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Kapitel 10 Mary

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Book lovers never go to bed alone


Autoaufkleber



Dass der kleine Schreibtisch im Bücherzimmer eine Schublade hatte, war Gerrit noch gar nicht aufgefallen. Was mag da drin sein, überlegte er und öffnete mit Mühe Schublade, die etwas klemmte, da sie sich offenbar verzogen hatte. Ein Block mit Schreibpapier, sonst nichts. Alle Blätter waren leer. Ist ja auch nicht so wichtig, überlegte Gerrit. Warum sollte er den Detektiv spielen? Sollte seine Tante sich doch melden, wenn sie Kontakt zu ihm aufnehmen wollte, schließlich war sie verreist, ohne jemand Bescheid zu sagen, nicht er. In dem Moment wurde die Schiffsglocke geläutet. Ihr Klang hatte etwas vorsichtig Zurückhaltendes, als ob der Läutende einen lauten, die Stille störenden Ton verhindern wollte, als ob er davor zurückschreckte, sich bemerkbar zu machen, in etwas einzudringen, das seine Welt nicht ist. So könnte Alice aus dem Wunderland läuten, meinte Gerrit. Er lauschte noch etwas dem verhallenden Ton nach, bevor er öffnete.

An der Tür stand kein Mädchen, sondern eine Frau, von der Gerrit zuerst nur blondes Haar sah, viel blondes Haar. Haare wie ein Weizenfeld in der Sonne, ging Gerrit durch den Kopf, doch bevor er über seinen Vergleich noch weiter nachdenken konnte, sah er die erschrockenen Augen der Frau. Sie war doch nicht zurückgeschreckt, weil er die Tür ungewöhnlich weit geöffnet hatte?

Sie war mittelgroß, etwas rundlich, trug eine leichte weiße Bluse und einen blauen Rock. Ihr „Guten Morgen“ klang verlegen.

„Entschuldige die Störung. Ich bin Mary, deine Nachbarin.“ Sie wies mit ihrem Kopf auf das Cottage nebenan, an dem hellrosa und rote Rosen durcheinander wucherten.

„Komm rein, hast du Lust auf eine Tasse Tee? Ich bin Gerrit.“

„Ich habe schon von dir gehört.“

Gerrit fiel nicht ein, was er antworten sollte. Am liebsten hätte er gerade heraus gefragt, ob Mary etwas über Viktorias geheimnisvolle Reise wüsste. Aber einfach so fragen? Je angestrengter er darüber nachdachte, desto leerer schien ihm sein Kopf zu werden. Erst als er den Wasserkocher füllte, brachte er wenigstens eine praktische Frage heraus: „Möchtest du lieber schwarzen Tee oder einen Kräutertee?“

„Einen Kräutertee fände ich schön. Aber mach dir keine Umstände. Ich wollte nur eben kurz vorbeischauen.“

Kräutertee, gut, aber meine Fencheltee-Mischung kann ich ihr nicht anbieten, überlegte er, am Ende fragt sie mich, wie ich auf diese Mischung komme, und ich muss ihr etwas von meinen Verdauungsproblemen erzählen. Er wusste nur zu gut, wie manche Menschen darauf reagieren, wenn jemand statt des allgegenwärtigen Kaffees Kräutertee trinkt, erst recht Fencheltee. Gerrit trinkt wieder seinen Bübchen-Tee, hatten seine Kollegen ihn verspottet. Nein, das Risiko war ihm zu hoch.

Er ging zu dem Kräuterbeet im Garten. Als einer, der Kräutertees eher mit Krankheit und Medizin verband, fragte er sich, welche Kräuter wohl für einen angenehmen Vormittagstee geeignet sein könnten. Da er sich keine Blöße geben wollte, schnitt er einige Blätter von der pelzigen Orangenminze und ein wenig Zitronenmelisse ab, eine Mischung, von der er vermutete, sie könnte gut schmecken.

Immerhin konnte er so Mary eine Weile entkommen. Er freute sich zwar, dass sie offenkundig gut gelaunt an seinem Küchentisch saß, hatte aber zugleich Angst, nicht die rechten Worte zu finden. Bestimmt liegt das daran, dass ich alle möglichen Sätze bereits aus der Literatur kenne und jetzt in Gefahr laufe, irgendein Klischee nachzuplappern, ging ihm durch den Kopf. Nein, er wollte nicht ein paar unverbindliche Worte daherplappern, dafür schien ihm dieses Zusammentreffen zu außergewöhnlich zu sein, zu gefühlsbeladen. Komisch, dachte er, wie hinterhältig diese Gefühle sein können, plötzlich ist da etwas, eine rasend schnell wuchernde exotische Schlingpflanze, die mir die Sprache raubt.

„Wirst du hier länger hier wohnen?“ begann Mary das Gespräch.

„Ja, ich denke schon.“

„Dann werden wir uns häufiger sehen, im Garten, am Meer.“ Nach einer Pause fuhr sie fort: „Was wirst du hier machen, Sommerurlaub?“

Gerrit schaute betreten in seine Tasse. Einen Roman will ich schreiben, ging ihm durch den Kopf, aber klingt das nicht zu angeberisch, zu aufgeblasen? Er entschied sich für ein Unverfängliches „Ich soll Viktorias Bücher neu ordnen.“

„Da hast du ja zu tun, Bücher hat Viktoria genug und so besonders ordentlich sieht es in ihrem Bücherzimmer nicht aus.“

Gerrit schwieg, Mary schien das nicht zu stören.

„Viktoria ist also deine Tante. Viktoria und ich, wir trinken manchmal ein Glas Tee zusammen, bisweilen schaut sie mir beim Töpfern zu. Wir reden nicht viel miteinander, mit ihr ist das sehr angenehm. Manchmal erzählt sie mir von der Arktis, ihrer Zeit in Grönland, ihrem Eskimo-Freund, den ich mir immer wie das Iglo-Männchen vorstelle. Ich glaube, sie hat Heimweh nach Grönland, nach der langlebigen arktischen Sonne. Da würde ich übrigens auch gern mal hinfahren, ist aber viel zu teuer für mich. Schade.“

„Du kennst meine Tante ja besser als ich!“

„Warst du denn nicht mit ihr in Grönland?“

„Das war nur so eine gemeinsame Reise, keine vier Wochen lang.“

„Wo, wenn ich fragen darf, ist Viktoria eigentlich? Meistens hat sie mir oder einem der Nachbarn Bescheid gesagt, wenn sie für ein paar Tage weg gefahren ist, aber dieses Mal weiß niemand, wo sie ist. Hat sie länger in ihrem Büro in Berlin zu tun?“

„Nein, in Berlin ist sie nicht. Ich weiß nicht, wo sie steckt, sie ist einfach verschwunden. Ich habe keine Ahnung, warum sie sich nicht meldet. Keiner hat etwas von ihr gehört, ich habe keinerlei Anhaltspunkt. Vielleicht finde ich in ihrem Haus irgendeinen Hinweis.“

Ein Schwarm arktischer Graugänse flog mit seinem durchdringenden Schrei den Salzmarschen zu. Sie schwiegen eine Weile, bis Mary fortfuhr: „Ich habe das Gefühl, deine Tante sehnt sich nach Grönland zurück, nach dem einfachen, anderen Leben. Vielleicht ist sie bei ihren Freunden dort, oder?“

„Ich weiß es wirklich nicht, keine Ahnung.“

Gerrit bot eine weitere Tasse Tee an.

„Ja, bitte, der ist lecker. Dass deine Tante nicht in Berlin ist und sich auch bei dir nicht gemeldet hat, finde ich merkwürdig. Ist gar nicht ihre Art. Machst du dir keine Sorgen?“

Gerrit erklärte ihr, wieso er sich so sicher war, dass seine Tante ihre Reise genau geplant hatte, erwähnte auch den Anwalt, der ja offenbar Bescheid wusste.

„Es wundert mich, dass du so ruhig bist“, sagte Mary, „seitdem ich weiß, dass sie nicht in Berlin ist, habe ich kein gutes Gefühl bei der Sache. Meine Intuition sagt mir, da stimmt was nicht.“

Gerrit nahm einen Schluck Tee, um Zeit zu gewinnen und ruhig zu bleiben. Intuition, Intuition! Mary war also auch eine dieser Frauen, die zu faul zum Denken waren und sich stattdessen auf ihre geheime Erkenntnisquelle beriefen, die weibliche Intuition. Er blieb auf der sachlichen Ebene:

„Sie hat alles genau festgelegt. Zwei Jahre darf ich in ihrem Haus wohnen, muss die Bibliothek ordnen und einen umfangreichen Text für sie schreiben, und wenn der Text einem von Viktoria eingesetzten Beauftragten gefällt, dann schenkt sie mir ihr Haus.“

Das mit der Heirat und dem Vermögen hatte er vorsichtshalber weggelassen. Mary schaute ihn mit einem seltsamen Gesichtsausdruck an. Hatte er irgendetwas Falsches gesagt? War er in ein Fettnäpfchen getreten?

„Gerrit!“, rief sie aufgeregt, „wenn das stimmt, was du mir da erzählst, dann hat mich meine Intuition nicht getrogen, dann muss ihr etwas zugestoßen sein!“

„Wieso?“

„Weil sie ihr Haus geliebt hat, den Garten, dieses Dorf. Immer wieder hat sie das gesagt, versichert, wie froh sei sie, diesen wunderschönen Platz gefunden zu haben. Und das war nicht nur Höflichkeit, das kann ich dir versichern, so was spürt man als Frau. Das war ihre feste Überzeugung. Und jetzt soll sie das freiwillig aufgegeben haben? Nicht nur für zwei Jahre, sondern für immer? Freiwillig? Niemals, das kann nicht sein, das stimmt etwas nicht, das lasse ich mir nicht ausreden.“

„Aber was soll denn passiert sein“, versuchte Gerrit zu beschwichtigen.

„Das kann ich dir nicht sagen. Irgendetwas stimmt da nicht. Vielleicht komm ich noch drauf, lass uns nicht mehr darüber reden.“

Bald hatte Mary sich wieder gefangen. Sie plauderten noch ein wenig über den Garten und über Marys Töpferei. Gerrit erzählte von seiner Arbeit als Literaturprofessor und von seiner Vorliebe für Seefahrer und Piraten.

Mary sagte: „Ich lese nicht so viel. Beim Lesen schlafe ich immer ein, meist nach der fünften Seite. Ich schau mir manchmal abends Kunstbücher an. – Deine Tante hat mir letztes Jahr ein Buch über englische Piratinnen geliehen, ich habe gar nicht gewusst, dass Frauen bei der Piraterie auch eine Rolle gespielt haben. Aber dann bin ich doch wieder nicht weiter gekommen als bis zur Seite neunundzwanzig. Viktoria hat solche Sachen wohl spannend gefunden, sie hat mir mit Begeisterung von einer Piratin erzählt, die noch mit achtundsiebzig Jahren ein schönes Segelschiff gekapert hat.“

„Ach, das war Lady Kiligrew aus Falmouth.“ Gerrit war froh, etwas aus seinem Fachgebiet erzählen zu können. „Sie hat 1583 ein Schiff der Hanse gesehen, dass sie so toll fand, dass sie es für sich kapern ließ. Diese Piraten-Lady bekam einen Prozess deswegen, aus dem sie allerdings wegen ihres Alters ungeschoren herauskam.“

Gerrit schenkte Marys Tasse voll. Sie hob die Tasse an die Nase und zog den Duft der Kräuter in sich ein. Dann schaute sie auf ihre riesige Armbanduhr, eine Kinderarmbanduhr, deren Zeiger Händen nachgebildet waren: „Ich muss jetzt gehen. Warum kommst du nicht übermorgen gegen sieben Uhr zum Abendessen? Da kannst du Anne und Tony kennen lernen, meine beiden Kinder. Vielleicht ist mir bis dahin auch was zu dem Geheimnis um deine Tante eingefallen.“

Sie stand auf.

„Danke für deinen Besuch“, sagte Gerrit, „ich freue mich auf dich deine Geheimnisse.“

Gerrit spürte seine Ohren. „Deine Geheimnisse“, was war ihm da nur rausgerutscht? Eigentlich hatte er sich geärgert, weil Mary aus der Abwesenheit von Viktoria direkt ein Geheimnis machte, so etwas wie einen Kitschroman: Viktorias Geheimnis. Aber als sie dann in der Tür stand mit ihrer Haarpracht und ihn freundlich, liebreizend ansah, da hatte irgendetwas seine Formulierungskünste durchkreuzt.

Mary reagierte ganz cool, als ob er etwas Nettes, keineswegs Unschickliches gesagt hätte. Sie schaute ihm – ein bisschen zu lange? – in die Augen, küsste ihn dann auf die linke Wange.

„Danke für den Tee. Bis übermorgen. Ich freue mich.“ Damit verschwand sie zur Tür hinaus. Wie ein blauer Schmetterling, dachte Gerrit, flattert ihr Rock um ihre gebräunten Beine, wie der Odysseusfalter, der blauste aller Schmetterlinge. Der Odysseus, ging ihm durch den Kopf, der hat es schlau angestellt, alle seine Männer sind von der Zauberin Circe in Schweine verwandelt worden, nur er hat sich mit einem Kraut gegen ihre Verführungskünste gewappnet. Gerrit wollte sich nicht so einfach einfangen lassen, nicht von einer Frau, die Bücher als Schlafmittel benutzte.



Tantes Tod

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