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Kapitel 8 Ordnung
ОглавлениеDu siehst nur dein eigenes Rätsel, das dich traurig und glücklich macht
Erik Fosnes Hansen
Gerrit setzte sich in Viktorias Bücherzimmer an den kleinen Schreibtisch. Das milde Licht gab dem Raum etwas Abgeschlossenes, etwas von einer eigenen Welt, einer Insel.
Viktoria wünschte sich also eine wohl geordnete Bibliothek. Gut, das konnte er verstehen, schließlich liebte er genau wie sie die Ordnung vielleicht noch mehr als die Bücher. Trotzdem hätte sie sich ja auch selbst an die Arbeit machen können, Zeit genug muss sie doch gehabt haben, seitdem sie sich zur Ruhe gesetzt hatte.
Er beschloss, sofort anzufangen. Aber wie? Sollte er alle Regale und Stapel durchsuchen, ob es einen Autor mit dem Anfangsbuchstaben „Aa“ oder „Ab“ gäbe? Er versuchte sich zu erinnern, wie er früher, als es noch keine Computer gegeben hatte, das alphabetische Register zu seiner Doktorarbeit gemacht hatte. Für jeden Begriff und jede Person einen Zettel anlegen und alle Zettel mit „A“, „B“ und so weitere auf einen Haufen werfen, am Schluss erst die Zettel mit den gleichen Anfangsbuchstaben alphabetisch sortieren. So müsste es auch bei den Büchern gehen. Er fing also bei dem Regal links neben der Eingangstür mit dem obersten Regalbrett an und zog alle Bücher mit den Anfangsbuchstaben „A“ und „B“ heraus und legte sie auf je einen Stapel. Gibt es keinen Autor, nimmt man den Herausgeber. Das ging recht schnell. Gut, dass Viktoria nicht verlangt hat, dass ich einen Katalog anlege, für jedes Buch eine Karteikarte ausfülle, dachte er. Das wäre perfekt, aber so kam er rasch vorwärts. Bald schon waren die beiden Stapel so hoch, dass sie umzufallen drohten.
Daneben aber hatte sich ein anderer Stapel gebildet. Eine schöne Ausgabe von „Tausendundeine Nacht“ lag da, zwei Bände im Schuber. Autor unbekannt. Außerdem zwei Ausstellungskataloge. Kein Mensch wird „Tausendundeine Nacht“ oder diese Katalog finden, überlegte Gerrit. Wer wird schon unter dem Namen des Herausgebers suchen. Wer hat den Talmud herausgegeben? Wer die Bibel? Am Ende ist zwar alles fein alphabetisch geordnet, erkannte er, aber man findet nichts mehr. Müsste er nicht doch einen Sachkatalog anlegen, noch viel mehr Zeit und Arbeit in diese Büchersammlung investieren?
Am liebsten wäre er in den Garten geflohen, der vor ihm in der Sonne lag, um irgendetwas Praktisches zu arbeiten, etwas mit Hand und Fuß. Vielleicht auch nur die Katze vertreiben, die eben zwischen den Beerensträuchern herumschlich, als ob es dort etwas zu jagen gäbe. Ab in der Garten, warum nicht? Schließlich hatte er zwei Jahre Zeit.
Er schnitt die Sträucher etwas in Form, vorsichtig, denn er befürchtete, ein Sommerschnitt könnte den Sträuchern schaden. Dann jätete er das Unkraut in den Beeten, hackte das Gemüsebeet leicht durch und überlegte, ob es nicht geschickter sei, ordentlicher, eine Ecke für Küchenkräuter, eine andere für Gemüse einzurichten. Er begann damit, den Schnittlauch umzupflanzen, und zwar an die Stelle, wo zwischen Majoran und Zitronenmelisse fünf Mangoldpflanzen gewachsen waren, die er neben die Strauchbohnen setzen wollte.
Zu seiner Vorstellung von einem gepflegten Garten gehörte eine Beschriftung der Pflanzen. Die entsprechenden kleinen Schildchen hatte er bald gefunden, aber sollte er jetzt „Mangold“ darauf schreiben? Sich als Deutscher outen? Die englische Bezeichnung wäre ihm lieber gewesen, aber was heißt Mangold auf Englisch? Er ging herein, um das Wort nachzuschlagen. Als erstes fiel sein Blick auf ein botanisches Wörterbuch. Das ist es, dachte er, ich werde die botanischen Namen verwenden, das ist international.
So schrieb er „Beta vulgaris“ auf eines der Schildchen und steckte es zu den Mangoldpflanzen. Das Ergebnis gefiel ihm, deshalb verbrachte er einige Zeit damit, immer mehr botanische Namen nachzuschlagen und die Pflanzengruppen zu beschriften. Am Schluss hatte er keine Schildchen mehr und war von seinem Werk begeistert.
Am Nachmittag schmerzte ihm der Rücken vom vielen Bücken, er verspürte riesigen Hunger - wie schon lange nicht mehr. Zufrieden ging er ins Haus, aß ein Fertigmüsli mit viel Obst und Joghurt. Jetzt auf der Stelle wieder zu den Büchern zu gehen, dazu hatte er keine Lust. Er bereitete sich noch einen Fencheltee mit viel Honig, versuchte seinen Rücken zu entspannen und genoss die Ruhe. Er ging ins Bücherzimmer, las mal in diesem, mal in jenem Regal die Titel auf den Buchrücken, untersuchte mehrere Stapel, die aus einem unerfindlichen Grund unter dem Fenster auf dem Teppich lagen. Guck an, wunderte er sich, die Tante hat die „Ficciones“ von Borges in der Erstausgabe von 1944, eine absolute Rarität! Er zog den schmalen bläulichen Band aus dem Stapel und schlug ihn auf. Das ist ja mein Exemplar, das ich damals Rebecca geschenkt habe, wunderte er sich. „Für Rebecca in Erinnerung an einen wunderschönen Abend“ stand da, das war eindeutig, das hatte er geschrieben, ganz zu Beginn seiner Beziehung mit Rebecca. Sie hatten in einem Restaurant gesessen, sich lange angeregt über Bibliotheken unterhalten. Das heißt, er hatte gedacht, sie hätten sich angeregt unterhalten, später hatte ihm Rebecca vorgehalten, er habe sie schon damals ignoriert, das sei ihr sofort klar gewesen, aber sie habe seine Leidenschaft für Bücher gespürt und gehofft, er werde noch weitere Facetten, weitere Leidenschaften mit ihr teilen. Gerrit hatte das anders wahrgenommen. Für ihn war das ein schöner Abend gewesen, in einem libanesischen Restaurant, Kerzenlicht, bunt bestickte Sitzkissen und orientalische Musik, die Illusion eines Beduinenzeltes. Arak, Hammelfleisch mit Bohnen. Rebecca hatte ihm erzählt, dass sie häufig ein gutes Buch spannender finde als den Umgang mit Menschen, dass sie sich letztes Jahr auf einer Party unmöglich gemacht habe, weil sie sich in eine Ecke gesetzt und „Die Bibliothek von Babel“ gelesen habe. Nein, da konnte Rebecca sagen, was sie wollte, sie waren sich damals sehr nahe gekommen. Die Büchernärrin, die eine Party Party sein lässt, um sich in die Fantasien von Jorge Luis Borges zu vertiefen, in eine solche Frau musste er sich einfach verlieben.
Beim Nachtisch hatte ihm Rebecca noch etwas von einem wandernden Bibliothekar erzählt, der im Mittelalter in Bagdad aufgetaucht sei, „Wandern“ und „Bibliothekar“, das hatte sie für einen Widerspruch gehalten. Aber Bücher wandern doch auch, hatte Gerrit geantwortet, sie wandern von Leser zu Leser. Nun gut, dachte er, mit diesem Satz bin ich nicht gerade auf Rebeccas Fragestellung eingegangen, aber wie hätte mir auffallen sollen, dass sie sich übergangen fühlte, wo sie sich doch anschließend über den Tisch gelehnt und meine Wange gestreichelt hatte? Nein, da war Anziehung gewesen, Nähe. Deswegen hatte er ihr doch die Erstausgabe von „Die Bibliothek von Babel“ geschenkt, das spanische Original, Erstdruck in dem Sammelband „Ficciones“, ein unscheinbares, doch kostbares Präsent, das jetzt in Tantes Bücherzimmer verstaubte.
Rebecca, Rebecca, Rebecca, stöhnte er, muss das sein, dass diese Frau mir ständig über den Weg läuft? Er stand von seinem Bücherstapel auf, legte die „Ficciones“ auf den B-Stapel und blickte auf die Regale.
Seine Berliner Wohnung war auch voller Bücher. Nicht vollgestopft, nein, das konnte man nicht sagen, aber wohin man auch schaute, man sah Bücher. Im Arbeitszimmer standen die Titel, die er ernsthaft sammelte, Fachbücher, Nachschlagewerke, halt das, was er brauchte, was ihn wirklich interessierte. Bücher, die meine Identität ausmachen, hatte er einmal etwas hochtrabend gesagt, Bücher, die den geistigen Raum schaffen, in dem er sich geborgen fühlte.
Was er nicht ständig sehen wollte, hatte er ins Gästezimmer verfrachtet oder in speziell angefertigten schmalen Regalen aus hellem Holz auf dem Flur untergebracht. Da sahen sie recht dekorativ aus, es waren ja auch keine schlechten Bücher. Tieck, Novalis und Hesse waren darunter, also durchaus lesenswerte Titel, von denen er allerdings wusste, dass er selten wieder hineinschauen würde. Daneben standen „Dracula“, „Frankenstein“ und alle möglichen Kriminalromane, für die er einmal ein Faible gehabt hatte.
Bücher, die niemand sehen sollte, lagerten in Kisten auf dem Dachboden. Aleister Crowley und andere Meister der Magie waren dort gelandet, auch die ganzen Erzeugnisse des Erich von Däniken, die er zum Entsetzen seiner Freunde einst mit Begeisterung gelesen hatte. Weil der Spott zu ätzend wurde, hatte er den ganzen Stapel eines Tages verschwinden lassen, ihn zu den anderen Kisten gestellt, in denen auch noch eine recht umfangreiche Sammlung „galanter“ Romane des 18. Jahrhunderts lagerte, darunter teils kaum bekannte pornographische Werke der Größen der Weltliteratur, von denen er eine ganze Menge zusammengetragen hatte, eine Sammlung, auf die er recht stolz war. Aber wenn einer seiner Bekannten entdeckt hatte, dass er von Maupassant nicht nur den „Bel-Ami“ im Regal stehen hatte, sondern auch „Die Abenteuer einer Pariser Kokotte“, dann hatte er sich von den ach so modernen und liberalen Besuchern nichts als blöde anzügliche Bemerkungen eingehandelt.
Den Rest warf er weg, was er halt so geschenkt bekommen hatte, oder, wenn er ehrlich war, was er sich gekauft hatte, dann aber doch für völlig unter seinem Niveau hielt. Ein paar Sexratgeber waren darunter, die er sogar im Kamin verbrannt hatte, damit Maria sie nicht etwa zufällig im Altpapier entdecken könnte, auch Taschenbücher über Seelenpartner und sonstiges esoterisches Zeugs.
Plötzlich hörte er den hellen Klang der kleinen Schiffsglocke an der Tür. Gerrit war überrascht und verärgert: Unangemeldeter Besuch - und das so spät! Vor der Tür stand ein junger, rundlicher Mann, der sich jovial als Quentin vorstellt, „der Quentin vom Manor House“, wie er erklärend im typisch näselnden Ton seiner Klasse hinzusetzte.
Gerrit erinnerte sich, das „Manor House“ genannte Gutshaus einmal bei einem Spaziergang mit Viktoria gesehen zu haben. Wie das Haus Usher war es ihm vorgekommen. Er hatte unwillkürlich nach einem Riss im grauen Gemäuer Ausschau gehalten, nach Zeichen, dass das düstere Haus dereinst zusammenbrechen würde. Nun stand sein Besitzer vor ihm. Was will dieser Quentin von mir, fragte er sich, während dieser ohne Aufforderung schnurstracks in die Küche ging, wo er sich in den Stuhl am Tisch fallen ließ. Gerrit beäugte ihn argwöhnisch. War dieser Quentin etwa ebenso geistesgestört wie Roderick Usher, der Held von Poes Erzählung? Er wusste es nicht zu sagen, sicher war nur, dass er Quentin nicht leiden konnte, zugleich aber neugierig auf diesen Mann war, der in Gummistiefeln, Cordhose und Barbour-Jacke, alles in grün, vor ihm saß.
Gerrit bot ihm ein Bier an, nachdem er sich schnell eine wärmende Jacke übergezogen hatte. Wie selbstverständlich der sich hier bewegt, ging Gerrit durch den Kopf, als ob er bei Viktoria ein Dauergast gewesen wäre. Eine Verbindung zwischen diesem Gutsbesitzer mit seinen ungepflegten dunklen Haaren und Viktoria konnte Gerrit sich nicht vorstellen. Allerdings, fiel ihm ein, einen Hang zu skurrilen Typen hatte seine Tante schon immer gehabt, ganz im Gegensatz zu ihm, der diesen jungen Mann in Grün gerne wieder losgeworden wäre. Doch dieser plauderte drauf los:
„Kennst du schon deine Nachbarin? Die ist Künstlerin. Weißt du was, die braucht einen Mann. Wär’ das nichts für dich? Du bist doch allein hier aufgetaucht oder hab ich da etwas übersehen?“
Er trank sein Bier mit einem Schluck fast aus.
„Nein? Dann geh doch bei ihr vorbei, das lohnt sich“, fügte er mit einem schiefen Grinsen hinzu, das wohl verschwörerisch wirken sollte. Gerrit reagierte nicht, was den jungen Gutsbesitzer jedoch nicht davon abhielt, im selben Stil fortzufahren. „Und wenn es mit der nichts wird, dann ist da doch Rebecca. Genau an diesem Küchentisch habe ich schon mit ihr gesessen, die war oft bei Viktoria. Tolles Weib, kann ich dir sagen, ich hab mir immer vorgestellt, wie die sich nackt im Bett räkelt. Aber was red ich, du kennst sie bestimmt schon, am Ende weißt du besser als ich, wie sie sich im Bett anstellt!“ Er lachte vor sich hin, Gerrit betrachtete derweil den zerfallenden Schaum in seinem Bierglas.
Plötzlich hatte er ein Bild vor Augen: Quentin und Rebecca im Pferdestall. Quentin hatte seine Hose runtergezogen und Rebecca züchtigte ihn mit seiner Reitgerte. Stopp, sagte er sich und trank einen Schluck, es reicht, wenn einer hier am Tisch in triviale Sex-Fantasien abdriftet.
„Mit Rebecca jedenfalls kannst du dich sehen lassen“, fuhr Quentin unbeirrt fort, „aber pass auf, die Tussie ist anspruchsvoll, bei der musst du dich ins Zeug legen, das könnte anstrengend werden.“ Dann setzte er nach einem großen Schluck Bier hinzu: „Aber die ist nicht auf Männer scharf, sondern auf Geld und Macht. Die bekommt, was sie will, glaub mir, ich kenne mich da aus, so was rieche ich sofort.“
Gerrit fand, man sollte diesen rundgesichtigen, distanzlosen Typen nicht Quentin nennen, sondern Babyface, weil sein Gesicht wie ein Kinderpopo nach einer Tracht Prügel wirkte. Hoffentlich gibt es nicht noch mehr Verrückte von der Sorte in diesem Dorf, dachte er. Er hatte Angst, er als Ausländer könne solche Typen anziehen wie das Licht die Motten. Quentin erzählte noch den alten Witz vom Weihnachtsmann, der keine Kinder hat, weil er nur einmal im Jahr kommt, und schon war er wieder an der Tür, durch die er mit einem „Schön, dich kennen gelernt zu haben“ verschwand.
Gerrit goss das restliche Bier mit einem Schwung in den Ausguss und räumte die beiden Gläser in die obere Abteilung der Spülmaschine. Dieser blöde Typ, ärgerte er sich, meint, er hätte den Durchblick, aber schwafelt bloß dumm herum. Was wollte der wirklich? Gerrit konnte sich nicht vorstellen, dass Quentin nur gekommen war, um ihm in männlicher Solidarität mitzuteilen, wo er seine körperlichen Bedürfnisse befriedigen könnte.
Konnte es denn Zufall sein, dass Quentin schon am ersten Abend auftauchte? Wollte er irgendetwas überprüfen? Ihn aushorchen? In wessen Auftrag? Aber wenn das seine Absicht gewesen wäre, hätte er sich dann nicht fürchterlich ungeschickt angestellt? Vielleicht auch nicht, womöglich wollte er erst einmal Gerrits Vertrauen erschleichen. Gerrit nahm sich vor, auf der Hut zu sein.
Er holte das Bierglas, aus dem Quentin getrunken hatte, wieder aus der Spülmaschine heraus und warf es in den Mülleimer, wo es zu seiner Freude zersplitterte.
Die Küche war ihm jetzt verleidet. Er beschloss, früh ins Bett zu gehen und sich die Decke über den Kopf zu ziehen.