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Kapitel 4 Berlin - Norfolk

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Mir, mir Armen war mein Büchersaal

Als Herzogtum genug


William Shakespeare



Es war ein sonniger Morgen, wie es sich für einen Geburtstag gehört. In seinem Arbeitszimmer saß Gerrit vor seinem Notizbuch und überlegte lange. Dann schrieb er mit königsblauer Tinte in fast kindlicher Schönschrift, jeder Buchstaben klar und rein, einen kleinen Satz in sein Notizbuch, der ihm fundamental erschien: „Ich bin buchbesessen.“ Er sah sich seinen Eintrag an. Ja, er war zufrieden mit diesen drei Worten. Brachten sie nicht sein bisheriges Leben auf den Punkt?


Seinen fünfundvierzigsten Geburtstag wollte Gerrit mit seiner Frau Maria mit einem Abendessen in ihrer Wohnung feiern. Harmonisch, ein Stück Ehe-Idyll stellte er sich vor, wenigstens an seinem Geburtstag, das schien ihm nicht zu viel verlangt. Sie wollten gemeinsam kochen, doch Maria kam nicht.


Gerrit trug freudig das „gute“ Geschirr auf und dekorierte sorgfältig den Tisch. Das hatte er schon als Kind gerne gemacht: Besteck, Teller, Gläser und Servietten nach einem immer wieder leicht variierten Schema akkurat auszurichten. Kerzen durften nicht fehlen, klar. Er trank schon mal ein Glas Wein und putzte das Gemüse. Dann noch ein Glas Wein. Danach stellte er den Reis auf. Irgendwann kam Maria, strahlte Stress aus, sagte nicht viel. Sie tranken ein Glas gemeinsam, Maria übernahm die Zubereitung des Hühnerfrikassees, gab kurze Anweisungen und redete ansonsten nicht viel. Hatte sie beruflichen Ärger gehabt? Gerrit wusste es nicht. Er bemerkte nur, dass die Stimmung irgendwie frostig war. Ärger mit Kollegen, schlechte Laune? Woher sollte er das wissen. Er trank noch ein Glas Wein, Maria wollte nicht mittrinken. Könnte sie nicht wenigstens an seinem Geburtstag eine bessere Stimmung verbreiten? Aber sie blieb weiter wortkarg, so wortkarg, gestand Gerrit sich ein, war sie häufig, es fiel nur nicht so auf, weil sie recht wenig Zeit miteinander verbrachten.


Da ihm nichts Besseres einfiel, plauderte Gerrit von dem Arktisforscher Knud Rasmussen, der die Mythen und Sagen der Inuit gesammelt hatte, volkstümliche Erzählungen, die die Grausamkeiten der Grimm`schen Märchen bei weitem in den Schatten stellten, was er mit einigen Beispielen illustrierte. Das war beim Hühnerfrikassee auf Reis. Bei den frischen Erdbeeren mit Schlagsahne erwähnte er, dass Rasmussen nach einem Festmahl an Fleischvergiftung gestorben war. „Es war ein eingelegter Alk, so eine Art Pinguin der nördlichen Meere, den manche für eine Delikatesse halten“, erklärte Gerrit ohne in seiner Rotweinlaune zu bemerken, wie seine Frau ihn angeekelt anschaute, als ob kleine weiße Maden aus diesem Alk heraus kriechen würden. Nach einem weiteren Glas Wein kam der Ausbruch. „Ich will nicht mehr“, sagte sie, „mit deinem Gerede hast du die ganze Stimmung kaputt gemacht, ich will das Essen und den Wein genießen, aber du erzählst mir ekelhaftes Zeugs, das du irgendwo gelesen hast. Und das soll sensibel sein?“

Gerrit wollte gerade ansetzen, zu erklären, dass er das doch gar nicht so gemeint habe, da sprang sie auf, warf ihren Stuhl um und schrie: „Was siehst du überhaupt? Kriegst du denn noch irgendwas mit, was nichts mit Büchern, Eishelden und Autoren zu tun hat? Du hast die Bücher für deine Innenwelt, die Außenwelt brauchst du nur für deinen Sex! Ekelhaft bist du, völlig beschränkt, so was wie Mitgefühl und Innigkeit kennst du überhaupt nicht! Typisch Mann!“

Er stand schweigend auf und zog sich, ohne sich umzuwenden, in sein Arbeits- und Schlafzimmer zurück.

So eine dumme Kuh, ärgerte er sich, sie weiß doch ganz genau, was Bücher mir bedeuten. Woher kommt das Geld für diese große Wohnung? Weil ich mich mit Büchern beschäftige, verdammt noch mal! Gerrit war wütend. Die Sache schien ihm völlig logisch zu sein: Seine Frau war auf seine Bücher eifersüchtig, das war’s, sie wollte einen wichtigen Teil seiner Persönlichkeit nieder machen, wollte ihn völlig unter ihre Kontrolle zwingen. Nichts da, nicht mit ihm! Ich brauchte keine „feste Beziehung“! Feste Beziehung, Festung Beziehung, Festungshaft Beziehung, nein, dachte er, ich durchschaue das Theater, jetzt gilt es, klare Entscheidungen zu treffen. Er wollte kein Ehekrüppel werden! Trennung – das schien ihm die einzige klare Entscheidung zu sein. „Sie oder ich“, sagte er laut, „wenn diese Frau nicht bis morgen Mittag die Wohnung verlässt, werde ich diese Wohnung nicht mehr betreten!“ Klare Sachen wollte er machen, sich auf kein Palaver mehr einlassen, fest bleiben.

Als er sich ins Bett legte, fiel ihm der finanzielle Aspekt der ganzen Sache ein. Er versuchte zu kalkulieren, was ihm die Scheidung kosten würde, aber die Zahlen schwirrten ihm nur noch durch den Kopf. Egal, sagte er sich schließlich, hier geht es nicht ums Geld, sondern um mich.


Als Gerrit am Morgen aufwachte, war sein Zorn ein Stück weit verflogen. Bestimmt kommt sie mich wecken, hoffte er, wenn sie einsieht, wie verrückt es ist, auf meine Bücher eifersüchtig zu sein. Das wäre ein erster Schritt in die richtige Richtung. Gerrit blieb so lange im Bett liegen, wie er konnte, und wartete. Aber sie kam nicht. Er stand auf und überlegte. Wenn sie nicht einsieht, dass sie etwas gegen diese alberne Eifersucht tun muss, geht alles unselig weiter. Nein, dann hat sie eine Schlacht gewonnen. Sie wird hier ein Stück von meinem Gebiet besetzen, dann da ein Stück, dann noch eins. Er stapfte im blaugestreiften Schlafanzug zwischen Bett und Schreibtisch hin und her. Sein Forschungsjahr fiel ihm ein, nur noch knapp zwei Wochen und dann bräuchte er ein ganzes Jahr nichts zu tun als zu lesen und an einem Buch zu arbeiten, ungestört, in seiner eigenen Ruhe, herrlich. Und da wollte ihm diese Frau seinen Raum, sein bisschen Freiraum wegnehmen, ihn wie einen Kanarienvogel in einen Käfig sperren! Fast hätte er vor Wut dem Kleiderschrank einen kräftigen Tritt versetzt. Stopp, sagte er sich, cool bleiben, wenn ich mein Forschungsjahr nicht mit Beziehungsgezänk verplempern will, muss ich jetzt meine Koffer packen und raus. Andere Luft, andere Umgebung, Ruhe zum Denken und Arbeiten, das ist es.


Er packte ein paar Sachen zusammen und fragte seinen Freund Georg, ob er bei ihm übernachten könnte. Als er am nächsten Morgen mit Georg zusammen beim Frühstück saß, rief ihn Rebecca an. Der Anwalt drängelte, er möge doch bitte innerhalb eines Monats vorbeikommen. Gerrit begriff sofort die Chance, die sich ihm bot and sagte: „Klar, ich würde am liebsten noch heute fliegen, morgen würde es auch gehen.“ Rebecca ließ sich ihre Verblüffung nicht anmerken und antwortete nur trocken, sie werde sich um Flugtickets bemühen.

Ein paar Stunden später war alles vorbereitet, die Flüge gebucht, der Mietwagen bestellt. Er würde in Viktorias Haus wohnen und von ihrem Anwalt hören, was der ihm mitzuteilen hatte. Rebecca mailte ihm Abfahrts- und Ankunftszeiten zu, die Adresse des Anwalts, die Fahrtroute und erinnerte ihn an die Zeitverschiebung. Unter der Aufstellung wünschte sie ihm nochmals eine erfolgreiche Reise. Sie hatte alles mit Rebecca gezeichnet, ohne Nachnamen, aber auch ohne ein handschriftliches Zeichen. Darunter stand noch: „Pass auf mit dem Linksverkehr. Du weißt, der Straßenrand darf nie an deiner Fahrerseite sein.“


In der gläsernen Abflughalle des Flughafens schoben genervt wirkende Menschen emsig ihre gepäckbeladenen Trolleys vor sich her. Es war noch früh am Tag, aber trotzdem standen schon viele Fluggäste in der Schlange an der Sicherheitskontrolle. Als diese einschüchternde Maßnahme überstanden war, ließ er sich einer jungen Frau gegenüber in einen Metallstuhl fallen, dessen Härte ihn nicht willkommen hieß.

Die junge Frau, die erstaunlich tiefschwarzes dichtes Haar hatte, zog ein buntes Magazin aus ihrer Einkaufstasche. Sie schlug es mittendrin auf. Gerrit bemerkte, wie er mit seinem Fuß wippte, dazu im Rhythmus ständig die Schultern hochzog. Das wird schon alles glatt gehen, sagte er sich, um sich zu beruhigen. Er betastete zum dritten Mal die Innentasche seiner Jacke, in die er seinen Pass gesteckt hatte, suchte fahrig seine Boarding Card, fuhr bei jeder Lautsprecheransage auf, vor lauter Angst, er könne seinen Flug versäumen.

Gerrit hatte noch nie einen Flug verpasst, aber die ganze Sache ließ ihn einfach nicht los. Erst verschwindet die Tante spurlos, dann dieser dringende Termin bei ihrem Anwalt. Er konnte sich keinen Reim darauf machen. Dieser Anwalt hätte doch wenigstens mitteilen können, worum es denn nun ging! Telefonisch war er nicht zu erreichen, auf eine E-Mail antwortete er entschuldigend, er sei leider nicht befugt, vor ihrem Treffen etwas zu sagen. Das sei die Anweisung seiner Klientin. Blöde Geheimnistuerei! Müssen sich Anwälte derart wichtig geben oder ist das die feine britische Art?

Die junge Frau gegenüber blickte von ihrem Magazin auf. Gerrit konzentrierte sich auf seinen Fuß: Jetzt nur nicht nervös rumzappeln. Aber sie vertiefte sich wieder in ihre Lektüre, jedenfalls tat sie so als ob.

Warum ließ Viktoria ihn nach England fliegen? Klar, sie ist meine Tante, dachte Gerrit, aber mehr auch nicht. Nach dem plötzlichen Tod der Eltern hat sie sich ein wenig um ihn gekümmert, doch um wieder Sohn zu werden, war er viel zu alt. Ein paar E-Mails meist über Filme, Bücher oder kulturelle Ereignisse in Berlin, einige Kurzbesuche, das war es dann schon gewesen. Und die gemeinsame Arktisreise, klar, aber war das ein Grund, ihn jetzt zu ihrem Anwalt nach England zu zitieren, zu so einem wichtigtuerischen Paragrafenknecht, der ihm noch nicht einmal verraten wollte, was denn nun Sache ist? „Traue niemals einem Anwalt“, hatte Rebecca ihm neben ihrer Linksfahrregel mit auf dem Weg gegeben. Ob das nur eine dumme Redensart oder ein ernst zu nehmender Tipp von Rebecca war, war ihm nicht klar. Dass Frauen sich nie klar ausdrücken!

Als er an Rebecca dachte, fiel ihm auf, dass ihn die junge Frau mit ihren schwarzen Haaren irgendwie an sie erinnerte. Aber wieso? Die Haarfarbe konnte es nicht sein, Rebecca färbte sich ihre Haare kastanienbraun. Aber diese Haltung, etwas gelangweilt, distanziert, trotzdem jederzeit völlig sich der eigenen erotischen Ausstrahlung bewusst. Das könnte Rebeccas Schwester sein, ging ihm plötzlich durch den Kopf, vielleicht hat sie ihre Schwester damit beauftragt, mich zu bewachen?

Könnte es sein, dass Rebecca etwas mit Viktorias Verschwinden zu tun hat? Gut, sie wird sie nicht direkt umgebracht haben, überlegte Gerrit, das traute er ihr nicht zu, aber trotzdem. Als Viktorias Büroleiterin muss sie doch mehr wissen. Spielt sie nur die Ahnungslose? Steckt sie am Ende mit denen, die Viktoria auf dem Gewissen haben, unter einer Decke? Aber warum? Um an Viktorias Geld zu kommen?

Wieder rief er sich zur Ruhe. Es konnte doch nicht angehen, dass ihm wegen solch einem blöden Anwaltstermin die Fantasie durchging. Hier wird doch kein Krimi gedreht, dachte er. Aber die beiden dicklichen Männer da hinten mit ihren dunklen Anzügen und ihren affigen Sonnenbrillen, sahen die nicht aus wie die Film-Bösewichter schlechthin? Und glotze ihn diese Mutter mit ihrer kleinen Tochter nicht ständig zu ihm hinüber, als ob er eine Hauptrolle hätte?


Der Flug war langweilig und unbequem. Selbst schuld, ärgerte sich Gerrit. Wer aus Geiz nicht Business-Class fliegt, darf sich nachher nicht beschweren, wenn die Sitze schrecklich eng sind und die Abfertigung den Charme eines militärischen Appells besitzt. Der Copilot sagte irgendetwas, was im allgemeinen Geräuschniveau unterging. Danach kamen zwei Flugbegleiter. Sie wollten ihm etwas verkaufen. Reisen, sah er ein, ist nur noch in der Fantasie schön. „Lieber zu Hause bleiben, als mit Billigfliegern fliegen“, war einer der Standardsprüche Marias gewesen. In diesem Fall musste er ihr Recht geben. Ja, in solchen Sachen hatte sie immer den Durchblick, ging ihm durch den Kopf. Trauerte er ihr hinterher? Trennungsschmerz? Das ich nicht lache, sagte er sich und versuchte, an etwas anderes zu denken.

Der Flug gefiel ihm nicht. Gerrit trauerte den Zeiten hinterher, als das Fliegen noch etwas Besonderes war, als man von ausgesucht hübschen Stewardessen mit Speise und Trank verwöhnt wurde, alles im Flugpreis inbegriffen natürlich. Dieses Flair, das er noch aus seiner Jugend kannte, war verschwunden. Im Flugzeug gelangte man nur noch von A nach B, nicht viel anders als mit der U-Bahn, nein, hatte nicht heuzutage manch eine U-Bahn bequemere Sitze als dieses moderne Billig-Flugzeug? Alles wird billig, aber das Billige macht keinen Spaß! Er schüttelte den Kopf: Das Billige tötet den Spaß am Gekauften ab, überall nur noch Massenware, Schund. Langsam einnickend sah er eine Gruppe von Menschen vor sich, die sich mühsam einen Weg durch Berge von buntem hässlichem Kram bahnte. „Ekelhaft ist das alles!“, riefen diese Menschenmassen, „weg mit dem fürchterlichen Zeugs! Wir kaufen nichts mehr, wir streiken, ja, Kaufstreik!“ Dann sah er neun Männer in rot-weißer Arbeitskleidung, die einen Bücherstapel nach dem anderen in einen riesigen schwarzen Container warfen. „Gut so“, feuerte er sie an, „weg mit dem Ramsch!“ „Immer zu Diensten, gnädiger Herr“, rief einer der Männer ihm zu, „wenn sie wollen, nehmen wir uns als nächstes ihre Wohnung vor!“ Schon machte sich die Arbeitskolonne wie die Heinzelmännchen über seine Wohnung her. Stumm durchwühlten sie alle Zimmer, alle Schränke und Schubladen. Alles Überflüssige und Hässliche flog zum Fenster hinaus. Oh je, befürchtete Gerrit, das wird Ärger geben, wenn der ganze Kram auf dem Bürgersteig herumliegt. Aber unten wurden alle Scheußlichkeiten und unnötigen Rumstehchen sofort in einem tiefschwarzen Müllwagen entsorgt, der die Sachen verschluckte und zermalmte. In diesem Schlund landeten auch Säcke voller unnützer Bücher, Notizen, gesammelte Zeitungsausschnitte, alte Hefte. Am Schluss verkündeten drei Spezialisten, sie hätten auch sämtliche Festplatten gründlich entrümpelt, sie hofften, der Herr werde zufrieden sein. „Nur für ihre Gedanken, gnädiger Herr, dafür sind wir nicht zuständig. Auf ihren Gedankenmüll“, sagte der Chef traurig, „auf den haben wir keinen Zugriff, den dürfen sie nur selbst entsorgen, zumindest bis jetzt noch …“

Die Heinzelmännchen zogen ab, stattdessen stand jetzt in einer Ecke der angenehm leeren, luftig wirkenden Wohnung die attraktive Frau mit den schwarzen Haaren, bekleidet mit einem smaragdgrünen Unterrock. „Die Daten, die du mir durchgegeben hast, waren richtig, genau an der Stelle habe ich gefunden, was ich gesucht habe. Jetzt bin ich hier, um dich zu belohnen."

Welche Daten? Was will sie gefunden haben? Gerrit geriet ins Schwitzen, wollte zu ihr hingehen, kam aber nicht vom Fleck. Er ruderte hilflos mit seinen langen Armen, vergeblich.


Erst die Ankündigung des Landeanflugs holte ihn in seinem engen Sitz über den wolligen Wolken zurück.

In Stansted Airport, der auf Gerrit wie ein geschäftiges Treibhaus wirkte, folgte er den Mitleidenden durch endlose Gänge zu einer Bahn mit zwei Haltestellen, um durch weitere verglaste Gänge zur Gepäckausgabe zu gelangen. Die Schwarzhaarige stellte sich direkt neben ihn. Was will diese Frau von mir, überlegte Gerrit, aber dann war sie schnell entschwunden, da ihr kleiner Lederkoffer als einer der ersten auf dem Band erschien.



Tantes Tod

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