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Kapitel 12 Einbruch

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People say that life is the thing, but I prefer reading


Logan Pearsall Smith



Am Morgen hatte grauer Küstennebel das kleine Dorf am Meer verhüllt. Die Temperatur war merklich gesunken. Das diffuse Licht kam Gerrit wie ein feuchter heller Schleier vor, der sich nicht nur auf die Umgebung, sondern auch auf seinen Geist gelegt hatte. Er fühlte sich bedrückt. Nachts war ihm zuerst kalt in seinem Bett gewesen, dann aber immer wärmer, ja heiß. Er erinnerte sich schwach, davon geträumt zu haben, die Piratin aus dem Buch habe sich zu ihm ins Bett gelegt. War das der Grund für die nächtlichen Hitzewallungen gewesen?

Warum war Viktoria verschwunden? Wie sollte er das nur herausbekommen? Warum sollte er das überhaupt herausbekommen? Ihre Schenkung war zwar an die drei verflixten Bedingungen geknüpft. Aber ob Viktoria in Grönland, in Namibia oder in Kreuzberg lebte, wieso sollte ihn das interessieren? Eine kurze SMS von ihr und alles wäre klar. Wenn sie sich nicht meldet, dann will sie eben nicht, dass jemand ihren Aufenthaltsort kennt. Des Menschen Wille ist sein Himmelreich, ist das nicht einer ihrer Lieblingssprüche? Aber wenn sie entführt worden ist? Wenn ihr etwas zugestoßen ist, wie Mary vermutet hatte?

Ruhelos ging Gerrit zwischen Küche und Bücherzimmer hin und her. Was sollte er tun? Wieso hatte er sich den Floh ins Ohr setzen lassen, er müsse, ja er könne einen Roman schreiben, natürlich einen bedeutenden Roman, drunter tat er es nicht. Vielleicht sollte er das alles aufgeben, nach Berlin zurückfahren, um seine Studenten zu langweilen. Dann hat Viktoria mich halt überschätzt, dachte er bitter. Er hasste diese Situation, in die sie ihn gebracht hatte. Aber aufgeben, das war leichter gesagt als getan.

Er kam keinen Schritt weiter und merkte, wie er deswegen wütend wurde. Aufgeben? Nein, ich will das herausfinden, sagte er halblaut, ich will die Wahrheit wissen. Das sollte selbstsicher klingen. Die Wahrheit. Die Wahrheit herausfinden – wollen das nicht immer Leute, die entweder völlig naiv oder abgedreht pathetisch sind?

Er spürte so etwas wie Verantwortungsbewusstsein in sich, vielleicht auch einen Rest an Neugier gepaart mit Pflichtbewusstsein, etwas, das man beim besten Willen nicht als Begeisterung bezeichnen konnte. Er ging auf die Terrasse hinter dem Haus. Die feuchtkalte Luft tat ihm gut.

Aufgeben kommt nicht in Frage, sagte er sich und starrte entschlossen in die neblige Ferne, aber mehr als Autosuggestion war das nicht.

Er rief wieder Georg an, der leider nicht zu Hause war. Daraufhin bereitete er sich sein übliches Frühstück. Während er die Butter verstrich, versuchte er sich zu konzentrieren. Wer sollte Viktoria ermordet haben? Derselbe, der versucht hatte, ihn mit dem Trecker von der Straße abzudrängen? Er stellte sein Frühstück auf das Holztablett und trug es zum Küchentisch. Draußen war alles grau, unverändert.


Das Verschwinden von Personen war in seinem Universum bisher nur in Büchern vorgekommen. Viktoria kann nicht wirklich verschwunden sein, versuchte er sich einzureden. Die ganze Sache mit dem Anwalt, den drei Aufgaben und dem Verschwinden, das roch doch förmlich nach einer Inszenierung, das konnte eigentlich nur etwas Flüchtiges sein, das sich bald auflösen würde. Wenn er nur den Schlüssel zu diesem Spiel finden könnte!

Aufgeben, zurück nach Berlin, das schien ihm jedenfalls keine realistische Perspektive zu sein. Was erwartete ihn da? Eine Frau, die ihn schätzte? Eine angenehme partnerschaftliche Vertrautheit in der gemeinsamen Wohnung? Nichts davon! Die Zeit mit Maria war vorbei, die Zeit, als er in seiner Wohnung am Schreibtisch gesessen und den Lärm draußen überhört hatte, ebenfalls. Hier war ringsum dichter Nebel, na und? Zurück ins Großstadtleben? Nein, sagte er sich, ein Mann gibt nicht so schnell auf, er drückt sich nicht vor seiner Aufgabe, das gehört sich einfach nicht.

Er merkte, wie er gegen seinen Willen ins Fahrwasser alter Familientraditionen geriet. In einem Dorf rumzusitzen und so tun, als ob man ein begabter Schriftsteller wäre, das gehört sich allerdings noch viel weniger, überlegte er. Doch letztlich gab das Verschwinden seiner Tante den Ausschlag. Erziehung hin, Familientradition her, sagte er sich, der Sache muss ich nachgehen, Schwanzeinziehen kommt nicht in Frage.


Diesen Entschluss wollte er mit einem zweiten Fencheltee bestärken. Während er an seiner Tasse nippte, fiel ihm auf, dass die Wassertropfen auf dem Rasen und auf den Blütenblättern wie klare Perlen glänzten. Nehmen wir an, Viktoria wäre tatsächlich ermordet worden, erwog er, was könnte das Motiv sein? Geld. Das schien ihm auf der Hand zu liegen. Aber wer weiß von Viktorias Vermögen? Ob sie hier im Dorf davon erzählt hat? Nein, das kam Gerrit unwahrscheinlich vor, das wäre nicht ihre Art gewesen.

Rebecca, fiel ihm ein. Natürlich, Rebecca kannte sich in Tantes Finanzen aus, außerdem hatte sie ein Motiv: Geldgier. Er hatte sich schon immer über ihren Lebensstil gewundert. Ihr Auto war das neuste Modell, teure Kleidung, feine Restaurants. Ob ihr Verdienst bei Viktoria dafür ausreichte? Steckte sie bis zum Hals in Schulden?

Er stellte die Teetasse auf den Tisch. Für Rebecca wäre es doch ein Leichtes gewesen, ihr etwas in den Kaffee zu schütten. Giftmord? Er erinnerte sich an die Marquise de Brinvillier, eine der berühmtesten Giftmörderinnen des siebzehnten Jahrhunderts, eine schöne und gebildete Frau. Gab es da nicht Parallelen zu Rebecca? Wie Rebecca war die Marquise nicht eigentlich schön, sondern eher apart, aufregend apart. Auch die Gräfin Ursinus, für die sich Goethe interessiert hatte, war eine kultivierte, attraktive Giftmörderin, beide hatten diskret mit Arsen gemordet. Hatte Rebecca Gift eingesetzt, um Viktoria verschwinden zu lassen, überlegte er, und dann die Leiche unauffällig entsorgt? Vielleicht sogar in Berlin? Natürlich, denkbar war das: Viktoria war zu einer kurzen Reise nach Berlin aufgebrochen und Rebecca hatte sie dort ermordet.

Giftmörderinnen töten ihre Männer, zu diesem Satz fielen ihm zahlreiche Beispiele aus der Literatur ein. Das Dumme war nur, dass Viktoria kein Mann war. Und Viktoria wegen des Geldes umbringen? Gäbe das Sinn? Nein, denn wie hätte Rebecca an Viktorias Liechtensteiner Konten kommen und dann unentdeckt das Geld beiseiteschaffen können?

Wenn Rebecca schlau wäre, fiel ihm ein, würde sie mich umbringen. Dann hätte Viktoria gar keinen Erben mehr. Sie könnte sich das ganze Geld erschleichen. Rebecca hätte leicht Arsen in den Honig, den Zucker oder in sein Salz mischen können, überlegte er. Sie war es doch gewesen, die für ihn den ersten Einkauf organisiert hatte. Und wenn sie es wirklich getan hat? Eine schleichende Vergiftung, jeden Tag eine kleine Dosis, aufgenommen mit dem im heißen Tee gelösten Honig? Was sind die ersten Anzeichen für eine Arsenvergiftung?

Er schaltete sein Notebook an und las die Seiten von zwei verschiedenen Online-Medizin-Ratgebern. Das Ergebnis war eindeutig: Erst Übelkeit und Durchfall, dann Krämpfe und Koliken. Keines dieser Symptome konnte er bei sich bemerken. Er war erleichtert. Außerdem, so las er, macht Arsen die Haut kalt und feucht. Wie die Haut der Piratin nachts in meinem Bett, dachte er, und schon war es ihm gar nicht mehr so recht klar, wie er auf die Idee mit dem Arsen im Honig gekommen war.

Er beschloss, einkaufen zu fahren. Salz, Butter, Milch, Anis- und Fenchelsamen standen auf seiner Liste, außerdem brauchte er ein Geschenk für Mary und die Kinder. Es drängte ihn, „seinen Kopf auszulüften“. Solange er zwischen den Bücherstapeln saß, wurden seine Gedanken zum Karussell, drehten sich ständig um das Gleiche.


Der Wind hatte von Nord auf Ost gedreht, die Sonne den Nebel verbrannt. Die Küstenlandschaft mit ihren Wiesen und Feldern, Hecken und Baumgruppen war wieder klar geworden. Gerrit fuhr ohne jede Hast über die Landstraße. Gerne hätte er sich den wuchernden Farn, die dicken Eichen und einen bräunlichen Hügel am Wegesrand genauer angesehen, aber er war auf der Hut. Der Schock mit dem Beinahe-Unfall saß ihm noch in den Knochen. Wie kommt es nur, überlegte er, dass wir denken, in einer idyllischen Landschaft wäre auch das Zusammenleben der Menschen idyllisch? Er nahm sich vor, auf diesen Kurzschluss nicht länger hereinzufallen.


Im Supermarkt des nahen Markstädtchens schienen sich alle Rentner der Gegend verabredet zu haben. Bedächtig schoben sie ihre Einkaufswagen durch die engen Gänge. Sie blockierten die Durchgänge, wenn sie Bekannte sahen, blieben stehen, um sich über ihre Krankheiten, die Preise und die Nachbarn auszutauschen. Fast wäre er einer schleichenden alten Dame am Süßigkeitenregal in die Hacken gefahren, nicht ganz ohne Absicht, wie er zugeben musste, aber so ganz konnte er doch nicht über den Schatten seiner Erziehung springen. Statt seiner Aggression freien Lauf zu lassen, half er ihr, eine Pralinenschachtel aus dem oberen Regalbrett zu holen. Dass dies ein Fehler war, erkannte er zu spät. Die alte Dame, die mit ihrer hellbeigen Bluse und ihrem braunen Sommerrock, der goldgeränderten Brille und den gleichmäßig hellgrau gefärbten Haaren genauso aussah wie die meisten Kundinnen in diesem Laden, wollte mehrere Pralinenschachteln vergleichen und sich dazu noch mit ihm, dem freundlichen jungen Mann, wie sie ihn charmant bezeichnete, unterhalten. Er nahm resigniert die Gelegenheit wahr, sich zu erkundigen, welche Süßigkeiten er Marys Kindern mitbringen könnte, worauf er sich die Geschichten ihrer Enkel anhören musste, die Weingummis liebten. Eine nette ältere Dame, eine liebe Oma. Das Einkaufen ging hier offenbar nicht so schnell und cool vonstatten wie in einem Berliner Supermarkt. Daran würde er sich wohl gewöhnen müssen.


Als er den Volvo vor Viktorias Haus abstellte, sah er sofort, dass die Eingangstür weit offen stand. Er lief ins Haus und sah sofort: Es war eingebrochen worden. Die Schreibtischschubladen und einige Küchenschränke standen offen. Er blickte sich rasch um, konnte aber nicht herausfinden, ob etwas fehlte. Sein Notebook stand noch an seinem Platz, Geschirr und Küchengerät klaut sowieso niemand, alle Bilder, auch die Originale, hingen an der Wand. Nach einigem Suchen bemerkte er, dass die Flasche Champagner, die seitlich neben dem Küchenschrank auf dem Boden gestanden hatte, verschwunden war. Sonst war scheinbar nichts gestohlen worden, auch die Bücherstapel sahen unberührt aus, zumindest auf den ersten Blick.

Die waren wohl nur auf Bargeld aus, dachte er und ging zu Mary hinüber, die aber nicht zu Hause war. Dann rief er die Polizei an.

Ja, wir kommen sofort vorbei, hatte es geheißen, aber dann dauerte es doch eine ganze Weile, bis ein älterer Polizist mit seinem jüngeren Kollegen erschien, der sogleich feststellte, dass das Schloss des Hintereingangs aufgebohrt worden war. Beide schüttelten beim Tee immer wieder ihren Kopf. Sie betonten ständig: „Hier ist in den letzten Jahren nie eingebrochen worden. Jeder bekommt alles mit, wirklich alles.“

Die Polizisten waren ebenso ratlos wie Gerrit. Sie befragten einige Nachbarn, die von einem Einbruch weder etwas hören wollten, noch etwas gehört oder gesehen hatten. In dieser Idylle, so war man sich einig, gab es keine Einbrüche, weil es keine geben durfte. Wäre das aufgebohrte Schloss nicht gewesen, hätten die Polizisten Gerrit beruhigend auf die Schulter geklopft und gesagt: „Keine Sorge, das passiert jedem, dass er wegfährt und vergisst die Tür zu schließen.“ So lag der Fall etwas schwieriger, das mussten sie zugeben, aber das hinderte sie nicht daran, ihm in epischer Breite zu erzählen, wie ein Ehepaar aus dem Dorf, David und Lucy, ihr Haus für Tage mit weit geöffneter Tür zurückgelassen hatte, bis der Postbote die Tür geschlossen habe, was er den beiden ganz nebenbei mitgeteilt habe, als sie aus ihrem Urlaub zurückgekehrt waren. Das aufgebohrte Schloss, meinte der jüngere Polizist bewundernd, sei die Arbeit eines Profis. „Es gibt auch keine Spuren. Die Flasche Champagner können sie wohl verschmerzen, ihr Notebook ist zum Glück noch da“, fügte er zufrieden hinzu und verabschiedete sich immer noch kopfschüttelnd mit seinem Kollegen.


Gerrit fragte sich, aufgrund von welchen Untersuchungen die beiden Polizisten sich so sicher sein konnten, dass der Einbrecher keine Spuren hinterlassen hatte. In den Krimis kommt immer eine ganze Untersuchungskommission, erinnerte er sich, die das ganze Haus minutiös auf den Kopf stellt. Immerhin fehlte eine Flasche Champagner, das war Diebstahl, nein, sogar Einbruch. Und dann diese dumme Redensart, er könne den Verlust wohl verschmerzen. Natürlich kann ich die Flasche verschmerzen, entrüstete er sich, aber ich will das nicht verschmerzen, ich will, dass die Polizei tätig wird, wenn bei mir eingebrochen wird.

Na gut, versuchte er seinen Ärger über die allzu betulichen Dorfpolizisten zu vertreiben, im Grunde haben sie ja recht, es fehlt nichts Wichtiges und das Notebook steht auch noch da. Er ging hinüber, um das Gerät auszuschalten, da bemerkte er, dass die Datei mit seinen Notizen über Viktoria und den Roman nicht abgespeichert war. Dass er das Haus verlassen haben sollte, ohne eine gerade bearbeitete Datei abzuspeichern, das erschien ihm äußerst unwahrscheinlich. Abspeichern war ihm seit Jahren zu einer Art Ritual geworden.

Ein Einbruch, jemand fummelt an meinem Computer herum. Eine schöne Idylle ist das hier, dachte er grimmig. Dazu die Sache mit dem grünen Trecker auf der Küstenstraße. Er fühlte sich unsicher und beobachtet. War man hinter ihm her? Genauso, wie man hinter Viktoria her gewesen war? Aber wer? Und warum?

Als die Polizisten am Küchentisch saßen, hatte er noch einen anderen Gedanken gehabt. Sollte man in Viktorias Fall nicht inzwischen die Polizei einschalten? Er war zwar immer noch der Meinung, seine Tante spiele eines ihrer Spiele. Aber sicher war er sich keineswegs mehr. Es musste ja nicht direkt jemand es auf sie abgesehen haben. Vielleicht hatte sie eine ganz normale Reise vorgehabt, wollte sich nach ein paar Tagen melden, doch dann war ihr etwas zugestoßen, ein Verkehrsunfall, ein plötzlicher Schwächeanfall, Herzinfarkt oder dergleichen. Andererseits, überlegte er, würden in solch einem Falle doch sofort die Angehörigen benachrichtigt. Aber welche Angehörigen? Kinder hatte sie nicht, Geschwister und Eltern waren lange tot. Der nächste Angehörige war er, Gerrit. Hatte Viktoria einen Zettel mit Gerrits Adresse in der Handtasche? Er wusste es nicht. Und wenn nicht, könnte ein Krankenhaus oder irgendeine Behörde seine Adresse ausfindig machen. Seine Adresse, ging ihm durch den Kopf. Am Ende steckte ein Brief mit der entscheidenden Nachricht in seiner Berliner Wohnung im Briefkasten! Er musste unbedingt Maria anrufen und nachfragen, außerdem einen Nachsendeantrag stellen. Dass er das vergessen hatte!

Maria anrufen. Das ging ihm völlig gegen den Strich. Das mit dem Nachsendeantrag, das könnte doch auch Georg machen, überlegte er. Und eine Vermisstenanzeige? Vielleicht hatte ja Rebecca schon an so etwas gedacht. Spontan rief er sie an. Er fragte sie nicht gerade charmant, ob sie inzwischen wüsste, wo seine Tante sei.

„Ich denke ständig daran“, antwortete Rebecca, „aber zu einem Ergebnis bin ich leider noch nicht gekommen. Vorgestern war ich bei der Polizei, um Viktoria als vermisst zu melden.“

„Gute Idee“, brummte Gerrit, der sich ärgerte, dass Rebecca vor ihm auf diesen Gedanken gekommen war.

„Aber stell dir vor, die wollten meine Vermisstenanzeige zuerst überhaupt nicht aufnehmen. Ein erwachsener Mensch könne schließlich selbst bestimmen, wo er sich aufhalten wolle und ob er seiner Familie etwas mitteilen wolle.“

„Stimmt“, meinte Gerrit, „sie könnte ja auch bei Freunden sein. Sie hat doch was von einem Freund erwähnt, einem Grönländer.“

„Aber Gerrit! Hast du denn nicht mitbekommen, dass sie in den letzten Jahren fast gar nicht mehr gereist ist? Sie hat nie jemanden besucht und ihr letzter Freund, der lebt meines Wissens in Nordost-Grönland, am Ende der Welt. Er besitzt wohl ein Satellitentelefon, aber ich kenne weder seine Telefonnummer noch seinen Namen. Und ob es da überhaupt Adressen wie bei uns gibt, bezweifele ich. Ich habe hier nichts über ihn gefunden.“

„Wann hat sie dich denn zum letzten Mal im Büro angerufen?“

„Wenn nichts Besonderes anlag, hat sie mich normalerweise jeden Mittwoch angerufen, immer irgendwann am Vormittag. Bei ihrem letzten Anruf hat sie davon gesprochen, es käme bald eine wichtige Nachricht von ihrem englischen Anwalt. Sie war so wie immer, da war nichts Besonderes.“

Aus der ist nichts heraus zu bekommen, konstatierte Gerrit. Rebecca war entweder unschuldig oder eine perfekte Schauspielerin, die ihre Stimme genau im Griff hatte.

Er rief Georg an und bat ihn, sich um den Nachsendeantrag zu kümmern. Nach kurzem Zögern berichtete er seinem Freund auch sachlich von dem Trecker, dem Einbruch und von der Schlauchboot-Fahrt durch das Eismeer. Er fragte ihn gerade heraus, ob er sich nun bedroht fühlen müsse oder nicht.

„Sag mal ehrlich, bist du nicht etwas überspannt? Ich meine, von Berlin in so ein kleines Dorf umzuziehen, sich von seiner Frau zu trennen und dann noch seine Tante suchen zu müssen, das geht wahrscheinlich an niemand spurlos vorbei. Das siehst du doch ein, oder?“

Ohne Gerrit die Gelegenheit zu einer Antwort zu geben, fuhr er fort: „In einem guten Krimi hat alles seine Ordnung, seinen Sinn, aber im Leben ist das höchst fraglich. Warum soll zwischen dem Schlauchboot, dem Trecker und dem Einbruch ein Zusammenhang bestehen? Wäre dies ein Krimi, würde ich meinen, wenn du zu wissen glaubst, wer hinter all dem steht, irrst du sicher – oder der Krimi ist stümperhaft konstruiert. Aber ich würde auch denken, dass der Autor diese drei Ereignisse in einen Sinnzusammenhang stellt, um den Leser aus Gründen des Spannungsaufbaus zu täuschen. Aber hier gibt es keinen Autor, das ist der springende Punkt, das ist das Leben, hier gibt es Zufälle. Bei der Sache mit dem Schlauchboot warst vielleicht gar nicht du persönlich gemeint, sondern nur du stellvertretend für die verhassten Ökos. Wusste der Fahrer des Treckers, dass du und nicht Viktoria in dem silbergrauen Volvo sitzt? Auch der Einbruch zielte nicht eindeutig auf dich. Wie willst du denn ausschließen, dass es da jemand gar nicht auf dich, sondern auf deine Tante abgesehen hatte? Normalerweise hält sich doch deine Tante dort auf, oder?“

Gerrit schluckte. „Aber Georg“, sagte er, „wenn die es in Wirklichkeit auf Viktoria abgesehen haben, dann bin ich doch genauso bedroht!“

„Wer alle Ereignisse auf sich bezieht, nimmt sich selbst zu wichtig, der ist paranoid“, meinte Georg trocken.

Gerrit fand das gar nicht witzig. Er gab dem Gespräch eine andere Richtung: „Und wenn ich das hier alles aufgeben und wie nach einem Urlaub nach Berlin zurückkommen würde?“

„Spinnst du! Was willst du denn in Berlin? Sag mal, geht es dir nicht gut? Soll ich dir das Szenario ausmalen? Willst du wirklich die Wahrheit wissen? Hier am Institut will man dich doch sowieso am liebsten wegrationalisieren oder durch einen strebsamen beschränkten Junior ersetzen.“

„Da sagst du mir nichts Neues“, meinte Gerrit, „ganz blind und taub laufe ich ja auch nicht durch die Gegend.“

„Du wirst deiner Aufgabe nachweinen, passiv herumsitzen, beginnst zu saufen und mit schlechtem Gewissen deinen Studentinnen nachzustellen. – So ein blödes Gejammere, ich dachte, die Midlife-Crisis hättest du längst hinter dir! Geh ans Meer, lass dich von der Brise durchpusten und vergiss nicht deine gute Erziehung. So falsch war die doch auch wieder nicht, oder? In deinem Alter, lass dir das gesagt sein, fällt man nicht mehr in Pubertätsgehabe zurück – ehrlich!“

„Pubertät, so ein Quatsch. Ich bin nicht in der Pubertät, ich komme einfach nicht weiter, ich … „

„Jetzt jammerst du schon wieder herum“, unterbrach ihn Georg, „dein Gejammere, entschuldige, wenn ich das so deutlich sage, ist der verzerrte Ersatz für wahre Gefühle. Zwischen dir und deinen Gefühlen hast du eine Betonwand errichtet. Na, bei deinem Elternhaus wundert mich das nicht. Diese Viktoria, mit der du dich mehr oder weniger zwangsweise beschäftigst, die ist doch auch solch eine Person, für die Gefühl ein Fremdwort ist. Ich hab es dir schon eben gesagt: Geh ans Meer, betrachte die Wellen, rieche die Seeluft und hör endlich mit deinem Jammern auf. Statt zu lamentieren solltest du heulen, wenn dir danach ist, oder deine Wut aufs Meer hinausschreien.“

„Du magst recht haben“, sagte Gerrit kleinlaut, um das Gespräch zu beenden, aber er hatte am Ende gar nicht mehr richtig zugehört. Eine Betonmauer! Na so was! Wenn ich ihm erzähle, was mich bewegt, schimpfte er, dann nennt Georg mich überspannt, wenn ich ihm meine Zweifel schildere, rät er mir, ich solle am Strand spazieren gehen und alles vergessen – nichts als blöde Standard-Tipps aus Psycho-Ratgebern. Gerrit blickte zum Fenster hinaus. Er sah, wie der Wind die Zweige bewegte, tiefe Wolken zogen vorbei. Was würde passieren, wenn er jetzt da draußen rumlaufen würde? Würde er voll innerer Ruhe den Flug der Seeschwalben studieren oder sich selbstverloren den Geräuschen der Brandung hingeben? Hirngespinste, typischer Hobby-Psychologen-Quark! Tatsächlich würde er am Meer entlangstapfen und sich die ganze Zeit den Kopf über Viktorias Verschwinden, über das Romanschreiben, über Rebecca, Mary und Maria zerbrechen, was denn sonst? Einfach abschalten – als ob das so einfach wäre, wie dieser Kerl in Berlin sich das vorstellt! Was würde der mit seinem angelesenen psychologischen Halbwissen erst sagen, ereiferte er sich, wenn ich ihm erzähle, dass mir Figuren aus Romanen erscheinen und mit mir sprechen, dass sich eine Buch-Piratin nachts in mein Bett legt?


Um sich zu beruhigen, arbeitete sich Gerrit weiter durch die Büchermassen. Die Regale wurden immer leerer, die Zahl der Stapel am Boden nahm zu. Wenn er so weiter machen würde, war absehbar, dass irgendwann der ganze Raum voller Bücherstapel war. Wie sollte er sich dann noch bewegen? Wie den Überblick behalten? Mir wird schon was einfallen, dachte er und nahm sich das nächste Regalbrett vor. Mitten unter verschiedenen geologischen Fachbüchern stand „Der Fänger im Roggen“ von J.D. Salinger. Komisch, dachte Gerrit, „Der Fänger im Roggen“, liegen davon nicht schon zwei Exemplare auf dem Stapel mit dem Buchstaben „S“? Er durchsuchte den Stapel und tatsächlich, Viktoria schien ein Faible für diesen Roman gehabt zu haben, es handelte sich tatsächlich um das dritte Exemplar, verschiedene Ausgaben, aber keines davon ein Taschenbuch, sondern alle gebunden mit Schutzumschlag.

Die Bibel der amerikanischen Jugendlichen der fünfziger Jahre, das ist doch nicht etwa Tantes Lieblingsbuch, wunderte er sich.

Ihm war „Der Fänger im Roggen“ seit seiner Schulzeit verleidet. Sein alter, ziemlich dürrer Englischlehrer hatte den Schülern einen Gefallen tun wollen und dieses Buch zur Klassenlektüre bestimmt, aber sie hatten es nicht lesen wollen, sie hatten überhaupt nichts auf Englisch lesen wollen. Deshalb erinnerte sich Gerrit so gut wie gar nicht mehr an den Inhalt dieses Klassikers, umso mehr aber daran, dass immer feine Tröpfchen durch die Luft flogen, wenn der Lehrer Englisch sprach, was am fehlenden Sitz seines Gebisses lag. Am besten hatte er die Szene im Kopf, als der alte Studienrat ein zerknittertes weißes Taschentuch aus der Hosentasche geholt und sein Gebiss darauf gelegt hatte.

Draußen stürmte es. Ab und zu fiel ein Sonnenstrahl auf die vielen Staubpartikelchen, die er bei seiner Arbeit aufgewirbelt hatte. Erotische Romane für Frauen, mehrere Exemplare eines Kultbuches für pubertierender Jugendliche, was würde er noch zwischen diesen Büchern finden, dachte er halb belustigt, halb neugierig. Vielleicht etwas Geheimnisvolles, meinetwegen eine Schatzkarte oder alte Liebesbriefe – irgendetwas würde sich schon finden lassen.

Als er auf die Toilette ging, kam ihm plötzlich in den Kopf, „Der Fänger im Roggen“ habe etwas mit Mord zu tun. Da war etwas, überlegte er, darüber hatte er einen Aufsatz gelesen, aber er konnte es nicht fassen, es verschwand wie die Erinnerung an einem Traum. Da gab es einen Zusammenhang. Kurz darauf tauchte ein Bruchstück aus seiner Erinnerung auf: Natürlich, das war es, dieser Typ, der John Lennon erschossen hatte, der hatte „Der Fänger im Roggen“ bei sich. Aber da war noch mehr gewesen, da war er sich sicher. Er schaltete sein Notebook ein und forschte nach. Lange brauchte er nicht zu suchen: Nicht nur Lee Harvey Oswald, der Mörder von J.F. Kennedy war fasziniert von diesem Buch, auch Theodore Kaczynski, der Una-Bomber, der tödliche Briefbomben hauptsächlich an Professoren verschickt hatte, hatte ein Exemplar in seiner Hütte. Und im Regal von jenem John Hinckley, der das Attentat auf Ronald Reagan verübte hatte, hatte nur ein Buch gestanden: „Der Fänger im Roggen“.



Tantes Tod

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