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Kapitel 9 Der Klang des Ortes
ОглавлениеYou reached for the secret too soon, you cried for the moon
Pink Floyd
Gerrit lag in der Mitte des Doppelbetts und lauschte. Es war kurz nach acht Uhr morgens, nichts war zu hören außer ab und an das Zwitschern der Vögel, in der Ferne krächzte ein Hahn, keine Maschine, kein menschlicher Laut. Das Klangbild von Viktorias Haus war von Naturgeräuschen geprägt, die Gerrit die Stille bewusster wahrnehmen ließen. Er wurde in diese Stille, die ihn mit ihrem beruhigenden Klang umfing, wie in ein Vakuum hineingezogen, zugleich hatte er das Gefühl, sie würde jedes Geräusch erschreckend vergrößern. Wie anders war das in Berlin gewesen, wo das ständige Rauschen des Verkehrs und die Polizei-Sirenen ihn bedrängt hatten. Das hört man mit der Zeit nicht mehr, sagen die Leute, aber er hatte sich nie daran gewöhnen können, immer hatte er das Gefühl gehabt, die Sirenen hätten ihn vor einer lauernden Gefahr warnen wollen. Hatte da nicht ständig ein „Nimm dich in Acht, es kann auch dich treffen, jederzeit“ in der Luft gelegen? Hier könnte ich heimisch werden, dachte er. Heimat? Er wunderte sich über sich selbst. Bekam er sentimentale Anwandlungen? Kaum bin ich ein paar Tage in diesem Dorf am Meer, in diesem altmodischen Haus, lächelte er, da werde ich zum Nostalgiker, träume von Heimat, von Gemeinschaft.
Gerrit blieb im Bett liegen. Er genoss den Luxus, vor dem Aufstehen noch etwas Nachsinnen zu können. Er hatte Zeit, musste nicht mehr Vorlesungen, kluge Gedanken und wissenschaftliche Aufsätze schneller produzieren, als er denken konnte. Die Kollegen haben mich mit meinem Seefahrer-Tick nur geduldet, sagte er sich räkelnd, mich immer ein wenig als Spinner belächelt. Am Ende, dachte er, war ich für die verehrten strebsamen Kollegen so eine Art Hofnarr, an dem man nur festhielt, weil er das Beamtenrecht auf seiner Seite hatte. Aber jetzt war er aus dem Schneider. Er brauchte keine neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse mehr aus dem Hut zu zaubern, er konnte in dieser kleinen Welt am großen Meer im Bett liegen und in den Morgen hinein lauschen.
Jeder Ort besitzt seinen eigenen Klang, hatte er irgendwo gelesen. Nun verstand er es. Er überlegte sich, den Schlaf noch in den Augen, wie die Klangbilder verschiedener Orte sein Denken und womöglich gar sein Sehen beeinflussten. Klang, erinnerte er sich, wird oft mit Farbe verbunden. Der Schrei der Seeschwalben war für ihn hellgelb, ein wenig metallisch wie eine ungeölte Tür. Das Gurren der Tauben klang braun oder eher ocker. Berlins Klangbild war bunter, unruhig wie die Malerei eines Jackson Pollock. Auf dem Rücken liegend kam ihm seine englische Welt wie ein Aquarell vor, ein Aquarell mit vielen unbemalten Stellen. Er horchte in die Stille und versuchte, den Ton der Landschaft zu hören.
Viktorias Haus lag an der dem Meer zugewandten Seite der Küstenstraße, die sich eng durch das kleine Dorf schlängelte und selbst kühne Fahrer zum Herunterschalten zwang. Aber heute war kein Auto zu hören. Außer von einigen Touristen, die im Sommer dieser von Hecken begrenzten Straße folgten, da sie sich eine Überraschung erhofften, wurde sie wenig befahren, nicht weil sie keine Reize zu bieten hatte, sondern wegen des Hinweisschilds an der Abzweigung von der Landstraße. Dieses Schild war nämlich seit Jahren von weißen Heckenrosen überwuchert, die mit Efeu und Brombeeren um ihr Überleben rangen, wobei das Straßenschild der Verlierer war. Es war als Stütze der Pflanzen für das Auge des Dahinfahrenden verschwunden, zum Teil einer Hecke geworden. Wenn Gerrit an dieser Stelle vorbeikam, musste er immer an die Hecke denken, die der Sage nach Merlin auf Bitten der schönen Fee Viviane gezaubert hatte. Hinter dieser Hecke hatten sich die beiden vereinigt, worauf Merlin auf ewig von Viviane gefangen war.
Und das Dorf selbst? Es bestand aus wenigen Häusern, einigen Cottages, einer alten Post und zwei Läden, deren graue Fassaden aus faustdicken Feuersteinen einen anmutigen Kontrast zu weißer und blauer Clematis, zu Jasmin und Kletterrosen bildeten, die sich neben den bunten Eingangstüren und zwischen den Fenstern empor rankten.
Gerrit versuchte sich zu erinnern, wie Viktorias Haus, das vierte des Dorfs, wenn man von dem versteckten Schild an der Hauptstraße her kam, anfangs auf ihn gewirkt hatte. Durch eine niedrige Natursteinmauer, hinter der ein größeres Rasenstück mit einem Quitten- und einem verwitterten Pflaumenbaum lag, grenzte es sich von der Küstenstraße ab. Wie bei allen Häusern im Ort gab es eine Einfahrt, deren heller Kies knirschte, wenn jemand auf den kleinen Parkplatz vor dem Eingang fuhr. Gerrit hatte das Geräusch genau im Ohr, sah den holländischen Stufengiebel vor sich, der an die Zeiten erinnerte, als ein reger Warenaustausch mit Flandern diese Gegend geprägt hatte. Als er zum ersten Mal Viktorias Haus durch die blaue Holztür betreten hatte, fiel ihm ein, hatte er sich wie ein Zeitreisender gefühlt, der sich in ein Gemälde Vermeers verirrt hatte. Ein gefliester Flur, eine Holztreppe führt nach oben, rechts die Küche, links das Bücherzimmer, beide Räume mit großen Fenstern, die den Blick über die Terrasse in den leicht verwilderten Obstgarten zogen.
Ja, überlegte er, Zeitreisender oder Nostalgiker, es ist mir gleich, wie man das nennt, aber hier habe ich die richtige Umgebung um zu schreiben, um einen Roman zu schreiben. Und keineswegs Viktorias Roman, sondern meinen eigenen, versicherte er sich mit einer plötzlichen Entschiedenheit, über die er selbst erschrak.
Nun konnte er aufstehen. Als erstes ging Gerrit die breite Buchenholztreppe hinunter in Tantes Bücherzimmer. Von der Treppe aus sah er eine der graubraun gescheckten Fasanenhennen in der Hecke verschwinden. Ein mildes Morgenlicht lag auf den Bücherregalen, ließ den Raum tiefer erscheinen, als er war. Die Bücher hocken da wie die Möwen auf dem Dachfirst, sinnierte er, sie warten darauf, von einem Leser aufgescheucht zu werden. Zum Glück blieben sie an diesem Morgen sitzen, ihr Kreischen und Umherflattern hätte ihn irritiert. So, wie sie da ruhig standen oder lagen, berührten sie ihn angenehm. Bücher lieben jeden bedingungslos, der sie berührt, aufschlägt und liest, nahm er an, sie kennen keine Angst, nur Schimmel, Feuer und den Bücherwurm fürchten sie. Wie kleine Kinder erschauern sie vor dem Keller. Wenn sie dort eingesperrt werden, wo die Mäuse und gar Ratten sie benagen, wo die Feuchtigkeit ihnen arg zusetzt, fühlen sie sich dann nicht bestraft? Als Opfer schwärzester Pädagogik? Verbannt in eine Vorhölle?
Gerrit fiel auf, dass seine Gedanken überhaupt nicht zu Tantes Büchern passten, die in diesem trockenen, hellen Raum vor sich hindösten. Ordnen sollte er diese Bücher, nicht sich Fantasien hingeben. Herumgrübeln auf nüchternen Magen, das ist mir noch nie bekommen, sagte er sich, jetzt werde ich den Wasserkocher auf die kleine Gasflamme stellen, Anis und Fenchel im richtigen Verhältnis mischen, den Honig in der angewärmten Milch auflösen, mir ein Spiegelei braten, dieses komische Weichbrot in den museumsreifen Toaster schieben und den Tag ruhig angehen lassen.
Es war ein klarer, sonniger Tag. Ostlicht erhellte die Küche. Den hohen Schrei der Seeschwalben übertönte er mit Radiomusik, Cecilia Bartoli, eine Arie aus „Orpheus und Eurydike“ von Gluck. Als der Geruch von geröstetem Brot die große Wohnküche durchzog, huschte der Schatten eines Vogelschwarms über die weißen Fliesen des Küchenbodens. Er verschwand durch die offene Tür des Bücherzimmers. Was die Vögel wohl von den Regalen und Büchern halten, sinnierte er, ob die Bücher sie einschüchtern, sie erschlagen? Er jedenfalls fühlte sich wohl in diesem Haus.
Das Telefon klingelte. Rebecca, ging ihm durch den Kopf. Er nahm das Gespräch an und wollte ihr erklären, warum sie sich keine Sorgen mehr um Viktoria machen müsse. Doch es war ein Werbeanruf. Er solle die einmalige Chance seines Lebens ergreifen, einer der Hauptgewinne stehe ihm zu, eine vielbändige Enzyklopädie, die er sofort bestellen könne, zum Vorzugspreis. Gerrit, der Enzyklopädien liebte, ertappte sich bei dem Gedanken, auf das Angebot einzugehen, aber als er sich die Pakete mit den vielen Bänden vorstellte, stöhnte er nur „Noch mehr Bücher ...“ und legte auf.
Allzu viel Lust, wieder den ganzen Tag Bücher zu ordnen, verspürte er nicht. Sollte er mit seinem Roman anfangen? Doch der Gedanke, dass er nicht so recht wusste, welche eine Art von Roman Viktoria und ihrem „Vertrauten“ genehm wäre, durchkreuzte seine morgendliche Hochstimmung. Warum konnte ihm Viktoria nicht klipp und klar sagen, was sie erwartete? Wieso dieses Theater mit dem Oberkorrekten? Ein blödes Spiel hat sich Viktoria da ausgedacht, ärgerte er sich, eine intellektuellere Version des alten Kinderspiels „Ich sehe was, was du nicht siehst“? Ihn in ein Spiel zu verwickeln, ihn, der seit Kindertagen Spiele hasste, wie sollte er das verstehen, wenn nicht als eine besondere Bosheit.
Seine Tante wusste ganz genau, wie Gerrit sich damals bei Gesellschaftsspielen im Familienkreis bis zum Jähzorn geärgert hatte. Vor allem das ach so harmlose Spiel „Schwarzer Peter“ hatte er gefürchtet, weil dem Verlierer unter höhnischem Gelächter der Mitspieler mit einem angerußten Korken die Nase geschwärzt wurde. Der Verlierer war allzu oft er gewesen, der sich zeternd und strampelnd gewehrt hatte, ohne Erfolg, da andere Familienmitglieder ihn mit jenem Sadismus, der in jeder Familie lauert, festgehalten hatten, um dem hilflos Zappelnden die Nase ordentlich mit Ruß zu beschmieren. Dazu dann noch die Ermahnung, solche impulsiven Reaktionen würden sich nicht gehören, es sei unmöglich, wie er sich mal wieder aufführe. Dafür hätte er alle, die ihn da mit strengem Blick ansahen, erwürgen oder aufschlitzen können, auch die Tante, aber dergleichen gehörte sich nicht, natürlich nicht, er wollte schließlich ein liebes Kind sein. Das liebe Kind jedoch, das wusste er noch genau, hatte seinen Zorn ins Gehege der Fantasie verbannt, in ein Gehege voller bizarrer Bilder: Rußige heiße Korken, die den anderen in Mund und Nase, in die Ohren, sogar die Augen gedrückt wurden, Eimer voll mit feuchtem Ruß, der mit Schwämmen über den ganzen Körper geschmiert wurde, auch an Stellen, an die man eigentlich gar nicht denken durfte.
Bei diesem Spiel jetzt, überlegte Gerrit, habe ich einen Vorteil, dieses Spiel wird auf dem Feld der Literatur ausgetragen, auf meinem Feld. Deswegen, das schwor er sich, würde er dieses Mal gewinnen. Das Problem war nur, dass er nirgends nachschlagen konnte, welche Regeln dieses Spiel hatte. Die Regeln, darüber machte er sich keine Illusionen, musste er selbst herausfinden. Klar war nur: Wenn er nicht mitspielt, wird er verlieren, das Vermögen der Tante wäre weg. Gerrit, der Verlierer, Gerrit, der Versager. Nein, diesmal wollte er gewinnen, auch wenn es ihn zunehmend wurmte, dass er sich Viktorias Regeln zu unterwerfen hatte. Die Tante austricksen, indem ich mein eigenes Spiel spiele, das wäre es, ging ihm durch den Kopf. Aber er hatte nicht den geringsten Schimmer, wie das gehen sollte.