektiv“ gegeben sind, sondern dass diese Zusammenhänge Produkt seiner wissenschaftlichen Tätigkeit sind, sich also der Konstruktion durch den Forscher verdanken. Die Frage nach der Entwicklung von Religionen ist dabei in besonderem Maße vom Standpunkt des Beobachters abhängig; sie kann sich stets nur aus seiner Perspektive zeigen, läuft also gewissermaßen auf ihn zu. Der Gefahr, die eigene Position zum Maß aller Entwicklung zu machen, muss dadurch begegnet werden, dass die Voraussetzungen kritisch reflektiert werden, die auf die Konstruktion dieses Entwurfs zielen. Doch das ist etwas, was nicht nur evolutionstheoretische Ansätze in der Religionsgeschichte betrifft, sondern für alles religionswissenschaftliche Arbeiten gilt – oder zumindest gelten sollte.

Einführung in die Religionswissenschaft

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