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Kapitel 1 Viktoria verschwindet
ОглавлениеKein gutes Buch oder irgendetwas Gutes zeigt seine gute Seite zuerst
Thomas Carlyle
Das Handy klingelte. Es klingelte unüberhörbar mit diesem pseudomelodiösen Klingelton, den Maria zu Gerrits Ärger eingestellt hatte. Was waren das noch herrliche Zeiten, dachte er, als nicht jeder so ein Taschentelefon hatte, man nicht beim Frühstück auf dem Balkon von so einem grässlichen Geklingele gestört wurde, bevor der Tee genügend lang gezogen hatte. Aber das Telefon klingelte weiter. Nie im Leben ein wichtiger Anruf, beruhigte sich Gerrit.
Er war allein. Maria, seine Frau, hatte vor einer Viertelstunde die Wohnung verlassen, sie hatte es eilig, ein wichtiger Termin mit den Leuten von der Postproduktion eines Films über Singles auf dem Lande. Kaum ein Tag verging, an dem sie nicht spätestens um acht Uhr unterwegs war, nachdem sie vorher hastig irgendwo zwischen Schlaf- und Badezimmer einen extra starken Espresso getrunken hatte. Für ihn war das nichts. Er liebte sein gemütliches Frühstück. Am Wochenende frühstückten sie auch nicht gemeinsam. Dann blieb Maria mindestens bis elf Uhr im Bett. Fürchterlich. Regelmäßig um halb acht aufstehen, dann in Ruhe frühstücken, danach mit der Arbeit anfangen, so beginnt ein idealer Tag, da ließ Gerrit nicht mit sich verhandeln.
Und jetzt störte ihn dieser Klingelton. Maria konnte es nicht sein. Wenn sie etwas Dringendes wollte, rief sie über das Festnetz an, weil es billiger war. Einer seiner Kollegen oder Studenten konnte es auch nicht sein, sie kannten diese Telefonnummer nicht. Das war doch gerade das Gute an seinem Beruf, dass er nicht im Büro saß, nicht ständig erreichbar sein musste, sondern sich in Ruhe mit der Zeitung, den Brötchen und den Meisen beschäftigen konnte, die in den großen Buchen auf der anderen Straßenseite rumhüpften.
Das Klingeln brach ab. Gerrit wandte sich seiner Zeitung zu, die ihn mit Berichten über die neuesten Arbeitslosenzahlen, Waldbrände in Kalifornien und über steigende Ölpreise zu fesseln suchte.
Fein gefiltert durch die Blätter der Buchen fielen die Lichtstrahlen auf seinen Frühstückstisch. Wie oft werde ich in diesem Herbst noch auf der Terrasse frühstücken können, fragte er sich, legte die Zeitung weg und nahm sich noch ein Roggenbrötchen aus dem Brotkorb. Jetzt konnte er in Frieden sein Frühstück genießen, allein mit sich, seinen Gedanken und seinem Fencheltee, den er mit etwas Anis, Milch und Honig zu verfeinern pflegte. Nicht dass er diesen Tee, der leicht nach Lakritze schmeckte, besonders gerne gemocht hätte. Aber er musste auf der Hut sein. Koffein oder Tein am Morgen vertrugen weder seine Psyche noch sein Darm, das war eine Erfahrungstatsache.
Die Butter schmolz zu einem gelblichweißen Gebilde. Als er die blau-weiße Butterdose in den Schatten rückte, klingelte das Handy abermals. Ärgerlich fuhr er sich durch seine bereits recht grauen Haare und trank einen großen Schluck Tee, als ob er damit das Klingeln abstellen könnte. Irgendwo in der Ferne tönte die Sirene eines Polizeiwagens. Er beschloss, das Gespräch anzunehmen.
„Ja“, meldete er sich, dabei beobachtete er das Sinken der Staubkörner in den Strahlen des einfallenden Lichts. Es war Rebecca, die Büroleiterin seiner Tante Viktoria, die ihn, so kam es ihm vor, hysterisch oder eher etwas wirr davon in Kenntnis setzte, dass seine Tante spurlos verschwunden sei.
Er kannte Rebeccas Stimme gut, schließlich hatten sie fast sechs Jahre zusammen gelebt, aber in diesem Tonfall hatte er sie noch nie sprechen hören. War es Ungeduld oder Angst, was ihre Stimme einen Ton höher und schärfer klingen ließ?
„Weißt du denn nicht, wo sich deine Tante aufhalten könnte? Sie wollte sich vor einer Woche bei mir melden.“
Er wusste es nicht. Er hatte von seiner Tante Viktoria nach ihrer gemeinsamen Reise nichts mehr gehört. Warum auch, sie standen schließlich nicht ständig in Kontakt. Aber Rebecca sorgte sich offenbar ernsthaft. Es lag etwas seltsam Drängendes in ihrer Stimme.
Er schaute nach oben auf den von leichten Wolkenschleiern überzogenen Himmel, in den ein Hochhaus ragte, und auf die drei Buchen. Da, da lief das Eichhörnchen, auf das er schon gewartet hatte. Viktoria war verschwunden. Gut, oder vielmehr schrecklich, aber was sollte er dazu sagen?
„Entschuldige, aber ich muss gleich ins Institut. Würdest du bitte so freundlich sein, dich zu bemühen, Näheres herauszubekommen? Sobald du mehr weißt, ruf mich doch bitte zu Hause oder im Institut an. Ich denke, dass sich alles bald auflösen wird. Und Dank dir für den Anruf. Viktoria wird wieder auftauchen, keine Angst, da bin ich mir sicher.“
Er legte auf. Sich seinem Quarkbrötchen mit Schnittlauch zu widmen, hatte er jetzt keine Lust mehr. Er ließ es angebissen liegen. Das Gespräch war beendet, doch Rebeccas Unruhe hing wie ein Flirren in der Luft.
Zwei Wochen später hatte Rebecca immer noch nichts herausgefunden. Gerrits Tante blieb spurlos verschwunden. Drei Wochen später erhielt Gerrit abermals einen Anruf von Rebecca. „Gerrit“, sagte sie, „eben hat ein englischer Anwalt bei mir im Büro angerufen, er will, dass du dich mit ihm triffst. Ich habe natürlich sofort gefragt, warum, aber da hat er nur gesagt, er sei von Viktoria bevollmächtig worden, sie zu vertreten. Weitere Auskünfte dürfe er nicht geben. Auch über Viktorias Verbleib war nichts aus ihm herauszuholen. Ich musste diesem eingebildeten Schnösel mit seinem näselnden Englisch versprechen, dich anzurufen, was ich hiermit getan habe. Alles Weitere können wir ja später besprechen." Und schon legte sie auf.
Komisch, fragte sich Gerrit, warum ist Rebecca heute derart kurz angebunden, irritierend kühl? Nach England fahren? Nur weil ein blöder Anwalt kurz angerufen hat? Das klang nicht gut. Die Sache behagte ihm überhaupt nicht. Meine Tante lässt einen Anwalt anrufen, der nur etwas sagt, wenn ich „mal kurz“ nach England düse, ärgerte er sich, komplizierter geht es wohl nicht. Wozu diese alberne Geheimniskrämerei?
Er ging im Wohnzimmer auf und ab, nach einer Weile bemerkte er, dass er immer noch das tragbare Telefon in seiner Hand hielt.
Er setzte sich in seinen Lieblingssessel, um die Aufregung wieder loszuwerden. Ohne Erfolg. Typisch Viktoria, dachte er. Dass sie ihn zu einer gemeinsamen Reise in die Arktis eingeladen hatte, war ja in Ordnung gewesen. Unterwegs hatten sie sich auch ganz gut verstanden. Aber daraus schien sie jetzt zu folgern, sie könnte ihn mal eben so zu ihrem Anwalt nach England zitieren. Weder Viktoria noch der Anwalt hatten es nötig, ihn selbst zu kontaktieren, nein, man ließ die Sekretärin einen Satz, fast einen Befehl, ausrichten! Vor ihm tauchte das Bild Rebeccas auf. Er sah sie an ihrem Schreibtisch sitzen, die braunen Haare leicht rötlich glänzend. Wahrscheinlich trug sie so ein typisches Business-Kostüm, schwarz, elegant. Mit ihrer ausgeprägten Nase und ihrem gebräunten Teint war sie ihm immer wie die Tochter eines erfolgreichen italienischen Geschäftsmannes vorgekommen, voller professioneller Höflichkeit und mit einer Selbstsicherheit, hinter der bisweilen Härte aufschien. Sie ist immerhin über vierzig, sagte sich Gerrit, als er merkte, dass er sich eine jugendliche Heldin zusammenfantasierte. Aber wenn er ehrlich war, dann hatte sie sich erheblich mehr Jugendlichkeit bewahrt als er, der bereits ab Mitte Dreißig ergraut war, was ihn enorm verunsicherte, obwohl oder gerade weil er öfter hörte, das lasse ihn reifer erscheinen. Reifer, wieso reifer, dachte er dann, wirke ich denn so unreif, dass ich nur mit grauen Haaren erwachsen aussehe?
Es fiel ihm ein, dass ihn seine Tante einst vor schönen Frauen gewarnt hatte. „Ein Eskimo“, hatte sie gesagt, „nimmt sich keine schöne Frau, weil er diese ständig ausleihen und um sie kämpfen muss.“ Macht doch nichts, hatte Gerrit bei sich gedacht, den der Gedanke, eine Frau ständig um sich zu haben, beängstigte.