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Kapitel 7 Rebecca
ОглавлениеD as Paradoxe verleiht dem Leben den Zauber ausdrucksfähiger Absurdität, gibt ihm das zurück, was es ihm von Anfang an beigelegt hat.
Emile Michel Cioran
Was für einen Quatsch ich heute Nacht geträumt habe, überlegte Gerrit am nächsten Morgen. Rebecca an einem Pfahl festgebunden, mitten im Wald auf einer Lichtung, getaucht in ein seltsam schlieriges nebelgraues Licht. Und was sie anhatte: So ein die Brüste hochquetschendes schwarzes Lederkorsett aus der Sado-Maso-Ecke. Nicht weit entfernt dieser Oberkorrekte aus dem Anwaltsbüro im schwarzen Anzug mit Hut. Der Mann hatte mit seinem langen Zeigestock in die Richtung der an den Handgelenken gefesselten Rebecca gezeigt. Darauf eine Nahaufnahme von Rebeccas Schenkel, dann, träge streichelnd, die Hände des Oberkorrekten. Und Rebeccas Augen. Ein seltsamer Blick. Wollte sie ihn locken? Herausfordern? Aber wozu? Ach ja, da war plötzlich eine grotesk große Feder gewesen, schwarz-braun gestreift, die Feder war über Rebeccas Brüste gefahren, immer wieder, hin und her.
Was habe ich mir da nur zusammengeträumt, wunderte sich Gerrit. Diesen Traum musste er für sich behalten. Er sah vor sich, mit welchem Gesichtsausdruck ihm die Leute etwas über die Fantasien eines sexuell frustrierten alternden Mannes erzählen würden. Das Dumme war – so unrecht hatten sie nicht. Im Gegenteil, wenn er ehrlich war, dann hatte er dieser Selbstdiagnose nichts hinzuzufügen: Wilde Fantasien eines alternden Mannes, dessen reales Sexualleben nicht der Rede wert war.
An den Rest konnte er sich nicht mehr erinnern. Er bekam die Bruchstücke nicht mehr zusammen: Rebecca, Viktoria, Maria, Helen – der ganze Raum hatte von Frauennamen wiedergehallt. Gehörte dazu das Bild, dass dieser Mann mit seinem Zeigestock mehrmals Rebeccas rot geschminkte Brustwarzen angetippt hatte? Gerrit wusste es nicht mehr. Einen Satz Rebeccas aber hatte er völlig klar im Ohr: „Ich bin die Geschichte, die mich rühmt“ Gerrit wollte den Satz in sein Notizbuch schreiben, ließ es dann aber bleiben. Klingt mächtig tiefsinnig, überlegte er, aber als denkender Mensch sollte man nie auf das hereinfallen, was nur tiefsinnig daherkommt.
Er stand auf, ging in die Küche, um sich seinen Kräutertee aufzubrühen. Während das Wasser kochte, fiel sein Blick nach draußen, in den Garten. Aus dem Rasen ragte eine zusammengeklappte Wäschespinne. Sofort war das Traumbild wieder da: Der Pfahl, die gefesselte Rebecca. Klar, machte er sich über sich selbst lustig, ich hab's, das Haus ist schuld, wenn ich derart komische Träume habe. Das kennt man doch, in England spukt es bekanntlich in jedem zweiten Haus, hier hängen die Geister in allen Ecken. Sie bedrängen einen mit schrägen Fantasien, oder, noch besser, ab jetzt wird mich regelmäßig Tantes Geist im Traum heimsuchen, um mir übersinnliche Erkenntnisse einzuflüstern. Er lachte bitter. Geister, Engel und Dämonen, eine moderne Pest, Folge der grassierenden Denkfaulheit, schlimmer als mittelalterliche Seuchen, wie kann man nur!
Irgendwie musste er herausfinden, welche Rolle diese Rebecca spielte. Nicht in seinen Träumen, er war schließlich kein Traum-Profi, im Gegenteil, von der ganzen Traumdeuterei hatte er noch nie viel gehalten. Nein, diesen Traum konnte er getrost vergessen, aber dass Rebecca eine zwielichtige Rolle beim Verschwinden Viktorias spielte, wollte ihm nicht aus dem Kopf. Er musste herausfinden, auf welcher Seite sie stand, ob er ihr vertrauen konnte. Aber wie? Er versuchte sich an die Tricks von Krimi-Detektiven zu erinnern, doch es fiel ihm nichts ein, was auf seine Situation gepasst hätte.
Das Telefon riss ihn aus seinen Gedanken. Der Beauftragte einer Bank in Liechtenstein wollte Gerrit sprechen, private Vermögensverwaltung. Er bot ihm neue Dienste seines Hauses an, gab ihm seine Durchwahl.
Was war denn das? Gerrit war verblüfft: Woher weiß der, dass ich hier bin? Stecken englische Anwälte mit Liechtensteiner Banken unter einer Decke? Die Tante ließ ihr Geld in Liechtenstein verwalten, das hatte sie ihm erzählt, erinnerte er sich: Bei seinem letzten Besuch im Winter, als der Sturm Türen und Fenster klappern ließ, hatten sie hier am Buchenholztisch gesessen, sich über die Wut vieler Deutschen auf das „Steuerparadies“ unterhalten.
„Wie in Deutschland Leute mit Geld behandelt werden“, hatte Viktoria sich ereifert, „das ist unmöglich! Immerfort wollen sie umverteilen. Anstatt mit dem Sparen anzufangen, überlegen sie sich alle möglichen Tricks, um uns auszurauben. Enteignet werden wir, scheibchenweise enteignet! Und wenn unsereins sich gegen die kriminellen Raubzüge der Steuerbehörden wehrt und im Ausland investiert, dann wird er wie ein Verbrecher behandelt! Nur gut, dass ich mich auf meine Bank in Liechtenstein verlassen kann“, hatte Viktoria noch kurz angemerkt, dann war das Gespräch wie der heulende Wind schon weiter geeilt.
Die Tante besaß also ein Konto in Liechtenstein, das war klar, wer aber kann dem Vermögensberater dieser Bank seinen Namen verraten haben? Wer wusste, dass er im Moment unter dieser Telefonnummer zu erreichen war? Wer außer Rebecca? Wusste sie denn auch, was ihm der Anwalt heute unterbreitet hatte? Konnte sie das wissen? Woher? Das alles ergab keinen Sinn.
Gerrit wollte aufstehen, sich das Haus genauer ansehen, vielleicht schon ein paar Blicke auf die Bücher werfen. Aber zu seinem Ärger blieben seine Gedanken an Rebecca hängen. Rebecca am Marterpfahl, dann trägt sie auch noch so ein Sado-Maso-Teil – er schüttelte den Kopf über seine Traumbilder. So ein Unsinn, dachte er, nur weil mir meine Tante eine eigenartige Schenkung macht, ist plötzlich Rebecca wieder da? Viktoria hatte Rebecca und Gerrit damals regelrecht verkuppelt. Aus heiterem Himmel hatte sie vorgeschlagen, über das Wochenende ans Meer zu fahren, „damit du meine rechte Hand kennen lernst.“ Gerrit erinnerte sich noch genau daran, wie peinlich ihm das gewesen war. Und trotzdem: Liebe auf den ersten Blick, anders konnte man das nicht nennen. Richtig charmant war er gewesen, hatte Rebecca immerfort angesehen. Wie konnte ich nur so um sie herumtanzen, seufzte er, aus einem Film, in dem der Held sich derart aufführt, wäre ich sofort herausgestürmt. Aber Viktoria hatte sich gefreut, sie hatte ihr Ziel erreicht.
Rebecca und Gerrit, „The Beauty And The Beast“, wie Gerrit, auf Widerspruch hoffend, manches Mal gesagt hatte, ein Traumpaar, das sich schon bald über die Zahl der Jacken in der Flurgarderobe und die Kalkränder auf den verchromten Armaturen im Bad gestritten hatte. Das Übliche halt, aber das war es nicht gewesen. Schlimmer war, dass Rebecca sich immer öfter bei ihm beklagt hatte, er ignoriere sie. Vielleicht hatte sie damit gemeint, dass er die Lust daran verloren hatte, mit ihr zu plaudern, dass er länger als nötig in seinem Institut geblieben war, sich schweigend hinter seinen Rechner zurückgezogen hatte. Er war zunehmend passiver geworden, auch im Bett. Eine eigenartige Ruhe hatte sich zwischen ihnen ausgebreitet, in den fünf – oder waren es sechs – Jahren ihres Zusammenlebens waren sie nie aufeinander losgegangen wie „The Beast And The Beast“.
Und dann hatte sie ihn verlassen, wegen eines Piloten! Eine unangenehme Geschichte, an die Gerrit nur ungern zurückdachte.
Außerdem war da dann Maria gewesen, die ihn heiraten wollte, und die dies genauso zielstrebig und schnell umgesetzt hatte wie die Produktion einer neuen Folge irgendeiner Fernsehserie an drei Drehtagen, wie sie das bei ihrer Potsdamer Filmfirma gelernt hatte. Seine Freunde und Kollegen hatten über die plötzliche Heirat den Kopf geschüttelt. Rebecca hatte er nur noch selten getroffen, und wenn, dann im Büro seiner Tante, wo sie ausgewählt zuvorkommend miteinander sprachen. „Meine rechte Hand“, pflegte Viktoria Rebecca zu nennen.
Viktoria hatte Gerrit wegen der Trennung von Rebecca regelrecht abgekanzelt. Einen „autistischen Egozentriker“ hatte sie ihn genannt, dem jegliche Fähigkeit fehle, sich in andere Menschen, gar in Frauen einzufühlen.
Du nutzt mich aus, hatte Rebecca ihm öfter vorgeworfen, einen Vorwurf, den er bereits von anderen Frauen kannte. Autist, Egozentriker, ein Mann, der die Frauen nur ausnutzt – was Frauen sich alles an Vorwürfen ausdenken, um von ihrer eigenen Schuld abzulenken!
Er ging in der Küche langsam auf und ab, nippte an seinem süßen Kräutertee, der schon relativ kühl war. Seine Gedanken kreisten um Rebecca, den seltsamen Traum und die Sache mit der Vermögensverwaltung in Liechtenstein.
Abermals schrillte das Telefon. Sein Freund Georg aus Berlin erkundigte sich, wie es ihm da am Ende der Welt so ergehe. Gerrit blieb bei einigen vagen Bemerkungen, weil er fürchtete, Georg werde ihn mit Fragen und Ratschlägen überhäufen.
Während Georg ihm den neuesten Tratsch aus der Welt ihrer gemeinsamen Berliner Bekannten auftischte, wanderte Gerrit mit dem Telefon in der Hand ins Bücherzimmer. Er genoss den Ausblick über den Garten mit seinen alten Apfelbäumen. Die Bäume müssten geschnitten werden, fiel ihm auf, während Georg ihm die letzten Wendungen der Institutspolitik darlegte, lauter Sachen, die ihm bereits so fern waren wie das arktische Eis. In der Ferne brummte ein Rasenmäher, die Wetterfahne auf dem Nachbarhaus zeigte nach Nordost, ganz hoch oben flogen ein paar Schwalben.
„Gefällt es dir nicht auf dem Lande?“, kam Georg auf das anfängliche Thema zurück.
„Doch, doch, ist mächtig idyllisch hier“, antwortete Gerrit
„Das klingt aber nicht überzeugend. Genieß das Landleben! Sei froh, dass du dazu noch jede Menge tolle Bücher im Haus hast. Das ist doch ein kleines Paradies! Fang endlich mit dem Genießen an. Sei zufrieden, entspann dich, schau dich um, was da für interessante Frauen rumlaufen. Nörgele mir bloß nicht die Ohren voll. Was soll ich denn sagen? Ich habe Ischias! Dieser Ischias, sagen mir die Psychosomatiker, ist eine Zuwendungskrankheit, ein Schrei nach Nähe, Berührungen und Liebe. Die Theorie hab ich kapiert, jetzt fehlt nur noch die Umsetzung in die Praxis. Ich weiß jedenfalls, wonach ich suche, aber du, was suchst du denn überhaupt? Weißt du, was dir fehlt?“ Danach brach sein Redeschwall ab, als ob alles gesagt sei. Da Gerrit nichts zu antworten wusste, beendeten sie ihr Gespräch.