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Der Traum vom Schlafen
ОглавлениеWenn kurz vor Redaktionsschluss großer Stress herrscht, legt mein Chef seinen Platinkolbenhalter behutsam auf die krokolederne Schreibunterlage und schnürt auf seinen Kreppsohlen lautlos durch die Büros. Manchmal legt er mir kandierte Kirschen aufs Keyboard, massiert mir den Nacken oder onduliert mein Haar. Unlängst ließ er sacht ein Blatt Papier auf meinen Schreibtisch niedergleiten. Der Artikel über das rechtsradikale Potenzial unter den jungen Männern Mecklenburg-Vorpommerns war nur teilweise leserlich, daher dürfte wohl das vollständig kopierte Gedicht von Durs Grünbein die Botschaft dieser unverhofften Sendung gewesen sein. Es trägt den Titel „Exaltation im Schlaf“, beginnt mit den Zeilen „Wie tief man sinken kann, kaum ist das Licht/Gelöscht und von den Schultern fällt die Schwere“ und endet mit diesen: „Steif auf dem Rücken liegend, überfällt es mich –/, Ein Tapir war ich, an den Ufern fern des Orinoco.‘“
Na, das ist ja ganz hübsch. Und praktisch obendrein. Denn wenn Durs Grünbein meinen Wappentapir für sein Dichten heranziehen kann, dann darf doch auch ich seinem Gedicht hinterherkolumnieren und mich dem Schlaf widmen, der, so will’s der Grünbein, „von allen Lebenslagen die extremste“ sei. Das ist schön gesagt, aber halt schon auch ein bisschen so dahergedichtet, denn an sich ist der Schlaf ganz alltäglich und sein Ausbleiben in der Regel extremer als sein Eintreten. Man muss natürlich kein großer Freund der Psychoanalyse oder anderer komplizierter Weltanschauungen sein, um zu ahnen, dass während des Schlafs auch ordentlich was los sein kann, aber der Traum vom Schlafen sieht anders aus.
„Der schönste Schlaf ist sanftes Sinken, während deine Füße stinken“, schrieb Grünbein in einem Jugendgedicht anlässlich einer Interrailreise nach Skandinavien; und wieder einmal erweist sich, dass Alter in der Dichtung nichts bedeuten muss, am allerwenigsten Weisheit, Reife und Vollendung. Wenn man nach dreivierteldurchwachten Bahnfahrten durch halb Europa todmüde am Campingplatz ankommt, den Schlafsack aufbreitet und dann in der Sonne eindöst und ein paar Stündchen am Stück selig ratzt – das will ich Schlaf nennen!